eJournals unsere jugend 65/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2013
651

Verselbstständigung in der Heimerziehung: oft angestrebt - selten erreicht?

11
2013
Michael Macsenaere
Jens Arnold
Im Rahmen einer Analyse von empirischen Daten zur Verselbstständigung Jugendlicher wird deutlich, dass es sich hier zwar um ein sehr häufiges Betreuungsziel der Heimerziehung handelt, dessen Umsetzung die Praxis aber vor große Herausforderungen stellt. Als Anknüpfungspunkte für eine optimierte Hilfeplanung werden potenzielle Wirkfaktoren einer gelingenden Verselbstständigung herausgearbeitet.
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12 unsere jugend, 65. Jg., S. 12 - 19 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art02d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Verselbstständigung in der Heimerziehung: oft angestrebt - selten erreicht? Im Rahmen einer Analyse von empirischen Daten zur Verselbstständigung Jugendlicher wird deutlich, dass es sich hier zwar um ein sehr häufiges Betreuungsziel der Heimerziehung handelt, dessen Umsetzung die Praxis aber vor große Herausforderungen stellt. Als Anknüpfungspunkte für eine optimierte Hilfeplanung werden potenzielle Wirkfaktoren einer gelingenden Verselbstständigung herausgearbeitet. von Prof. Dr. Michael Macsenaere Jg. 1959; Geschäftsführender Direktor der IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH Im Folgenden soll die Verselbstständigung junger Menschen im Kontext von Heimerziehung sowie sonstigen Betreuten Wohnformen anhand empirischer Daten näher beleuchtet werden. Dabei wird auf vier zentrale Fragestellungen Bezug genommen: ➤ Wie oft wird Verselbstständigung als übergeordnetes Ziel einer Heimerziehung gewählt? ➤ In welchem Ausmaß wird Verselbstständigung während Heimerziehung erreicht? ➤ Was charakterisiert die Hilfen, deren übergeordnetes Ziel die Verselbstständigung junger Menschen ist? ➤ Welche Faktoren begünstigen die Verselbstständigung während Heimerziehung? Um diesen Fragen nachzugehen, wurde der Datensatz der Evaluation erzieherischer Hilfen (EVAS, vgl. Macsenaere/ Knab 2004; Macsenaere/ Schemenau 2008) herangezogen und einer explorativ ausgerichteten Sonderauswertung unterzogen. Im Rahmen des seit 1999 bundesweit und trägerübergreifend - sowie zwischenzeitlich auch auf europäischer Ebene - eingesetzten EVAS-Verfahrens kann aktuell auf Daten von etwas mehr als 35.000 teils noch laufenden Hilfen zurückgegriffen werden. Diese werden von den Fachkräften in den ca. 200 teilnehmenden Einrichtungen und Diensten pros- Jens Arnold Jg. 1976; Diplom- Psychologe, Fachsektion Forschungsmethoden und Evaluation, IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH 13 uj 1 | 2013 Verselbstständigung pektiv, d. h. hilfebegleitend, bei Beginn, im Verlauf und bei Beendigung dokumentiert. Obwohl in EVAS spezifische Module für ein breites Spektrum an Hilfen für junge Menschen bereitgestellt werden, die insbesondere die erzieherischen Hilfen nach § 27ff SGB VIII abdecken, handelt es sich bei etwa 60 % der Hilfen um „Heimerziehungen und sonstige Betreute Wohnformen“ nach § 34 SGB VIII (vgl. Herrmann u. a. 2012). Von diesen 22.000 Maßnahmen sind ca. 14.500 bereits abgeschlossen und können für die Untersuchung von bilanzierenden Fragestellungen, beispielsweise zu erreichten Zielen oder sonstigen Hilfeergebnissen, herangezogen werden. An dieser Stelle sei zum besseren Verständnis der Daten darauf hingewiesen, dass die EVAS-Dokumentation zwar grundsätzlich nicht auf die „klassische“ Form der Fremdunterbringung im Heim beschränkt ist, vollstationäre Betreuung in 7-Tage-Gruppen mit einem Anteil von etwas mehr als 90 % aber trotzdem im Vordergrund stehen. Im Kontext der Dokumentation im Rahmen des § 34 SGB VIII-Moduls in EVAS eröffnen sich, in Anlehnung an den Gesetzestext, über die Erhebung des sogenannten „übergeordneten Betreuungsziels“ die drei Zielalternativen „Rückkehr in die Familie“, „Vorbereitung auf die Erziehung in einer anderen Familie“ und „Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben“. Das übergeordnete Betreuungsziel wird sowohl bei Hilfebeginn als auch im Hilfeverlauf angegeben, um damit auch ggf. erfolgte Änderungen der Zielformulierung abbilden zu können. Einschränkend muss an dieser Stelle aber darauf hingewiesen werden, dass mit EVAS - als primär auf Wirkungen und Wirkfaktoren ausgerichtetem Qualitätsentwicklungsverfahren - zwar zentrale Aspekte zum Thema Verselbstständigung erfasst werden, dies aber nicht annähernd in der Tiefe geschehen kann, wie es eine speziell auf das Thema „Verselbstständigung“ fokussierte Evaluation leisten könnte. Für die Untersuchung der Fragestellungen wurde eine Stichprobe von insgesamt 6.908 abgeschlossenen Hilfen nach § 34 SGB VIII ausgewählt, von denen gültige Angaben sowohl zum übergeordneten Betreuungsziel als auch zur Beendigung der Hilfe vorlagen. Dies ermöglicht Aussagen zu den Zielerreichungsprognosen und zu den tatsächlichen Zielerreichungsgraden. Die augenscheinliche Diskrepanz zu der oben erwähnten „Grundmenge“ von 14.500 abgeschlossenen Heimerziehungen erklärt sich im Wesentlichen aus dem Umstand, dass das „übergeordnete Betreuungsziel“ als eigenständige Fragestellung erst im Jahre 2004 im Rahmen einer Überarbeitung des EVAS-Instrumentariums in das § 34-Modul eingepflegt wurde. Die Aussagekraft der hier dargestellten Befunde ist dadurch allerdings nicht tangiert. Wie häufig stellt Verselbstständigung das übergeordnete Ziel einer Heimerziehung dar? In 2.701 der insgesamt 6.908 evaluierten Hilfen (39,1 %) wurde„Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben“ als übergeordnetes Ziel formuliert, gefolgt von„Rückkehr in die Familie“ mit 29,5 %. Daran gemessen kommt der „Vorbereitung der Erziehung in einer anderen Familie“ mit nur 1,4 % nur eine vergleichsweise marginale Bedeutung zu. Auffällig ist aber auch, dass in immerhin 30 % der Fälle zu Beginn einer Heimerziehung ein übergeordnetes Ziel nicht eindeutig definierbar oder unbekannt war (vgl. Abb. 1). Würde man diese nicht eindeutig zuzuordnenden Fälle aus der Betrachtung ausklammern, was aufgrund des hohen Anteils aber schwer fällt, ergäbe sich folgende prozentuale Verteilung: 55,8 % „Verselbstständigung“, 42,1 % „Rückkehr in die Familie“ und 2,0 % „Erziehung in anderer Familie“. Gesetzt den Fall, dass jede Heimerziehung theoretisch immer einer der drei Rahmenziele zuzuordnen ist (die Erfahrung ist, dass die vielfältige Jugendhilfepraxis die Theorie 14 uj 1 | 2013 Verselbstständigung oft widerlegt) und ferner die „Unbekannt“- Nennungen rein zufällig verteilt sind (relativ nahe liegende Vermutung, es gibt aber keine konkreten Hinweise in den Daten), würden diese Zahlen die „wirkliche“ Verteilung der übergeordneten Betreuungsziele widerspiegeln. Unter dem Strich stellt also, je nachdem wie man die Zahlen lesen mag, in etwa vier bis sechs von zehn Hilfen die Verselbstständigung das übergeordnete Ziel dar. Im Verhältnis ist es die häufigste Nennung. Prognosen der Fachkräfte Welche Prognosen stellen nun die Fachkräfte hinsichtlich der Zielerreichung? Sie fallen überwiegend positiv aus: In etwa zwei Dritteln der Hilfen (67 %) wird davon ausgegangen, dass die Verselbstständigung bis zum Ende der Heimerziehung realistisch ist und erreicht werden kann. Damit ist die Zuversicht sogar stärker ausgeprägt als bei dem ebenfalls oft aufgestellten Ziel „Rückkehr in die Familie“ (mit 57 % Erfolgsprognosen), andererseits aber auch verhaltener als bei der selten formulierten „Vorbereitung der Erziehung in einer anderen Familie“ (77 % Erfolgsprognosen). In welchem Ausmaß wird Verselbstständigung während Heimerziehung erreicht? Beim Blick auf den tatsächlichen Zielerreichungsstatus bei Abschluss der Hilfen offenbart sich folgendes Bild: Obwohl Verselbstständigung das mit Abstand am häufigsten gewählte übergeordnete Ziel ist, wird es nur in jeder fünften Hilfe (20,2 %) erreicht. Dagegen wird in knapp jeder dritten Heimerziehung eine Rückführung in die Familie umgesetzt (31,6 %, vgl. Abb. 2). Mit 28,8 % ist allerdings auch der Anteil der Hilfen, in denen keines der übergeordneten Ziele erreicht wird, sehr ausgeprägt. Ähnlich wie bereits bei Hilfebeginn im Hinblick auf die genaue Zielformulierung fällt es den Fachkräften auch bei Abschluss der Hilfen in vielen Fällen (15,3%) schwer, den Zielerreichungsstatus eindeutig zu benennen (s. Abb. 2). Lässt man die uneindeutigen Fällen unberücksichtigt, ergibt sich für die erreichten Ziele folgende Verteilung, die sozusagen die „Spitze des Eisbergs“ markiert: 23,8 % „Verselbstständigung“, 37,3 % „Rückkehr in die Familie“, 4,9 % „Vorbereitung der Erziehung in einer anderen Familie“ und 34,0 % Fälle, in denen kein Ziel erreicht wird. Verselbstständigung Rückkehr in Familie Andere Familie unbekannt/ nicht definierbar 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % Abb. 1: Übergeordnete Betreuungsziele bei Hilfebeginn 39,1 % 29,5 % 1,4 % 30,0 % 15 uj 1 | 2013 Verselbstständigung In Anbetracht der überraschend geringen Verselbstständigungsquote lohnt ein fokussierter Blick auf die Hilfen, die zu Beginn Verselbstständigung als zentrales Ziel formulierten: Die folgende Tabelle 1 veranschaulicht, dass zwar in 38,2 % dieser Hilfen Verselbstständigung erreicht wird, dem stehen aber 35,4 % gegenüber, in denen keines der Ziele erreicht wurde, und 13,1 %, wo es zu einer Änderung des Zieles kam. Die im Titel gestellte Frage „Verselbstständigung: oft angestrebt - selten erreicht“? hat also ihre Berechtigung und kann anhand dieser Ergebnisse durchaus bejaht werden. Verstärkt wird der Eindruck, dass Verselbstständigung während der Heimerziehung ein überaus herausforderndes Ziel ist, noch dadurch, dass die Erfolgsquoten von„Rückführung in die Familie“ mit rund 58 % und „Vorbereitung der Erziehung in einer anderen Familie“ mit rund 66 % erheblich höher ausfallen (vgl. Tab 1). Eine bemerkenswerte Randnotiz kann in Bezug auf die Übereinstimmung zwischen den Prognosen der Fachkräfte und den Zielerreichungsgraden gemacht werden. Nur allzu gerne werden im fachlichen Diskurs die empirisch Bei Hilfeende erreichtes Betreuungsziel Verselbstständigung Rückkehr Familie Andere Familie kein Ziel erreicht unbekannt/ uneindeutig Formuliertes Ziel Hilfebeginn Verselbstständigung (n = 2.701) 38,2 % 11,8 % 1,3 % 35,4 % 13,3 % Rückkehr in die Familie (n = 2.039) 6,2 % 57,8 % 2,1 % 22,4 % 11,5 % Erziehung in anderer Familie (n = 99) 3,0 % 16,2 % 65,7 % 4,0 % 11,1 % Unbekannt/ nicht eindeutig (n = 2.069) 11,2 % 32,2 % 6,9 % 27,8 % 21,9 % Tab. 1: Bei Hilfebeginn formulierte vs. bei Hilfeende erreichte übergeordnete Betreuungsziele Abb. 2: Erreichte Betreuungsziele bei Abschluss der Hilfen Verselbstständigung Rückkehr in Familie Andere Familie Kein Ziel erreicht unbekannt/ nicht eindeutig 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 20,2 % 31,6 % 4,1 % 28,8 % 15,3 % 16 uj 1 | 2013 Verselbstständigung beobachtbaren hohen Übereinstimmungsgrade weniger im Sinne von einer hohen Prognosegüte der Fachkräfte (s. IKJ 2002), sondern eher als Resultate sogenannter „sich selbst erfüllender Prophezeiungen“ abgehandelt. Wenngleich dieser Einwand im Rahmen der Betrachtung von Zielerreichungsgraden wohl nie vollständig ausgeräumt werden kann, zeigen die vorliegenden Befunde dennoch, dass es ganz so einfach nun auch nicht sein kann. Ansonsten dürften einzelne Ziele, wie die offensichtlich zu optimistisch eingeschätzte Zielerreichung bei der Verselbstständigung, nicht so deutlich„aus dem Raster“ fallen. Demnach sollte zumindest standardisiert operationalisierten Zielvorgaben mit geringeren subjektiven „Freiheitsgraden“ in der Formulierung, wie eben dem übergeordneten Betreuungsziel, eine größere „Verzerrungsresistenz“ attestiert werden. Was charakterisiert die Hilfen, deren übergeordnetes Ziel die Verselbstständigung junger Menschen ist? Wie nicht anders zu erwarten, ist das Ziel Verselbstständigung in hohem Maße altersabhängig: Während es zu Beginn der Heimerziehung bei den unter 14-Jährigen kaum genannt wird, liegt der Anteil der Hilfen mit entsprechendem übergeordneten Betreuungsziel bei den 14bis -17-Jährigen bei über 50 % und bei den über 17-Jährigen bei gut 90 % (bei den restlichen 10 % wird das Ziel hier als „nicht definierbar“ ausgewiesen). Bei Hilfen für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII kann es ja schon aus „sachlogischen“ Gründen gar kein Alternativziel geben. Im Schnitt sind die jungen Menschen mit dem Betreuungsziel „Verselbstständigung“ sogar 4,5 Jahre älter als die Vergleichsgruppe mit den Zielen „Rückkehr in die Familie“ oder „Vorbereitung auf die Erziehung in einer anderen Familie“ (16 versus 11,5 Jahre). Im Vergleich zu den Hilfen mit nicht (unmittelbar) auf Verselbstständigung ausgerichteten Betreuungszielen fällt weiterhin auf, dass Verselbstständigung eher angestrebt wird bei einerseits weiblicher Klientel, geringeren Lern-/ Leistungsproblemen und höherem Schulleistungsindex, andererseits aber auch für „schwierigere“ Klientel (Straffälligkeit, Drogenkonsum, ausgeprägte Jugendhilfevorerfahrungen). Durch tiefer gehende multivariate Analysen müsste in diesem Zusammenhang aber noch näher untersucht werden, ob die beschriebenen Unterschiede womöglich nicht allein durch das höhere Eintrittsalter in die Hilfen erklärt werden können: So ist, unabhängig von den formulierten Betreuungszielen, bei neu begonnenen Hilfen mit zunehmendem Alter auch allgemein ein höheres Maß an Straffälligkeit, Drogenkonsum oder Jugendhilfevorerfahrung zu verzeichnen. Dies gilt, speziell bei den jungen Volljährigen, ebenso im Hinblick auf einen steigenden Anteil weiblicher Klientel und höhere Ressourcenausprägungen im Lern-/ Leistungsbereich (vgl. Herrmann u. a. 2012). Es muss sich hier also nicht zwingend um Spezifika der jungen Menschen mit Ziel Verselbstständigung handeln. Der Hilfeverlauf ist durch einen allgemein niedrigeren Betreuungsaufwand charakterisiert. Beim jungen Menschen betrifft dies insbesondere die Bereiche Lernförderung und ressourcenorientierte Pädagogik, die auf potenzielle Kompetenzen junger Menschen wie z. B. Selbstsicherheit oder Autonomie gerichtet ist. Weniger überraschend ist hingegen der allgemein niedrigere Anteil elternbzw. familienbezogener Interventionen, beispielsweise in Form von Beratungen, Betreuungen oder Trainings. Interessanterweise sind aber auch die Fälle, in denen eine entsprechende Hilfeplanrelevanz besteht, durch eine vergleichsweise geringere Kooperation mit den Eltern (insbesondere den 17 uj 1 | 2013 Verselbstständigung Müttern) charakterisiert. Aus dieser insgesamt geringeren Prozessqualität folgt auch, dass die Wahrscheinlichkeit für eine planmäßige Beendigung der Hilfe mit 38 % versus 50 % (bei den Zielen „Rückkehr in die Familie“, kurz „Rückführung“, und „Vorbereitung der Erziehung in einer anderen Familie“, kurz „andere Familien“) nochmals merklich geringer ausfällt. In der Gruppe der Jugendlichen mit Betreuungsziel Verselbstständigung wird zudem als Hauptursache für die Abbrüche viel häufiger die „fehlende Mitarbeit des jungen Menschen“ festgestellt (bezogen auf die nicht planmäßig beendeten Hilfen 75,4 % versus 57,1 %). Mit geringer Prozessqualität, zum Beispiel im Sinne höherer Abbruchquoten infolge begrenzter Kooperativität von jungen Menschen oder Eltern, geht in der Regel auch eine geringere Effektivität einher (Arnold 2008; Arnold 2003, 139). So auch hier: Hilfen mit Verselbstständigung als zentralem Ziel erweisen sich als weniger effektiv als Hilfen mit dem Ziel „Rückführung“ oder „andere Familie“ (EVAS-Effektindex +3,7 versus +5,5; näheres zum EVAS-Effektindex s. Herrmann u. a. 2012). Dies ist in erster Linie durch eine geringere Ressourcenförderung zu erklären: Bis auf Autonomie und Selbstsicherheit schneiden sämtliche Ressourcendimensionen effekteseitig schlechter ab als in der Vergleichsgruppe. Dies belegt aber auch, dass zumindest die im Rahmen des übergeordneten Betreuungsziels intendierten Wirkungen (wie eben Autonomie und Selbstsicherheit), im Sinne einer größeren Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, durchaus erreicht werden. Weitere auffällige Unterschiede gegenüber den beiden Gruppen mit den Zielen „Rückführung“ und „andere Familien“, die im Folgenden zusammen als Vergleichsgruppe herangezogen werden, liegen bezüglich der Anschlussperspektiven vor: Wie nicht anders zu erwarten, ist der Anteil der jungen Menschen, die nach der Heimerziehung in einer eigenen Wohnung leben, in der Gruppe mit dem Ziel der Verselbstständigung deutlich höher (23 % versus 2 %). Daneben ist mit 36 % (versus 54 %) der Anteil der Anschlusshilfen erheblich reduziert. Interessanterweise werden trotzdem aus subjektiver Sicht der Fachkräfte, die die Verselbstständigung anstreben, Zukunftsperspektiven der jungen Menschen allgemein etwas verhaltener eingeschätzt als in der Vergleichsgruppe. Auch hier wäre noch auf multivariater Ebene zu klären, inwieweit es sich ggf. auch um altersbedingte Effekte handelt. Was unterscheidet Hilfen, bei denen das übergeordnete Ziel der Verselbstständigung erreicht wird, von solchen, bei denen dies nicht gelingt? Mit dieser Fragestellung sollen abschließend erste Hinweise zu den Wirkfaktoren von Verselbstständigung in der Heimerziehung und sonstigen Betreuten Wohnformen gegeben werden. Hierzu werden ausschließlich Hilfen betrachtet, bei denen bei Hilfebeginn das Ziel Verselbstständigung formuliert ist. Aus den insgesamt 2.701 Hilfen, für die dies zutrifft (vgl. Tab. 1), wurden zum Zwecke einer Vergleichsgruppenbildung zwei Substichproben betrachtet: ➤ Hilfen, bei denen (bei Beendigung) eine Verselbstständigung des jungen Menschen tatsächlich erreicht wurde (n = 1.031), und ➤ Hilfen, bei denen die Fachkräfte angaben, dass weder dieses noch ein anderes Ziel erreicht wurde (n = 955). Fälle mit unklarem bzw. nicht eindeutigem Zielerreichungsstatus wurden grundsätzlich nicht berücksichtigt. Im Rahmen der Gegenüberstellung der beiden Gruppen zeigten sich teils gravierende Unterschiede in den Ausgangslagen und den Hilfeprozessen. Hinsichtlich der Ausgangslagen gelingt den vorliegenden Daten nach Verselbstständigung eher bei 18 uj 1 | 2013 Verselbstständigung ➤ weiblicher Klientel (Anteil von 49,7 % bei Zielerreichung versus 33,3 % bei Nicht- Zielerreichung), ➤ älterer Klientel, insbesondere bei jungen Volljährigen, ➤ geringeren Jugendhilfevorerfahrungen des jungen Menschen, ➤ höheren Ressourcen des jungen Menschen speziell im Lern- und Leistungsbereich (Indikator u. a. Leistungsniveau in Schule oder Berufsausbildung), ➤ nicht vorliegender dissozialer Störung des jungen Menschen, ➤ nicht vorliegender Straffälligkeit des jungen Menschen, ➤ nicht vorliegenden Problemen/ Störungen im Sozialverhalten, ➤ nicht vorliegender Suchtgefährdung des jungen Menschen, ➤ niedrigerer Defizitbelastung des jungen Menschen, ➤ allgemein mehr vorliegenden Ressourcen des jungen Menschen. Besonders hervorzuheben ist hier speziell die ungewöhnliche „Polung“ des Wirkfaktors Alter. So steigt in den erzieherischen Hilfen mit zunehmendem Alter normalerweise eher die Misserfolgswahrscheinlichkeit an (Macsenaere/ Esser 2012), nicht aber im Kontext der Verselbstständigung. Bei anderen Faktoren, insbesondere dem Ausprägungsgrad von Symptomen im Bereich Dissozialität oder Delinquenz, muss darauf hingewiesen werden, dass die entsprechenden Befunde womöglich auch mehr auf die unterschiedlichen Geschlechtsverhältnisse zurückzuführen sein könnten, als dass es sich hier wirklich um spezifische Wirkfaktoren handelt. Hinsichtlich der Prozessqualität kommt der Kooperation des jungen Menschen eine herausragende Bedeutung zu: Sie hat auf allen Ebenen (Akzeptanz der Hilfeplanziele, aktive (Eigen-) Beiträge zur Gestaltung der Hilfe, Qualität der Beziehungen zu den BezugsbetreuerInnen, Mitarbeit in Schule bzw. Berufsausbildung) einen merklichen Einfluss auf das Gelingen der Verselbstständigung. Dagegen erweist sich - zumindest an dieser Stelle - die Kooperation mit den Eltern bzw. der Familie als weitgehend irrelevant. Ein weiterer, bemerkenswerter Effekt betrifft die Hilfedauer: Hilfen, bei denen Verselbstständigung gelang, dauerten mit durchschnittlich 25,6 Monaten genau doppelt so lange wie Hilfen, denen dies nicht gelang (12,8 Monate). Auch in diesem Zusammenhang zeigt sich also, dass nachhaltige Effekte in der Regel nicht mit verkürzten Hilfen zu erreichen sind (vgl. auch Macsenaere/ Esser 2012). Wie nicht anders zu erwarten, findet sich auch ein Zusammenhang zwischen erreichter Verselbstständigung und Art der Hilfebeendigung. Nahezu alle Hilfen, bei denen die Verselbstständigung nicht gelingt, enden unplanmäßig (94 %), während bei gelingender Verselbstständigung überwiegend eine planmäßige Beendigung vorliegt (73 %). Folgerichtig schneiden die Hilfen, bei denen die anvisierte Verselbstständigung gelingt, auch hinsichtlich aller untersuchten Effekt- und Zielerreichungsindices bedeutsam besser ab als die Vergleichsgruppe, bei der dieses Ziel nicht erreicht wird. Da das Erreichen des übergeordneten Betreuungsziels selbstverständlich nicht losgelöst vom Erreichen der sonstigen (spezifischen) Hilfeplanziele gesehen werden kann, unterstreichen diese Befunde folgenden Zusammenhang: Wenn die Verselbstständigung erreicht wird, sind die Hilfen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eben auch bezüglich weiterer nachgeordneter Hilfeplanziele effektiv. Ausblick Verselbstständigung stellt zwar ein oft formuliertes, übergeordnetes Ziel von Heimerziehung dar, hat gleichzeitig aber auch als überaus anspruchsvolles Ziel zu gelten, das im Vergleich 19 uj 1 | 2013 Verselbstständigung zu anderen Betreuungszielen deutlich seltener erreicht wird. Zukünftig sollten daher die hier beschriebenen Wirkfaktoren (wie etwa Geschlecht oder Jugendhilfevorerfahrung) stärker in die Hilfeplanung einfließen und im pädagogischen Alltag berücksichtigt werden. Auf diese Weise kann es gelingen, die Aussichten auf Zielerreichung und damit verbunden auch die allgemeine Effektivität entsprechend zu verbessern. Was die vorliegende Datenanalyse betrifft, ist bei Bewertung der Ergebnisse zu bedenken, dass sich die übergeordneten Betreuungsziele jeweils aus spezifischen Bedarfslagen ergeben, die oftmals gar keine gleichrangigen Planungsalternativen zulassen. Dies gilt insbesondere für junge Volljährige. Die resultierende Unterschiedlichkeit zwischen den Adressatengruppen der jeweiligen übergeordneten Ziele, die sich unter anderem in puncto Alters- oder Geschlechtsverteilung zeigt, hat zur Konsequenz, dass ein unmittelbarer Vergleich von Effektivitätskennwerten alleine nicht ausreichend ist. Trotz der durchaus bedenkenswerten empirischen Befunde zur Verselbstständigung können damit keine Aussagen zur überaus wichtigen professionellen Gestaltung des Überganges von Heimerziehung in das„normale“ Leben gemacht werden. Eine vertiefende empirische Untersuchung hierzu wäre sicherlich hoch interessant. Prof. Dr. Michael Macsenaere Jens Arnold IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH Saarstraße 1 55122 Mainz macsenaere@ikj-mainz.de arnold@ikj-mainz.de Literatur Arnold, J., 4 2003: Highlightbericht zur EVAS Auswertung 1/ 2002. In: Knab, E./ Macsenaere, M. (Hrsg.): Heimerziehung als Lebensaufgabe. Europäische Studien zur Jugendhilfe. Mainz, S. 125 - 142 Arnold, J., 2008: Einfluss der Wirkfaktoren Partizipation und Kooperation. In: Macsenaere, M./ Paries, G./ Arnold, J. (Hrsg.): EST! Evaluation der Sozialpädagogischen Diagnose-Tabellen. Abschlussbericht. München, S. 186 - 199. www.blja.bayern.de/ imperia/ md/ content/ blvf/ bayerlandesjugendamt/ familie/ abschlussbericht.pdf, 16.10.2012, 351 Seiten Herrmann, T./ Arnold, J./ Zlotnik, E./ Stepkes, E./ Berg, M./ Macsenaere, M., 2012: Hilfeartübergreifender EVAS- Bericht 2011. Mainz IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe, 2002: Highlight- Bericht zur EVAS-Auswertung 2/ 2001. Wie gut können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendhilfe das Erreichen der Hilfeplanziele prognostizieren? Mainz Macsenaere, M./ Esser, K., 2012: Was wirkt in der Erziehungshilfe? Wirkfaktoren in Heimerziehung und anderen Hilfearten. München Macsenaere, M./ Knab, E. (Hrsg.), 2004: EVAS - Eine Einführung. Freiburg Macsenaere, M./ Schemenau, G., 2008: Erfolg und Misserfolg in der Heimerziehung. Ergebnisse und Erfahrungen aus der Evaluation Erzieherischer Hilfen (EVAS). In: Unsere Jugend, 60. Jg., H. 1, S. 26 - 33