eJournals unsere jugend 65/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
21
2013
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Migrations- und Ungleichheitssensibilität als Schlüsselkompetenz für pädagogische Berufe

21
2013
Aladin El-Mafaalani
In der öffentlichen Diskussion, teilweise aber auch in Professionsdiskursen, ist der Eindruck erweckt worden, dass die Begriffe Kultur, Religion und soziale Herkunft eher die political correctness als eine tatsächlich sinnvolle Unterscheidung widerspiegeln. Im folgenden Beitrag soll gezeigt werden, dass diese Begriffe durchaus unterscheidbare Zusammenhänge bilden und es insbesondere vor dem Hintergrund sozialer Problemstellungen in ethnisch segregierten Stadtteilen lohnenswert erscheint, zunächst die Begriffe (und damit auch das Problem) zu sortieren, um davon ausgehend grundsätzliche Herangehensweisen zu diskutieren.
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50 unsere jugend, 65. Jg., S. 50 - 61 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art06d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Migrations- und Ungleichheitssensibilität als Schlüsselkompetenz für pädagogische Berufe In der öffentlichen Diskussion, teilweise aber auch in Professionsdiskursen, ist der Eindruck erweckt worden, dass die Begriffe Kultur, Religion und soziale Herkunft eher die political correctness als eine tatsächlich sinnvolle Unterscheidung widerspiegeln. Im folgenden Beitrag soll gezeigt werden, dass diese Begriffe durchaus unterscheidbare Zusammenhänge bilden und es insbesondere vor dem Hintergrund sozialer Problemstellungen in ethnisch segregierten Stadtteilen lohnenswert erscheint, zunächst die Begriffe (und damit auch das Problem) zu sortieren, um davon ausgehend grundsätzliche Herangehensweisen zu diskutieren. von Dr. rer. soc. Aladin El-Mafaalani Jg. 1978; Sozialforscher am ISF RUHR in Dortmund, derzeit Vertretung der Professur für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum Hierfür werden arabisch- und türkeistämmige Migrantengruppen in prekären Lebenslagen mit Deutschstämmigen in vergleichbarer Lebenslage verglichen. Ausgehend von dieser wissenschaftlichen Analyse wird anschließend die konkrete Praxis anhand eines Fallbeispiels beleuchtet werden. Dabei werden die subtilen sozialen Situationen aufgezeigt, in denen sich kommunikative Barrieren aufbauen und bei Kindern manifestieren können. Ferner wird deutlich, dass es keine Patentrezepte gibt, sondern vielmehr Schlüsselkompetenzen (Migrations- und Ungleichheitssensibilität) notwendig sind, um situationsadäquat handeln zu können. Was/ wer ist das Problem? Ein Auszug aus einem Interview mit einem 70-jährigen arabischstämmigen Arzt mit deutscher Staatsbürgerschaft: „Da hat der Polizeipräsident angerufen. Der wollte einen Dialog. Ich habe gar nicht verstanden, was das bedeutet. Der hat so oft Dialog gesagt - warum sagt er nicht: ‚Ich will mit euch sprechen’? Na gut, er will Dialog, er hat nicht gesagt, worum es geht, und ich habe natürlich gesagt, wir freuen uns jeden Tag über Besuch. Ich sag mal, der Polizeipräsident, das ist ja nicht irgendwer. Aber er wollte unbedingt einen Termin. Ich habe gesagt: ‚Ich bin Rentner. Ich bin fast immer in der Moschee, Mittwoch, Freitag und Sonntag auf alle Fälle. Kommen Sie, wann Sie wollen.’ Er hat lange geredet, das kann ich alles gar nicht genau nacherzählen, aber er hat dann ganz ängstlich gefragt: ‚Wir würden gerne mit Ihrer gesamten muslimischen Gemeinde in den Dialog treten, vielleicht wäre es an einem Freitag, vor oder nach dem Gebet möglich? ’ Also bitte, wer ist wir? Die Polizei? ! Und wer ist die 51 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit muslimische Gemeinde? Unsere Gemeinde besteht aus 30 bis 40 Rentnern, die alle arabische Ärzte oder Ingenieure sind, naja, manche sind auch aus der Türkei und Iran. Ich habe natürlich nichts dagegen. Er soll Freitag um 18 Uhr kommen, habe ich gesagt. … Und das wurde dann natürlich peinlich. Er hat erzählt und erzählt und geredet und immer und immer DIALOG - man hat immer dieses Wort gehört. Das war nervig, weil keiner der 25 anwesenden alten Männer verstanden hat, worum es geht. Nachdem ich ihn gebeten habe, nun zu sagen, worum es in diesem Dialog geht, kam es raus. Er wollte eigentlich mit den Jugendlichen, die in den Straßen rund um unsere Moschee Ärger und, ich sage mal, Quatsch machen, in einen Dialog treten. ‚Was haben wir damit zu tun‘, fragte ich. Und schon wieder: Dialog mit Muslimen, Dialog wurde zu lange nicht gemacht, Dialog, um das gemeinsame Leben zu verbessern, Dialog, Dialog. Ich bin höflich geblieben, Polizei ist wichtig, und ich habe natürlich Respekt vor dem Polizeipräsidenten. Aber irgendwann musste ich deutlich werden, sag ich mal. Keiner der hier sitzenden Muslime hat ein Problem mit Dialog. Keiner. Keiner macht etwas, was schlecht ist, keiner muss etwas verbessern. Wir haben immer Steuern bezahlt, haben deutsche Angestellte, und unsere Kinder haben alle Diplome an einer deutschen Universität. Ich habe ihm gesagt, dass diese Jugendlichen keine Muslime sind. Die sind auch zu uns frech gewesen. Und die gehen nicht in die Moschee, bei uns schon gar nicht. Ein anderes Mitglied unseres Vereins hat der Polizei klar gemacht, dass wir selbst Angst vor diesen Männern haben. Noch ein anderer sagte, dass man mit denen keinen Dialog führen kann, die sollte man einsperren, fertig. Ich glaube auch, dass das bei manchen notwendig ist. Das passiert doch immer, wenn junge Männer nix zu tun haben und sich nur auf der Straße herumtreiben. Dialog hilft da nicht. Aber wenn er einen Dialog führen will, dann soll er das mal schön selbst machen. … Als ich das dann später meinem Sohn erzählt habe, hat er mir gesagt, dass das bestimmt wegen Sarrazin und so ist. Ich habe das gar nicht verstanden, der kann doch nicht uns gemeint haben. Da wurde ich wirklich, ich sage mal, stinksauer. Wo lebe ich hier? Das kann doch nicht sein, wir sind anständige Menschen. Wir hatten in unseren Ländern schon nichts mit kriminellen und respektlosen Menschen zu tun. Und hier soll ich jetzt damit anfangen und die Arbeit der Polizei übernehmen? Ein alter Mann wie ich? Was soll das? Sehen Sie, ich lebe fast 40 Jahre in Deutschland. Meine Kinder sind hier aufgewachsen und haben in Deutschland die einzige Heimat. Und in 40 Jahren habe ich so was nicht erlebt. … Ich verstehe das nicht, wir sind hier, uns geht es gut. Was soll ein Dialog.“ (Auszug aus El-Mafaalani/ Toprak 2011, 15f ) An diesem Auszug kann man einiges lernen. Zunächst ist festzustellen, dass die Vertreter der Polizei mit guten Absichten einen Zugriff zu einer in der Stadt aktiven islamischen Gruppe suchten. Aber: ihnen ging es nicht um einen interreligiösen oder interkulturellen Dialog - hierfür wäre die Rentnergruppe offenbar bereit gewesen. Vielmehr sollte ein „neuer Weg“ gesucht werden, den Problemen in einem Stadtviertel zu begegnen. Für die Akademikergruppe erschien dieser Zusammenhang, den die Polizei mit einem Dialog herstellt, derart absurd, dass sie sich abgewertet fühlen und den Eindruck haben, durch die „Sarrazin-Debatte“ selbst zu einem Teil des Problems gemacht zu werden. Der gut gemeinte Weg zu neuen Methoden der Polizeiarbeit in der Einwanderungsgesellschaft ist zu einem Irrweg geworden. Und zwar nicht, weil es an interkultureller Kompetenz mangelte - diese wäre bei einer Akademikergruppe, die sich seit vielen Jahrzehnten in Deutschland etabliert hat, auch gar nicht notwendig -, sondern weil das Problem nicht verstanden wurde. Erstens: Die sozialen Schichten innerhalb einer Migrantengruppe leben u. U. genauso getrennt voneinander wie in der einheimischen Bevölkerung. Zweitens: Die Religion kann kein Problem sein, denn selbst reformerische Kräfte hierzulande wie auch in den islamisch geprägten Län- 52 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit dern, die uns im Arabischen Frühling beeindruckt haben, sind Muslime. Drittens: Auch die Kultur kann nicht als Problemmarker festgemacht werden, denn wer einen solch umfassenden Begriff nutzen möchte, muss damit leben, dass sowohl die arabischstämmigen Ärzte und Ingenieure als auch die arabischstämmigen Jugendgruppen aus ein und demselben Kulturkreis kommen. Bleiben zwei Begriffe, die es zu fokussieren gilt: soziale Schichten (soziale Ungleichheit) sowie Migration (also mit der Migration zusammenhängende Spezifika). Im Folgenden werden diese beiden Begriffe an Beispielen benachteiligter muslimsicher Gruppen erläutert, wobei insbesondere Studien herangezogen werden, die einen „fairen“ Vergleich ziehen. Türkische Jugendliche vs. deutsch-türkische Jugendliche In nur wenigen Studien wurden die Problemstellungen, die die Sozialisation türkeistämmiger Jugendlicher prägen, angemessen untersucht. Hierfür wäre es nämlich notwendig, entweder erfolgreiche Migrantenkinder mit erfolgreichen Einheimischen zu vergleichen oder problematische Migrantenkinder mit problematischen einheimischen Kindern. Um zu unterscheiden, welches Merkmal zu welcher Problemstellung führt, müsste gewährleistet werden, dass die Schichtzugehörigkeit und das Bildungsniveau in der empirischen Untersuchung kontrolliert werden. In eindrucksvoller Weise wurde dies in den Studien von Bohnsack und Nohl umgesetzt (Nohl 2001; Bohnsack 2003; Bohnsack/ Nohl 2002; ähnlich auch Badawia 2002). Hierfür wurden türkeistämmige Jugendliche der zweiten Generation - also in Deutschland geborene Migrantenkinder - mit türkischen Jugendlichen aus Ankara im Hinblick auf die Lebenswelten und Denkmuster vergleichend untersucht. Aus diesen detaillierten Analysen konnte herausgestellt werden, dass es einen zentralen Erfahrungsraum gibt, den diese beiden „verwandten“ Gruppen nicht teilen und der entsprechend nicht kulturtypisch sein kann. Die Autoren nennen diesen nur für die Gruppe der in Deutschland aufgewachsenen Jugendlichen typischen Erfahrungsraum „Sphärendifferenz“. Dabei werden die Jugendlichen permanent von zwei verschiedenen Logiken irritiert: die Logik der inneren Sphäre, also die der Familie und der ethnischen Community, die insbesondere auf traditionellen Formen des sozialen Zusammenlebens (enge Bindungen) basiert und in der kollektivistische Ideale, die von den Jugendlichen durch die zentrale Bedeutung der Begriffe Ehre, Respekt und Liebe gekennzeichnet werden, dominieren; demgegenüber spiegelt sich - wiederum aus der Perspektive der Jugendlichen - die Logik der äußeren Sphäre (also der„Mehrheitsgesellschaft“) in abstrakten Formen individueller Anerkennung (Selbstbezüglichkeit) und sozialer Bindung an Gruppen (Gruppenzugehörigkeit) sowie in nicht problemlos bestimmbaren Spielregeln (implizite Normen) wider. Diese beiden Sphären werden jeweils als Einheit erlebt. Daraus entsteht eine Innen-außen-Differenz, bei der ein zentraler Aspekt problematisch wird: Während die Jugendlichen deutlich zu erkennen geben, dass die Lebensweise in der inneren Sphäre einen nur sehr begrenzten Geltungsanspruch haben kann, also auch nur in der inneren Sphäre „funktioniert“, werden in der äußeren Sphäre Erfahrungen von Fremdheit, Differenz und teilweise von latenter und offener Diskriminierung erlebt. Also: Anders als die Jugendlichen in der Türkei nehmen türkeistämmige Jugendliche in Deutschland zum einen eine Sphärendifferenz wahr und zum anderen eine kommunikativ unüberbrückbare Diskrepanz zwischen der inneren Sphäre auf der einen Seite und der äußeren Sphäre auf der anderen Seite. Die Lebensvorstellungen der inneren Sphäre werden also als unzeitgemäß wahrgenommen, und zugleich steht die äußere Sphäre für einen geschlossenen Raum, zu dem sich die Jugendlichen nicht unmittelbar zugehörig fühlen. Dieses fehlende Zugehörig- 53 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit keitsgefühl zur „Mehrheitsgesellschaft“ speist sich aus dem Wechselspiel von der zum Teil mühsamen Entcodierung der impliziten Normen auf der einen Seite und der wahrgenommenen Fremdheit und zum Teil auch Diskriminierung auf der anderen Seite. Die Bewältigung der Sphärendifferenz kann dabei verschiedene Formen annehmen. Diese milieu- und bildungstypischen Strategien im Umgang mit den gegensätzlichen Logiken, die teilweise auch geschlechtsspezifische Färbungen aufweisen können, unterscheiden sich insbesondere darin, welche Sphäre einen besonderen Stellenwert einnimmt und die eigene Identitäts- und Selbstwertentwicklung fördert. Anders ausgedrückt: Hier entwickeln sich viele Grautöne, die sich meist durch „feine“ Distanzierungen von beiden Sphären ausdrücken oder zu Diffusionen beider Sphären führen. Am Ende kann dies beispielsweise dazu führen, dass eine türkeistämmige Jugendliche anders als ihre kaum religiöse Mutter ein Kopftuch trägt und sich gleichzeitig - wiederum anders als ihre Mutter - geschminkt und modebewusst am Abend mit Gleichaltrigen trifft. Zusammenfassend kann bei der vergleichenden Betrachtung von türkischen Jugendlichen in Deutschland und der Türkei festgehalten werden: ➤ Die Sphärendifferenz lässt sich als Migrationsspezifikum bezeichnen. ➤ Die Bewältigung der Sphärendifferenz lässt sich als eine migrationsspezifische Modifikation einer kulturspezifischen Form der Sozialität begreifen. Arbeiter vs. Gastarbeiterkinder An der Studie von Bohnsack und Nohl ansetzend, wurden türkeistämmige und einheimische BildungsaufsteigerInnen aus (Gast-)Arbeiterfamilien in Deutschland vergleichend untersucht (El-Mafaalani 2012). Die zentralen biografischen Problemstellungen, die sich hierbei gezeigt haben, sind in den Erwartungshaltungen der Eltern darstellbar: Während die Einheimischen geringe Loyalitätserwartungen gegenüber den Werten und Lebensvorstellungen der Familie sowie geringe Bildungsaspirationen aufweisen, sind beide Erwartungshaltungen bei den türkeistämmigen Eltern stark ausgeprägt. Die türkeistämmigen BildungsaufsteigerInnen müssen also mit dem Widerspruch umgehen, dass von ihnen sowohl Erfolg in der äußeren Sphäre (Erfolg in Schule und Beruf ) als auch ein Festhalten an den Traditionen und Lebensvorstellungen der inneren Sphäre (Loyalität) erwartet wird, während sie diese beiden Sphären als kaum vereinbare Lebenswelten wahrnehmen. Demgegenüber müssen die Einheimischen mit geringen Bildungsaspirationen in der Familie umgehen bzw. die Bildungsambitionen selbstständig erzeugen, haben zugleich aber nicht die Erwartung zu erfüllen, dem Herkunftsmilieu treu zu bleiben. Man erkennt hieran, dass der soziale Aufstieg unabhängig von der ethnischen Herkunft mühsam ist: ➤ Die Aufsteigenden müssen in jedem Falle zentrale Selbstverständlichkeiten, die ihre Kindheit und Jugend prägten, negieren. ➤ Sie müssen bereits in der Phase der Adoleszenz wahrnehmen, dass ihre Familien eine Reihe von Funktionen nicht erfüllen können, dass ihre Eltern selbst eher hilfsbedürftig sind und kaum unterstützen können. Dieser Ablösungsprozess geht häufig mit Konflikten einher und ist immer mit biografischen Krisen und Risiken verbunden. Insgesamt kann man sagen, dass der Prozess der Distanzierung vom Herkunftsmilieu ein zentraler Erfahrungsraum im Aufstiegsprozess ist, während sich die konkrete Form und Färbung des Distanzierungsobjekts deutlich unterscheiden (vgl. Tabelle 1). 54 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit Die Differenzerfahrungen, die Bohnsack und Nohl bei Jugendlichen konturiert rekonstruieren konnten, finden bereits in der Kindheit ihre Vorläufer. Dass die Sphären von den Jugendlichen als unüberbrückbar ferne Lebenswelten wahrgenommen werden, hängt wesentlich damit zusammen, dass die Sphären über die Kindheit hinweg tatsächlich getrennt bleiben und weder von den Eltern noch beispielsweise von pädagogischen Institutionen Überbrückungshilfen angeboten wurden. Im Folgenden werden das Fehlen sowie die Notwendigkeit von Überbrückungen anhand von Fallbeispielen dargestellt und diskutiert. Diese Fälle zeigen die subtilen sozialen Situationen auf, in denen sich die kommunikativen Barrieren bei den Kindern manifestieren können, und sie zeigen zugleich, dass jene Aspekte, die bisher getrennt betrachtet wurden (Migration und soziale Ungleichheit), in der konkreten Interaktion zusammenfallen. Ferner wird deutlich, dass es keine Patentrezepte gibt, sondern vielmehr Schlüsselkompetenzen (Migrations- und Ungleichheitssensibilität) notwendig sind, um situationsadäquat zu handeln. Situationsbeschreibung einer Grundschullehrerin Ömer (7) hat auf dem Schulgelände rot gefärbtes Wasser in einen Ballon gefüllt und diesen dann in der Turnhalle platzen lassen. Auf dem Boden und an mehreren Kleidungstücken seiner Mitschüler sind rote Flecken. Da die Klassenlehrerin nicht gesehen hat, was passiert war, fragt sie in die Klasse, wer das gewesen sei. Erst nachdem sie mehrfach und nachdrücklich fragt, zeigt ein Mitschüler auf Ömer. Da die Lehrkraft an Ömers Gesichtsausdruck erkennt, dass ihm klar zu sein scheint, dass sein Handeln nicht in Ordnung war, lässt sie ihn zunächst gemeinsam mit einigen Mitschülern die Flecken säubern, um kurze Zeit später unter vier Augen mit ihm zu sprechen. Etwas später: Die Lehrerin setzt sich und fragt Ömer ruhig und mit gesenkter Stimme: „Ömer, erzähl mal, was ist passiert? “ Ömer guckt auf den Boden und antwortet nicht. Die Lehrerin fragt weiter und möchte wissen, woher der Junge die Farbe hat. Ömer antwortete immer noch nicht. Zugleich wirkt der Junge in den Augen der Lehrerin „genervt“. Die Lehrerin wird ungeduldig und verlangt von Ömer, dass er sie anschauen soll, wenn sie mit ihm redet. Ömer schaut sie kurz an und senkt sofort wieder den Blick auf den Boden. Nachdem Ömer immer noch nicht antwortet, wird die Lehrerin ungeduldig und sagt: „Entweder du redest jetzt mit mir oder ich muss mit deinen Eltern reden.“ Ömer fängt sofort an zu weinen und beginnt zu reden. Er betont, dass es nicht seine Absicht war, den Ballon platzen zu lassen. Er wollte nur spielen. Der zuvor noch genervt wirkende Jun- Einheimische AufsteigerInnen Türkeistämmige AufsteigerInnen Zentrale Differenzerfahrung Unten-oben-Differenz (Milieudifferenz) Innen-außen-Differenz (Sphärendifferenz) Wahrnehmung des Aufstiegs Ablösung von Unterschicht (also von der Unterschichtskultur) Ablösung von der inneren Sphäre (also von Familie und ethnischer Community) Erwartungen der Herkunftsfamilie geringe Bildungs- und Berufsaspirationen geringe Loyalitätserwartungen hohe Bildungs- und Berufsaspirationen hohe Loyalitätserwartungen Tab. 1: Aufstiegstypische Differenzen zwischen Einheimischen und Türkeistämmigen 55 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit ge hört nicht auf zu weinen. Die Lehrerin nimmt ihn in den Arm, beruhigt ihn und beendet das Gespräch. Seither werden regelmäßig Verhaltensauffälligkeiten bei Ömer beobachtet. Mehrperspektivische Situationsanalyse Die Perspektive der Lehrerin: Die Lehrerin hat insgesamt professionell gehandelt: Sie hat das Gespräch gesucht, sie hat dies nicht vor der gesamten Klasse getan, sie hat sich hingesetzt, sich dem Kind zugewandt, das Gespräch ruhig begonnen und eine offene Frage gestellt. Dennoch war der Verlauf des Gesprächs kaum zufriedenstellend, insbesondere auch deshalb, weil sich das Fehlverhalten kurze Zeit später wiederholte. Aus der Perspektive der Lehrkraft war das Verhalten von Ömer irritierend: War es ein Ausdruck von Desinteresse oder von Respektlosigkeit, dass er sie nicht angeschaut und ihr nicht geantwortet hat? Nimmt er sie als weibliche Autoritätsperson nicht ernst oder hat sie sich inadäquat verhalten? Durch diese Unsicherheit wird sie im Laufe des Gesprächs ungeduldig, immer entschiedener und zuletzt weiß sie sich nicht anders zu helfen, als dem Jungen mit der Autorität der Eltern zu drohen. Weil sie nicht beabsichtigte, Ömer zum Weinen zu bringen, tröstet sie ihn anschließend. Mit dem unbestimmbaren Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben bzw. den Jungen nicht richtig eingeschätzt zu haben, fährt sie nach Hause. Sie denkt darüber nach, ein Gespräch mit Ömers Eltern zu führen, um einen besseren Einblick in die familiäre Situation zu bekommen und mögliche Probleme zu klären. Die Unbestimmtheit der Situation veranlasst sie also, zunächst ein Problem in der Familie zu vermuten. Bisher hat sie Ömers Eltern lediglich zur Einschulung gesehen und lädt diese zu einem Gespräch ein. Die Perspektive der Eltern: Verschiedenen türkeistämmigen Vätern wurde eine Videoaufzeichnung, in der die Situation von SchauspielerInnen nachgestellt wurde, gezeigt, um herauszufinden, wie sie die Situation interpretieren. Im Folgenden wird die Reaktion eines traditionsorientierten Vaters exemplarisch dargestellt. Der Vater schaut sich das Video interessiert und ruhig an. Mehrmals nickt er und bestätigt damit die Angemessenheit des pädagogischen Handelns. Erst am Ende schüttelt er mit dem Kopf. Wie hätte sich der Vater verhalten? Der Vater empfindet das Fehlverhalten des Jungen ausdrücklich als inakzeptabel - in der Sache selbst gibt es also zunächst keine unterschiedliche Problemwahrnehmung. Jedoch unterscheidet sich das erzieherische Vorgehen des Vaters fundamental von jenem der Pädagogin. Er würde den Jungen verbal und mit entschiedenem Ton zurechtweisen. Dabei wäre jede Antwort des Jungen als Aufmüpfigkeit zu interpretieren und würde entschieden bestraft. Der Vater möchte gar nicht wissen, wie dieses Fehlverhalten zustande kommt und warum der Junge etwas Verbotenes tut. Selbst dann, wenn der Vater Fragen stellt, erwartet er keine Antwort (rhetorische Fragen wie etwa: „Spinnst du? “ oder „Willst du mich verärgern? “). Aus seiner Perspektive handeln Kinder häufig unüberlegt, was unterbunden und je nach Schweregrad geahndet werden müsse. Dabei ist es ihm wichtig, dass der Junge nicht weint, also nicht emotional reagiert, sondern die Autorität der erziehenden Person uneingeschränkt anerkennt und sich unterordnet. Während der Vater also das Fehlverhalten des Jungen genauso missbilligt, wie dies auch die Pädagogin tat, scheint ein fundamentaler Unterschied darin zu liegen, wie das Fehlverhalten erklärt wird und entsprechend auch wie damit umgegangen wird. In der wissenschaftlichen Literatur ist dieser Erziehungsstil türkeistämmiger bzw. muslimischer Familien häufig beschrieben worden (u. a. bei Alamdar-Niemann 1992; Merkens 1997; jüngst von Toprak 2012). Dabei wird davon ausgegangen, dass sich die Eltern, die eine autoritäre bzw. konser- 56 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit vative Erziehung verfolgen, besonders dann erzürnen, wenn das Kind widerspricht. Das Abweichen von elterlichen Anordnungen wird nicht geduldet. Gegenüber Forderungen des Kindes bleiben die Eltern grundsätzlich hart. Entsprechend handelt es sich hier um ein relativ „einfaches“ Menschenbild. Demnach ist ein Kind noch nicht zur Einsicht fähig - weshalb auch die genervt wirkende Körperhaltung des Kindes nicht problematisiert wird. Vielmehr wird ein Fehlverhalten scharf angemahnt und nicht ergründet. Erst ein aufmüpfiges Verhalten, das bereits durch ein Antworten während der Zurechtweisung als solches identifiziert werden kann, führt zu einer harten Bestrafung. Respekt, Gehorsam und Loyalität sind in diesen Familien zentrale Werte. Die Bestrafung von Kindern dient traditionell-muslimischen Eltern also zum einen zur Verhaltenskorrektur, zum anderen aber auch zur (Wieder-)Herstellung der Loyalität den Eltern und Erwachsenen gegenüber. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass für den Vater nicht der Beginn des Gesprächs zwischen Lehrerin und Kind (also das Schweigen und der gesenkte bzw. genervte Blick), sondern erst das Ende ein Problem darstellt. Ebenso missfällt dem Vater, dass die Lehrerin die Eltern als Drohkulisse instrumentalisiert, obwohl der Junge die Autorität der Lehrerin gar nicht anzweifelt. Diese Unsicherheit der Pädagogin wird vom Vater als Inkompetenz gedeutet. Genauso verhält es sich im Übrigen mit der Einladung der Eltern. Türkei- und arabischstämmige Eltern treten häufig die Bildungs- und Erziehungsverantwortung vollständig an die Schule ab (El-Mafaalani/ Toprak 2011). Das liegt u. a. an dem großen Handlungsspielraum des Lehrers in Bezug auf die Disziplinierung der Schüler in muslimischen Gesellschaften. Schulen im Orient übernehmen die Erziehungsverantwortung für die Kinder während der Schulzeit vollständig. D. h., dass auftretende Probleme innerhalb der Schule gelöst werden, ohne dass die Eltern zu Rate gezogen werden - und mittlerweile auch ohne körperliche Gewalt anzuwenden. Der Vater deutet daher die Einladung zu einem Gespräch bezüglich der Erziehung des Kindes als pädagogische Inkompetenz. Auch wenn viele Eltern ihre eigene Schulzeit gar nicht in den Herkunftsländern verbracht haben, kann eine solche Erwartung an Schule - durch Erziehung und Menschenbild vermittelt - aufrechterhalten werden. Die Perspektive des Kindes: Was der Pädagogin in der Situation also nicht klar wurde: Ömer verhält sich ihr gegenüber offenbar genauso, wie es sein Vater erwartet hätte. Das Verhalten, das seine Lehrerin als Desinteresse oder gar Respektlosigkeit deutet, scheint vielmehr ein Ausdruck von Demut und Gehorsam zu sein. Sein Verhalten hat den Charakter einer ansozialisierten inneren Norm: Während einer Zurechtweisung scheint er Hemmungen zu haben, einer Autoritätsperson in die Augen zu schauen und ihre Fragen „auf Augenhöhe“ zu erwidern. Ein Angucken auf Augenhöhe kann dann später auch unter Jugendlichen als Provokation - als „Anmache“ - interpretiert werden (Tertilt 1996). Direkter Blickbzw. Augenkontakt ist in orientalischen Kulturen traditionell nur zwischen Statusgleichen üblich (Broszinsky-Schwabe 2011). Auch der häufig parodierte Spruch „Was guckst du? ! “ lässt sich hieraus herleiten. Ömer schweigt - ein Verhalten, das er gelernt hat. Jedoch wird sein respektvolles, einer gelernten Regel folgendes Verhalten nicht als solches (an-)erkannt. Im Laufe des Gesprächs zeigt sich: Ömer ist irritiert. Das Verhalten der Pädagogin weicht deutlich von jenem seiner Eltern ab. Zudem ist die Situation für ihn kaum durchsichtig: Zu häufig wechselt die Lehrkraft den Gesprächsmodus (erst offen und freundlich, dann ernst und bedrohlich, zuletzt dann wieder einfühlsam und aufmunternd). Ein solches situatives erzieherisches Handeln wird in konservativen Familien nicht praktiziert. Ömer fehlt in solchen Situationen Orientierung und Berechenbarkeit. Die großen Distanzen, die zwischen einer Orientierung an Einsicht und Selbstständigkeit in der Schule und der Orien- 57 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit tierung an Autorität und Loyalität in der Familie bestehen, können dauerhaft zu Stress führen. Er erlebt verschiedene Regelwerke und Anerkennungsmodi in Schule und Familie, ohne dass er diese Differenzen einordnen kann. Genau diese Dissonanzen bilden den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Sphärendifferenz. Reflexionen Bei dauerhaften Irritationen zwischen widersprüchlichen Erziehungslogiken ist es aus der Perspektive von Kindern durchaus problematisch, beiden Erwartungsstrukturen bzw. Erziehungslogiken gerecht zu werden (El-Mafaalani 2012). Dabei spielen in Interaktionssituationen insbesondere die Nachvollziehbarkeit und die erfahrene Anerkennung eine Rolle. Problematisch wird es dann, wenn Anerkennung in der Schule ausbleibt und damit das Wertesystem der Schule tendenziell weniger attraktiv wird. Dies gilt für sozial benachteiligte Jungen in besonderem Maße. Denn in konservativen Familien dürfen Jungen toben und lebhaftes Verhalten zeigen, ohne permanent auf Missgunst zu stoßen (Pfluger-Schindlbeck 1989; El-Mafaalani/ Toprak 2011). Zudem sind sie mit den Regeln der inneren Sphäre (Eltern, ethnische Community) besser vertraut als mit den impliziten Regeln in pädagogischen Institutionen. Welche besonderen Syntheseleistungen zwischen den beiden Lebenswelten durch die Kinder vollzogen werden müssen, zeigt sich auch an folgendem Interviewauszug mit dem 13-jährigen Gymnasiasten Mehmet: „Immer was anderes, die ham manchmal nett mit einem geredet, manchmal wie wenn man ein Schwerverbrecher ist. Und immer sagen die ‚Halt dich an die Regeln’ oder ‚Gib dir mehr Mühe’ und so. Ich hab nix verstanden. … Meine Mutter hat immer gesagt: ,Du musst immer Respekt haben vor Lehrer, als ob das dein Vater ist.‘ Aber das geht nicht. Das geht so nicht. Die wollen ja, dass ich was sage, also die wollen echt Antworten hören. Bei meinem Vater darfst du nicht antworten. … Wenn ich in der Schule so mache wie zu Hause, dann bin ich ein Schleimer. Das will der Lehrer nicht, so ein Respekt.“ Die Werte, die in der Schule gelebt werden, können für die Kinder aus konservativen Migrantenfamilien zu einer enormen Herausforderung werden. Die individualisierte Lebensführung, auf die die Schule vorbereiten soll, basiert auf Anerkennung als moderne Form der Integration. Im Unterschied zu Ömer hat Mehmet regelmäßig Erfolg und Anerkennung in der Schule erfahren. Dadurch konnte er Irritationen länger aushalten und hat erfolgreich Bewältigungsstrategien entwickelt. Bleiben diese positiven Erfahrungen aus, besteht die Gefahr des Rückzugs in das Herkunftsmilieu bzw. in die ethnische Community (u. a. King 2009; El- Mafaalani 2012).„Desintegration zeigt sich deshalb gerade in einem Anerkennungsvakuum … Bleibt Anerkennung aus, kann leicht eine Entwicklung eintreten, die traditionelle Form der Integration durch Bindung wiederzubeleben“ (Heitmeyer u. a., 1998, 59). Bei Lern- und Leistungsdefiziten, insbesondere im sprachlichen Bereich, besteht durch solche irritierenden Zustände, die keine Antizipierbarkeit sozialer Situationen ermöglichen, durchaus das Risiko für Schuldistanzierung. Als Risikofaktoren für Schulmüdigkeit und Schuldistanzierung zählen u. a. Dissonanzen zwischen schulischer und außerschulischer Lebenswelt und ambivalente Haltungen der Eltern gegenüber der Schule oder auch eine Gegenidentifikation der Jugendlichen aufgrund wahrgenommener Einengung bzw. Fremdbestimmtheit (vgl. u. a. Thimm 2000). Die Häufungen schulischer Kontexte, in denen die Antizipation von Erwartungen und von den Folgen des eigenen Handelns nicht gelingt und entsprechend Anerkennung und Erfolg ausbleiben, begünstigen eine Haltung, in der die 58 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit schulischen Logiken als etwas Fremdes wahrgenommen werden. Beispielhaft formuliert dies der 21-jährige Murat, der eine durch Misserfolge und Rückschläge geprägte Schullaufbahn aufweist: „In der Schule war das immer so komisch, ich wusste gar nicht, was die von mir wollten. Das hat für mich kein Sinn gemacht. … Wir haben eigentlich nie das gemacht, was wir sollten. Die Lehrer wussten auch nicht, was die mit uns machen sollten. Das war so, für uns war das so, wir sind da einfach so hingegangen, zu den Deutschen, und nach der Schule waren wir in unserer Straße und haben nur Scheiße gemacht. Das war eine Pflichtveranstaltung, sonst nichts. … Und später, so mit 15 oder 16, waren wir ne richtige Gang. Wenn einer Probleme hatte, haben alle mitgemacht. Da hat man sich richtig stark gefühlt, keiner konnte einem was. Das war für uns das echte Leben. … Aber wir hatten zu oft Stress mit der Polizei, haben Leute abgezogen und so …“ Die dauerhaften Dissonanzen zwischen familialer und schulischer Lebenswelt haben bei Murat den Bedeutungszuwachs einer dritten Sphäre begünstigt: die Entwicklung einer engen Verbindung mit Gleichaltrigen mit ähnlichen Sozialisationsbedingungen. Dies zieht weitere Konflikte sowohl in der Schule als auch in der Familie mit sich. Aus einem Gefühl, nur noch in dieser Gruppe verstanden und anerkannt zu werden, können sich Formen von Freundschaft und Solidarität in einer „Gang“ etablieren, die zu weiterem Selbstausschluss - bei Murat in Form von Selbstethnisierung - und kriminellen Karrieren führen. Diese Form der Selbstausschließung kann durchaus im Sinne Bourdieus (1987, 734) als „sense of one’s place“ verstanden werden, was bedeutet, dass ein Mensch - einer gelernten sozialen Logik folgend - Möglichkeiten der Zugehörigkeit selbst ausschließt („da gehören wir nicht hin“, „das ist nichts für uns“). Daher werden in ethnisch segregierten Stadtteilen von solchen Jugendlichen die - von der Norm abweichenden - Normalitäten ihrer dominierenden Lebenswelt positiv konnotiert und damit ein weiterer Graben zur Mehrheitsgesellschaft manifestiert. Prekäre Lebensverhältnisse, ungünstige Sozialisationsbedingungen und alltägliche Gefahren werden als Kapital umgedeutet und stellen dann die Grundlagen eines authentischen Lebens dar (beispielsweise in der Gangsta Rap Kultur, vgl. hierzu Dietrich/ Seeliger 2011, 2012). Diese Umdeutung von Maßstäben ist dabei überaus rational: Wenn die Welt dauerhaft auf dem Kopf steht, ist es plausibel, die Bewertungsmaßstäbe (oben/ unten, richtig/ falsch, gut/ schlecht) zu drehen, damit dem Leben überhaupt ein (realistischer) Sinn gegeben werden kann. Ob man das will oder nicht: Die Umwandlung der Bewertung schafft Selbstwert - und zugleich eine gewisse Resistenz gegenüber pädagogischen Interventionen, da diese im Zuge der Hilfe den Selbstwert anzweifeln. Ein Dilemma. Damit es gar nicht so weit kommt, wird in den (vor-)schulischen Einrichtungen zukünftig auch darauf geachtet werden müssen, dass Verständigung funktioniert und den Kindern Anerkennung widerfährt. Dies gelingt nur dann, wenn Widersprüche und Irritationen - wie sie hier mehrfach beschrieben wurden - als solche erkannt und transparent bearbeitet werden. Migrations- und Ungleichheitssensibilität Die skizzierte Strategie der Lehrerin ist aus ihrer Perspektive heraus nachvollziehbar. Allerdings ist sie enorm voraussetzungsreich. Die Prämissen ihres Handelns implizieren die Sozialisationsbedingungen einer deutschen Mittelschichtfamilie. Diese Normalitätsannahme hat weitreichende Folgen: Zum einen wird Kindern, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, erschwert, einen „Sinn für das Spiel“ (Bourdieu/ Passeron 1971) bzw. ein Verständnis für die Spielregeln zu entwickeln, zum anderen wird 59 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit auch die aktive Mitarbeit der Eltern bei der Lernentwicklung der Kinder vorausgesetzt (El- Mafaalani 2011). Gleichzeitig wurde mehrfach gezeigt, dass insbesondere türkeistämmige Eltern die Funktion der deutschen Schule falsch einschätzen und dementsprechend der Erwartung aktiven Engagements in Bildungs- und Erziehungsfragen nicht gerecht werden können - selbst dann, wenn sie wollten. Dies mag eine Erklärung dafür sein, dass die Kinder trotz hoher Bildungsaspirationen der Eltern im Bildungssystem relativ schlechte Ergebnisse erzielen (hierzu Bittlingmayer/ Bauer 2007). Man kann es auch anders formulieren: In der Schule werden (traditionell) viele Dinge vorausgesetzt, die eigentlich in der Schule gelernt werden sollten, zum Nachteil aller bildungsfernen Gruppen (Böttcher 2005; Ditton 2008). Zusätzlich zur interkulturellen Kompetenz (vgl. u. a. Gaitanides 2000; Hinz-Rommel 1996) bedarf es also einer weiteren, in der Ausbildung von pädagogischen Fachkräften vernachlässigten Reflexionsleistung: Selbstreflexion in Bezug auf die eigene Sozialisation, auf eigene Denk- und Handlungsmuster. Die Fokussierung interkultureller Kompetenzen übersieht für sich genommen den Ungleichheitsaspekt: Die Problematiken im Bildungssystem verlaufen nicht nur entlang der ethnischen Herkunft („Bio-Deutsche“ vs. „Post-Migranten“), sondern auch entlang der schichtspezifischen sozialen Herkunft. Migrations- und Ungleichheitssensibilität besteht zunächst darin, zu reflektieren, was man selbst ist, um zu verstehen, was der Unterschied bzw. das Ungleiche ist. Da die meisten Lehrkräfte - und große Teile anderer pädagogischer Berufe - aus der deutschen Mittelschicht rekrutiert werden, ergibt sich eine doppelte Herausforderung. Diejenigen Kinder, die ähnliche Lebensvoraussetzungen und Sozialisationsbedingungen aufweisen, wie die meisten Professionellen, verfügen über eine gewisse soziale Nähe zu den Lehrkräften und der Schule. Diese soziale Nähe kann sich in den Umgangsformen, der (Selbst-) Disziplin, der Köperhaltung und der Mentalität ausdrücken. Und diese habituelle Nähe erzeugt tendenziell auch Verbundenheit und Vertrauen. Ob man jemanden mag oder nicht, hängt u. a. auch von der impliziten Kommunikation ab. Andersherum bedeutet dies, dass Kinder und Jugendliche aus unteren Schichten auf die Professionellen häufig „ungewohnt“ wirken. Dies verstärkt sich, wenn es sich um Kinder handelt, die aus unteren Schichten stammen und zusätzlich eine andere ethnische Herkunft, also einen Migrationshintergrund, aufweisen. Die beschriebenen Irritationen und Unwohlseinsgefühle beschränken sich also keineswegs nur auf die Kinder und Jugendlichen, sondern können durchaus auch beim pädagogischen Personal vorliegen und sich somit wechselseitig verstärken. Dieser „Teufelskreislauf“ könnte durch die Reflexion der Normalitätserwartungen und der impliziten Regeln durchbrochen werden. In analoger Weise gilt dies für die Unterrichtsorganisation sowie die Arbeitstechniken und Curricula in der Schule sowie andere pädagogische Bereiche (Alkemeyer/ Rieger-Ladich 2008; Rieger- Ladich u. a. 2009). Selbstreflexion kann also dabei helfen, zu explizieren, was bisher implizit wirksam ist, und damit zu lehren und fördern, was bisher vorausgesetzt wurde. Und damit ist der Weg für eine ungleichheitssensible pädagogische Praxis geebnet, von der alle benachteiligten Gruppen - nicht nur Migrantenkinder - profitieren würden. Dies ist gerade deshalb so wichtig, weil nur ein Teil der Familien zu dem traditionellen Typus, der im Fallbeispiel dargestellt wurde, zuzuordnen ist (andere werden bei Alamdar-Niemann 1992; Merkens 1997; El-Mafaalani/ Toprak 2011 sowie Toprak 2012 dargestellt). Auch dieser Beitrag thematisiert also nur einen sehr begrenzten Ausschnitt, womit erstens nachdrücklich vor Verallgemeinerungen gewarnt und zweitens auf das Konzept der Schlüsselkompetenzen hingewiesen wird. Migrations- und Ungleichheitssensibilität als zentraler Bestandteil 60 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit pädagogischer Professionen ermöglicht es, auf neue und modifizierte Situationen adäquat zu reagieren. Fazit Von den Eltern zu erwarten, sich zu ändern, erscheint kaum erfolgversprechend. Sie können sich nur sehr schwer von ihren Werten und ihrer Familienkultur distanzieren. Im Gegenteil: Häufig geben sie den deutschen „Verhältnissen“ die Schuld für das Scheitern der eigenen Kinder. Dadurch werden die eigenen Wertemuster und Erziehungsziele u. U. verstärkt und damit strenger bzw. konservativer, was für folgende Generationen das Spannungsverhältnis zwischen Familie und Schule weiter konserviert. Die Lösung kann selbstverständlich nicht sein, sich an Erziehungszielen und -praktiken vergangener Zeiten zu orientieren - im Gegenteil: Erst durch ein Verständnis der Sozialisationsbedingungen der Kinder und der Reflexion der eigenen Haltung können die Rahmenbedingungen geschaffen werden, um Selbstständigkeit und Selbstbestimmung zu fördern und die Kinder auf ein „modernes“ Leben vorzubereiten. Eine forciert positive Kooperation mit den Eltern kann die Entwicklung der Kinder unterstützen. Denn diese Kinder aus benachteiligten Migrantenfamilien erleben zwei unterschiedliche Identitäten, zwei verschiedene soziale Codes, also im wörtlichen und metaphorischen Sinne zwei Sprachen, bei denen sich die Heranwachsenden als Sprecher und Übersetzer zugleich üben müssen. Diese zu vollziehenden komplexen Syntheseleistungen zwischen herkunftsbezogenen und aufnahmelandbezogenen Erwartungen werden häufig zu Recht als soziale Ressource beschrieben. Erst dann, wenn durch schichtspezifische Besonderheiten die Möglichkeiten, Anerkennung in Schule und Beruf zu erfahren, enorm eingeschränkt werden, entstehen handfeste soziale Probleme. Die Art, in der Jungen und Mädchen eine Möglichkeit erhalten bzw. erkennen, Anerkennung in Schule und Beruf zu erfahren, bestimmt entscheidend mit, inwieweit sie selbst die traditionellen Denk- und Handlungsmuster aufrechterhalten, verstärken oder den „deutschen“ Verhältnissen angleichen. Dr. Aladin El-Mafaalani ISF RUHR Am Roten Haus 33 44379 Dortmund info@isf-ruhr.de Literatur Alamdar-Niemann, M., 1992: Türkische Jugendliche im Eingliederungsprozess. Eine empirische Untersuchung zur Erziehung türkischer Jugendlicher in Berlin (West) und der Bedeutung ausgewählter individueller und kontextueller Faktoren im Lebenslauf. Hamburg Alkemeyer, T./ Rieger-Ladich, M., 2008: Symbolische Gewalt im pädagogischen Feld. Überlegungen zu einer Forschungsheuristik. In: Schmidt, R./ Woltersdorff, V. 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