eJournals unsere jugend 65/3

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
31
2013
653

Armut(sfolgen) bei Kindern und Jugendlichen

31
2013
Gerda Holz
Claudia Laubstein
Evelyn Sthamer
„Also manchmal war ich schon traurig, dass ich manches nicht bekommen habe, aber ich meine, ich bin es nicht anders gewohnt, bin eigentlich so mit aufgewachsen, also daher kann ich mich eigentlich nicht großartig beschweren.“ (Lisa Mischke, 17 Jahre)
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98 unsere jugend, 65. Jg., S. 98 - 111 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art10d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Armut(sfolgen) bei Kindern und Jugendlichen Ein Plädoyer zur Neuausrichtung (nicht nur) der Jugendhilfe „Also manchmal war ich schon traurig, dass ich manches nicht bekommen habe, aber ich meine, ich bin es nicht anders gewohnt, bin eigentlich so mit aufgewachsen, also daher kann ich mich eigentlich nicht großartig beschweren.“ (Lisa Mischke, 17 Jahre) von Gerda Holz Sozialarbeiterin grad., Dipl.- Politikwissenschaftlerin, Leiterin des Geschäftsfeldes „Soziale Inklusion“ im Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Ist das wirklich eine Perspektive für junge Menschen, die in einem sehr wohlhabenden und global agierenden Land leben? Das Zitat steht für die Realität eines Mädchens, das seit über zehn Jahren unter Armutsbedingungen aufwächst, Fatalismus gelernt und positive Zukunftsvorstellungen fast schon verloren hat. In Deutschland stellen Kinder und Jugendliche seit mehr als zwei Jahrzehnten die am stärksten armutsbetroffene Bevölkerungsgruppen. Je nach Region und Altersphase ist bis zu jeder dritte junge Mensch armutsbetroffen. Das hat Folgen - individuell und gesellschaftlich. Nachfolgend werden ausgewählte Ergebnisse der AWO-ISS-Langzeitstudie zu „Lebenslagen und Zukunftschancen von (armen) Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ referiert, die seit 1997 - im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt und mitgefördert durch die GlücksSpirale - vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) durchgeführt wird. Zunächst ist der Fokus auf die Vorstellung empirisch erfasster Folgen familiärer Armut bei den jungen Menschen gelegt. Dem schließt Claudia Laubstein Sozialwissenschaftlerin (Soziologie/ Politikwissenschaft M. A.), Wissenschaftliche Referentin im Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Evelyn Sthamer Soziologin (Soziologie/ Empirische Sozialforschung M.Sc.), Wissenschaftliche Referentin im Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik 99 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen sich eine Analyse der Daten zur Nutzung von Sozialen Hilfen/ Diensten im Allgemeinen und Jugendhilfeangeboten im Besonderen durch arme und nicht arme Familien und ihre Kinder an. Ziel ist es, mehr Wissen zu generieren, ob und wie armutsbedingten kindlichen Notlagen durch das Hilfesystem entgegenzuwirken ist. Zuletzt wird ein fachliches Resümee mit Hinweisen und Aufforderungen zu Veränderungen im Sinne einer armutspräventiven Neuausrichtung der Jugendhilfe gezogen. Die AWO-ISS-Langzeitstudie - Ansatz und ausgewählte Ergebnisse Konzept und Erhebungsphasen In der Studie wird der Frage von Armutsfolgen bei jungen Menschen nachgegangen. Sie umfasst aktuell vier Forschungsschwerpunkte: Die Erststudie „Armut im Vorschulalter“ (1997 bis 2000), die Vertiefungsstudie „Armut im frühen Grundschulalter“ (2000 bis 2002), die Wiederholungsstudie „Armut bis zum Ende der Grundschulzeit“ (2003 bis 2005) und die Wiederholungsstudie „Armut am Ende der Sekundarstufe I“ (2009 bis 2012) (vgl. Hock u. a. 2000; Holz/ Skoluda 2003; Holz u. a. 2006; Laubstein u. a. 2011 a, b; Laubstein u. a. 2012). Die Leitfrage lautete stets: Was kommt (unter Armutsbedingungen) beim jungen Menschen an? Um darauf Antworten geben zu können, wurde ein akteurszentrierter Lebenslageansatz definiert, der die Situation junger Menschen aus ihrer Perspektive erfasst. Die AWO-ISS-Studie geht aber nicht ausschließlich vom Lebenslagenansatz aus. Zum einen liegt ihr ein mehrdimensionales Armutsverständnis, d. h. Ressourcen- und Lebenslagenkonzept zur Bestimmung von Armut, zugrunde. Zum anderen werden die individuellen Ressourcen, über die der junge Mensch verfügt, um seine familiäre Armut bewältigen zu können, analysiert. Nicht zuletzt durch diese Ressourcenperspektive ist eine Verknüpfung mit Fragen des Coping und der Resilienz möglich: Wie bewältigen Kinder und Jugendliche Armut und was brauchen sie, um Resilienz aufzubauen? Im Rahmen der Langzeitbetrachtung wurden zudem die Lebensverläufe der beteiligten Mädchen und Jungen untersucht. Besonders die Übergänge, die besondere Anforderungen an die jeweilige Altersphase stellen, standen im Fokus: so die Übergänge von der Kindertagesstätte (KiTa) in die Grundschule, von der Grundschule in die Sekundarstufe I (SEK I) und von dort in die Sekundarstufe II bzw. in den Beruf. Die Leitfrage lautete hier: Wie gestaltet sich der Lebenslagedimensionen Lebenslagetyp Kind Materiell (Kleidung, Wohnen, Nahrung, Partizipation u. a.) Sozial (soziale Kompetenz, soziale Kontakte u. a.) Gesundheitlich (physisch und psychisch) Kulturell (kognitive Entwicklung, Sprache, Bildung, kult. Kompetenzen u. a.) Der Haushalt ist arm Eltern/ Erwachsene Kind materiell kulturell sozial Was kommt beim Kind an? Wohlergehen Benachteiligung Multiple Deprivation Abb. 1: Das kindbezogene Armutskonzept (Quelle: Hock u. a. 2000, 12) 100 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Lebensverlauf armer im Vergleich mit nicht armen jungen Menschen? Welche Perspektiven eröffnen sich wem? Wie Armut bei jungen Menschen theoretisch erklärbar und empirisch erfassbar ist, ist in Abbildung 1 zusammengefasst dargestellt. Als einkommensarm werden Haushalte bzw. Familien bezeichnet, die weniger als 50 % des bedarfsgewichteten durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung haben. Diese Messgröße war die 1997 geltende und wird zwecks Vergleichbarkeit der Befunde beibehalten. Zusätzlich zählen Familien, die Sozialtransfers nach SGB II, XII oder nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, zu der Armutsgruppe. Die Lebenslage des Kindes wird durch die vier Dimensionen materielle Lage, kulturelle Lage, soziale Lage und gesundheitliche Lage bestimmt. Diese lassen sich zu drei kindbezogenen Lebenslagetypen zusammenfassen. Sie stellen das Ausmaß an Ressourcen und Entwicklungsmöglichkeiten dar, die den jungen Menschen zur Verfügung stehen. Von „Wohlergehen“ wird gesprochen, wenn in Bezug auf die zentralen (Lebenslage-)Dimensionen aktuell keine „Auffälligkeiten“ festzustellen sind, das Wohl des Kindes bzw. Jugendlichen also gewährleistet ist und von einer positiven Zukunftsentwicklung ausgegangen werden kann. Eine „Benachteiligung“ liegt gemäß Definition dann vor, wenn in ein oder zwei Bereichen aktuell „Auffälligkeiten“ festzustellen sind. Der betroffene junge Mensch kann dann in Bezug auf seine weitere Entwicklung als benachteiligt betrachtet werden. Von „Multipler Deprivation“ ist die Rede, wenn die Lage des Kindes bzw. Jugendlichen in mindestens drei der vier zentralen Lebens- und Entwicklungsbereiche auffällig ist. Das Kind/ der Jugendliche entbehrt dann in mehreren wichtigen Bereichen die notwendigen Ressourcen, die eine positive Entwicklung wahrscheinlich machen. 1999 wurden Daten zu rund 1.000 im Jahre 1993 geborenen Kindern in bundesweit 60 AWO-Kindertageseinrichtungen erhoben. Ausgangsstichprobe waren schließlich 893 Kinder, die in den Wiederholungsbefragungen 2003/ 04 und 2009/ 10 jeweils zu rund 50 % erneut befragt werden konnten. Seit 2001 wurden außerdem die Lebenswege von zehn Kindern und ihren Familien anhand umfangreicher Fallanalysen betrachtet. Mit der bisher letzten Studienphase konnte nicht nur die aktuelle Lebenssituation von 449 Jugendlichen im Alter von 16 bzw. 17 Jahren analysiert, sondern auch ihr Lebenslauf seit dem Kindergartenalter nachgezeichnet werden. Die Zahlen der Studie sind für Gesamtdeutschland nicht repräsentativ. Vielmehr liefern sie verallgemeinerbare Tendenzbeschreibungen und dienen dazu, „blinde Flecken“ aufzudecken, die anhand großer Datensätze vertiefend beforscht werden sollten. Ausgewählte Erkenntnisse aus der Erhebung zu Jugendarmut Die Ergebnisse der aktuellen Welle (2009/ 10) - also im Querschnitt - bestätigen, dass familiäre Einkommensarmut ein zentraler Risikofaktor nicht nur für die Entwicklung von Kindern, sondern genauso von Jugendlichen ist. Armut wirkt sich komplex aus, doch finden sich bei den 16bis 17-Jährigen die stärksten Effekte in Bezug auf die materielle und die kulturelle Lage. Hier sind mehr als die Hälfte der Armen (57 % bzw. 54 %) auffällig, bei den nicht Armen sind es jeweils „nur“ ein Fünftel (19 %) bzw. ein Viertel (26 %) (vgl. Tab 1). Die materielle Unterversorgung (d. h. Essen, Kleidung, Wohnen sowie die Teilnahme am ganz normalen altersspezifischen Konsum) infolge unzureichender finanzieller Mittel zieht sich übrigens wie ein roter Faden durch die gesamte AWO-ISS-Studie. Schon in der Ersterhebung 1999 über die Sechsjährigen war die Gruppe der Armutsbetroffenen in dieser Dimension am stärksten eingeschränkt. 101 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Lebenslagedimension Indikatoren Anteil der Jugendlichen mit „Auffälligkeiten“ Unterschied nach Armut Arm Nicht arm Materielle Lage Einschränkung Essen 25 % 7 % 0,237*** Einschränkung Kleidung 52 % 27 % 0,231*** Einschränkung Wohnen 62 % 25 % 0,346*** Kein PC + Internet 51 % 25 % 0,244*** Wenig Sparen 70 % 48 % 0,191*** Einschränkung Hobbys 46 % 26 % 0,185*** Geringes subjektives materielles Wohlbefinden 46 % 25 % 0,203*** GESAMT 57 % 19 % 0,369*** Kulturelle Lage Kein Schulengagement in den letzten zwei Jahren 43 % 31 % 0,117* Weniger als einmal die Woche in Internetcommunity aktiv 23 % 10 % 0,172** Bildungsherkunft (kein Realschulniveau oder höherer Abschluss des befragten Elternteils) 55 % 24 % 0,293*** Bildungsherkunft (weniger als 100 Bücher) 83 % 55 % 0,250*** Schulleistung Mathe schlechter als 3 40 % 28 % 0,137* Schulleistung Deutsch schlechter als 3 35 % 15 % 0,217*** Verzögerte Schullaufbahn 39 % 29 % 0,093 + GESAMT 54 % 26 % 0,254*** Soziale Lage Geringe Unterstützungsressourcen der Eltern 29 % 14 % 0,172*** Wenige Positivmerkmale der Freundschaften 21 % 12 % 0,104* Wenige Positivmerkmale der Clique 30 % 14 % 0,174*** Keine externen Unterstützungsnetzwerke 51 % 74 % 0,217** Geringe Sozialkompetenz (Elterneinschätzung) 2 % 9 % 0,126* Opferwerdung (Mobbing) 21 % 17 % 0,050 Opferwerdung (Gewalt, sexuelle Belästigung) 32 % 36 % 0,034 GESAMT 36 % 31 % 0,052 Gesundheitliche Lage Psychosomatische Krankheitssymptome 32 % 21 % 0,119 + Geringes gesundheitliches Wohlbefinden 17 % 12 % 0,062 Gesundheitsbelastende Ereignisse 37 % 30 % 0,061 Außergewöhnliche Belastungen 19 % 4 % 0,242*** Substanzkonsum (Alkohol, Tabak, Drogen) 22 % 25 % 0,036 Geringe körperliche Aktivität 22 % 14 % 0,092 + Wenig Sport 41 % 25 % 0,156** GESAMT 44 % 30 % 0,131** Tab. 1: Anteil der 16-/ 17-Jährigen mit„Auffälligkeiten“ in der Lebenslage nach ausgewählten Merkmalen und aktueller Armut (2009/ 10) Verwendetes Zusammenhangsmaß Phi. *** p < 0,001 (signifikant auf dem 99,9 %-Niveau), ** p < 0,01 (99 %), * p < 0,05 (95 %), + p < 0,1 (90 %). n = 449 (jeweils gültige Prozente, einige Variablen weisen fehlende Werte auf ). (Quelle: AWO-ISS-Kinderarmutspanel 2009/ 10, eigene Berechnung, vgl. Laubstein u. a. 2012, 29 - 40) 102 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Die Ungleichheit der Lebenssituation und der Zukunftschancen zwischen armen und nicht armen Jugendlichen spiegelt sich auch bei Betrachtung der Lebenslagetypen wieder. Während nur 19 % der armen Jugendlichen zum Typ „Wohlergehen“ zählen, gilt dies bei 39 % der nicht armen. Umgekehrt ist das Verhältnis beim Typ „Multiple Deprivation“: 37 % der armen Jugendlichen und 11 % der nicht armen zählen zu diesem Typ. In der Längsschnittperspektive - also über den Zeitraum von 1999 bis 2009/ 10 - wird die Zunahme von Ungleichheit immer sichtbarer: Jedes zweite ehemals arme KiTa-Kind ist bis 2009/ 10 dauerhaft in Armut aufgewachsen (51 %). Umgekehrt hat die große Mehrheit der 1999 ehemals nicht armen Kinder danach auch keine Armut erfahren (78 %). Dennoch gelten die Aussagen „einmal arm - immer arm“ bzw. „einmal multipel depriviert - immer multipel depriviert“ nicht automatisch. Zwei Beispiele: ➤ 43 % der armen Familien gelingt zwischen 1999 und 2009/ 10 der Ausstieg aus der Einkommensarmut, aber 57 % auch nicht. ➤ 30 % der 1999 multipel deprivierten Sechsjährigen zählen auch 2009/ 10 noch zu dieser hoch belasteten Gruppe. Bei 70 % trat eine Veränderung zum Besseren ein. Sie wechselten den Typ, meist um eine Stufe zum Typ „Benachteiligung“ (45 %). Jedes vierte Kind wechselte sogar um zwei Stufen hin zum Typ „Wohlergehen“ (25 %). Deutlich lässt sich der Einfluss familiärer Armut in der Kindheit auf den späteren Lebenslagetyp in der Jugend nachweisen. Auch wenn die geringeren Fallzahlen keine stärker differenzierten Analysen zulassen, so wird doch deutlich: ➤ Für 19 % der ehemals armen Kinder im Typ „Wohlergehen“ verschlechtert sich die Lebenslage bis in die Jugend drastisch hin zum Typ „Multiple Deprivation“. ➤ Fast die Hälfte der Kinder, die 1999 sowohl arm als auch im Typ „Multiple Deprivation“ waren, zählt auch Jahr 2009/ 10 zu dieser massiv belasteten Gruppe (48 %). ➤ Immerhin noch 23 % der Kinder, die im Jahr 1999 trotz Armut im Typ „Wohlergehen“ waren, befinden sich auch 2009/ 10 in dieser positiven Gruppe. ➤ Lediglich 11 % der ehemals armen KiTa- Kinder im Typ „Multiple Deprivation“ erfuhren in ihrem weiteren Leben eine deutliche Verbesserung ihrer Situation hin zum Typ „Wohlergehen“. Bestätigt wird diese unmissverständliche Tendenz einer auseinandergehenden Schere durch Betrachtung der Kontrastgruppe, den 1999 nicht armen aber multipel deprivierten Sechsjährigen. Sage und schreibe 85 % dieser Gruppe erlebten in den folgenden zehn Jahren eine deutliche Verbesserung ihrer gesamten Lebenssituation und wechselten so mindestens in den Typ „Benachteiligung“ (49 %) oder sogar in den Typ „Wohlergehen“ (36 %). Ein Zwischenfazit: Die Chancen sind im Grunde schon mit sechs Jahren eindeutig verteilt und dabei die armutsbetroffenen Kinder meist die Verlierer statt Gewinner. Die Schere zwischen Armen und nicht Armen öffnet sich im weiteren Lebensverlauf weiter, wobei sich fehlendes Familieneinkommen bei immer mehr jungen Menschen immer tiefer in die gesamte Persönlichkeitsentwicklung einfrisst. Multiple Beeinträchtigungen sind für armutsbetroffene Jugendliche erschreckend häufig, über ein Drittel zählt 2009/ 10 zu diesem Typ. Nutzung sozialer Hilfen durch (arme) Jugendliche und ihre Eltern Zielsetzung der AWO-ISS-Studie war es stets auch, Hinweise zur Weiterentwicklung der professionellen Hilfen und sozialen Dienste zu geben, um damit einen Beitrag zum Ausbau einer präventionsorientierten sozialen Infrastruktur 103 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen für Kinder und Jugendliche zu leisten. Entsprechend wurde in allen drei Erhebungswellen nach der Nutzung von sozialen Angeboten anhand ausgewählter Indikatoren gefragt. Soziale Hilfen als Leistungen des Sozialstaats zur Existenzsicherung des Einzelnen bzw. der Familie umfassen materielle Hilfen durch Geld- oder Sachleistungen sowie Soziale Dienste in Form unterstützender Beratung, Begleitung sowie Förder- und Fürsorgemaßnahmen (u. a. Art. 1 GG; §§ 1 und 35 SGB VIII). Darauf bestehen je nach Einzelfallprüfung Rechtsansprüche. Des Weiteren werden sie von öffentlichen und/ oder freigemeinnützigen Trägern unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips realisiert. Die Trennung nach materiellen Hilfen und Sozialen Diensten erfolgt auch in der Studie, wobei hier Letztere im Zentrum stehen. Zunächst wird im Querschnitt (2009/ 10) die Nutzung sozialer Angebote insgesamt betrachtet und anschließend auf Jugendhilfeangebote fokussiert. Dem folgt die Darstellung der Nutzungsanalyse im Längsschnitt (1999 bis 2009/ 10). Nutzung jugend-, eltern- und familienbezogener Hilfen - 2009/ 10 Wer sind die NutzerInnen - Wer wird erreicht? In der aktuellen Befragung 2009/ 10 wurden Eltern und Jugendliche zur Nutzung von insgesamt 16 unterschiedlichen sozialen Hilfen innerhalb der letzten fünf Jahre befragt. Um deren jeweilige AdressatInnen zu erfassen, erfolgte eine inhaltliche Einteilung in Hilfen/ Dienste, die sich vorrangig an die Heranwachsenden selbst richten (jugendbezogen: Nachhilfe, Schulsozialarbeit, VertrauenslehrerInnen sowie Tages- und Wohngruppen), und Hilfen/ Dienste, die auf das gesamte Familiensystem respektive die Eltern ausgerichtet sind (eltern-/ familienbezogen: Familienbildung, Erziehungsberatung, Beratung durch das Jugendamt, Familienhilfe, Angebote des Jobcenters und Wiedereingliederungsmaßnahmen, Angebote für MigrantInnen, Paarberatung, Suchtberatung). Ob deren Inanspruchnahme von den Befragten selbst nachgefragt wurde oder ob die Initiative dabei von der öffentlichen Hand ausging, ließ sich mit dem Design der AWO-ISS-Studie nicht erheben und ist folglich nicht bekannt. Insgesamt nutzte im Jahr 2009/ 10 jede dritte Familie der AWO-ISS-Studie mindestens eines der abgefragten Angebote, aktuell oder in den letzten fünf Jahren fast drei Viertel der Familien. Jugendbezogene soziale Dienste wurden mit 58 % etwas häufiger genutzt als eltern- und familienbezogene Dienste mit 51 %. Auf den ersten Blick durchaus beachtliche Quoten. In der Nutzung der jugendbezogenen Angebote bestehen nur geringe Unterschiede nach Armut. Insgesamt gaben 55 % der armen und 59 % der nicht armen Jugendlichen an, aktuell oder in den letzten fünf Jahren einen jugendbezogenen Dienst in Anspruch genommen zu haben. Nachhilfe wird mit insgesamt 45 % am häufigsten genutzt, allerdings mehr von nicht Armen (47 % vs. arm = 38 %, vgl. Abb. 2). Die Quote von 38 % belegt, dass auch viele arme Eltern Geld für die außerschulische Lernförderung ihrer Kinder trotz wesentlich beschränkterer finanzieller Möglichkeiten investieren. Die Quoten zeigen zudem, wie sehr hierzulande bezahlte Nachhilfe bereits zur Schulausbildung gehört. Sie deutet ebenso an, wie wenig die geltende Regelung der Lernförderung im Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) den tatsächlichen Bedarfen gerecht wird. Beides ist kritisch zu hinterfragen und es sind andere Lösungen zu finden. Abbildung 2 skizziert zudem, Schulsozialarbeit als Teil der Jugendhilfe, aber auch der VertrauenslehrerInnen als Teil des Schulsystems erreichen armutsbetroffene junge Menschen besser, gleichwohl auf niedrigem Niveau. Während Erstere nur in ausgewählten Schulformen präsent und damit weniger genannt werden konn- 104 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen ten, sind Letztere Bestandteil des Schulsystems. Dafür sind die Nutzungsquoten niedrig, was erneut zum Nachdenken führen sollte. Die abgefragten eltern-/ familienbezogenen Dienste wurden insgesamt von armen Familien deutlich häufiger genutzt als von nicht armen (63 % vs. 48 %). Dabei beanspruchen arme Familien vor allem Hilfen, die auf eine Integration in Erwerbsarbeit oder direkt auf die finanzielle Situation abzielen, sowie sozialpädagogische Familienhilfe als Teil der Hilfen zur Erziehung nach dem SGB VIII (vgl. Abb. 3). Von armen und nicht armen Familien gleichermaßen werden Erziehungsberatungsangebote und Angebote zur Familienbildung genutzt. n = 403; arm: 102, nicht arm: 301 Abb. 2: Nutzung jugendbezogener Sozialer Dienste aktuell oder in den letzten fünf Jahren nach aktueller Armut - 2009/ 10 (Quelle: AWO-ISS-Kinderarmutspanel 2009/ 10, eigene Berechnung, vgl. Laubstein u. a. 2012, 219) *** p < 0,001 (signifikant auf dem 99,9 %-Niveau), ** p < 0,01 (99 %), * p < 0,05 (95 %), + p < 0,1 (90 %). Statistisches Maß: Chi²-Test. n = 415; arm: 108, nicht arm: 307 Abb. 3: Nutzung eltern-/ familienbezogener Sozialer Dienste aktuell und/ oder in den letzten fünf Jahren nach aktueller Armut - 2009/ 10 (Quelle: AWO-ISS-Kinderarmutspanel 2009/ 10, eigene Berechnung, vgl. Laubstein u. a. 2012, 220) 105 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Die häufigere Inanspruchnahme von Angeboten für MigrantInnen durch arme Familien ist nicht allein Folge des höheren Anteils armer MigrantInnen in der Stichprobe. Jede zehnte Familie mit Migrationshinweis nutzt dieses Angebot, wobei arme MigrantInnen dies mehr als dreimal so häufig angeben wie nicht arme: Immerhin jede sechste arme Familie mit Migrationshintergrund hat Zugang zu migrationsspezifischen Hilfen. Wie passgenau sind die Angebote im Hinblick auf die Zielgruppennutzung? Wenngleich Armut mit einem hohen Risiko für die Lebenslage der jungen Menschen einhergeht, muss das nicht zwangsläufig zu einer stark benachteiligten - multipel deprivierten - Lebenssituation führen. Diese tritt auch in besser situierten Familien auf. Das grundsätzlich höhere Risiko verbleibt jedoch bei Armut und ganz besonders bei Dauerarmut. Soll dem entgegengewirkt werden, ist öffentliches Engagement im Sinne einer aktiven und langjährig ausgerichteten Prävention zwingend erforderlich (vgl. u. a. Zander 2008; Bundesjugendkuratorium 2009; Lutz 2010). Sie muss von ihrem Selbstverständnis her die Kindperspektive ins Zentrum rücken und als Leitorientierung die Sicherung des Aufwachsens im Wohlergehen für alle Kinder verfolgen, dabei aber explizit den größeren Bedarfen armutsbetroffener bzw. sozial benachteiligter junger Menschen in vollem Umfang entsprechen (vgl. Holz 2010). Das ist der Gesamtauftrag der Jugendhilfe, wie er in § 1 SGB VIII verankert ist. Die Daten der AWO-ISS-Studie belegen, der Anteil der Jugendlichen und Familien, die Angebote nutzen, steigt mit ihrem Belastungsgrad leicht an: Familien mit einem Jugendlichen im Typ „Multiple Deprivation“ geben häufiger an, aktuell oder in den letzten fünf Jahren Hilfen genutzt zu haben, als die mit einem Jugendlichen im Typ „Wohlergehen“. Ebenfalls positiv ist, arme Familien mit einem im Wohlergehen aufgewachsenen 16bis 17-Jährigen nutzen häufiger soziale Dienste als nicht arme Familien mit einem jungen Menschen des gleichen Typs (35 % vs. 17 %). Verwunderlich ist aber, dass … ➤ die Familien von armen, multipel deprivierten 16bis 17-Jährigen seltener Angebote nutzen als nicht arme Familien mit einem multipel deprivierten Teenager (46 % vs. 54 %); ➤ die am stärksten belastete Gruppe der armen, multipel deprivierten Jugendlichen und ihre Familien weitaus häufiger gar keine Hilfen in Anspruch nehmen als nicht arme Familien mit einem multipel deprivierten jungen Menschen (21 % vs. 7 %). Ein Zwischenfazit: Es lässt sich ein Reaktionsmuster des sozialen Hilfesystems orientiert an den Bedarfslagen von Jugendlichen konstatieren, jedoch für arme eingeschränkt und das, obwohl gerade arme Familien aufgrund der teilweise verpflichtenden Maßnahmen zur Verbesserung der Erwerbssituation (SGB II) einen wesentlich häufigeren Kontakt zum Hilfesystem insgesamt haben. Die Schlussfolgerung daraus lautet: Hilfen kommen zu wenig und vor allem nicht zielgenau bei den Kindern bzw. Jugendlichen an. Liegt es daran, dass der Zusammenhang einer Bedürftigkeit von Eltern und Kindern zu wenig gesehen wird? Liegt es daran, dass keine Weitervermittlung von Hilfen durch die entsprechenden Stellen erfolgt? Liegt es daran, dass stets ein komplexer Hilfebedarf vorliegt, der ein komplexes ressorts-, institutions- und professionsübergreifendes Hilfeangebot erfordert, welches aufwendig ist, entsprechendes Knowhow, ausreichende Zeit-, Personal-, Geldressourcen und eine in sich schlüssige wie vernetzte Infrastruktur benötigt, das von der Erwerbsintegration über das Schulsystem bis hin zur Jugendhilfe reicht? 106 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Nutzung von Angeboten der Jugendhilfe - 2009/ 2010 Im nächsten Schritt wird nun der Blick auf die in der Studie erhobenen Angebote der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) gerichtet: Schulsozialarbeit, Eltern- und Familienbildung, Beratung des Jugendamtes, Erziehungsberatung, Familienhilfe, Tagesgruppe und Wohngruppe. Ausgehend von der Analyse der Nutzung aller Familien der aktuellen Erhebungswelle wird Schritt für Schritt weiter differenziert, nach Armut, nach Lebenslagetyp und schließlich bezogen auf die am stärksten belastete Gruppe „arm und multipel depriviert“. ➤ 35 % aller Familien nutz(t)en mindestens eines der oben genannten Angebote aktuell oder in den letzten fünf Jahren. ➤ Mit 22 % werden Beratungsangebote des Jugendamtes am häufigsten in Anspruch genommen, am seltensten die Tagesgruppe (4 %). ➤ Nutzungsunterschiede zwischen armen und nicht armen Familien sind gering (41 % vs. 35 %). ➤ Dagegen besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen Angebotsnutzung und Lebenslagetyp des Jugendlichen. Während 21 % im Typ „Wohlergehen“ mindestens ein Angebot nutzen, sind es 39 % im Typ „Benachteiligung“ und 49 % im Typ „Multiple Deprivation“. Das bedeutet, Jugendliche mit schwierigen Entwicklungsbedingungen werden durch die Jugendhilfe häufiger unterstützt. Gleichzeitig aber erhält über die Hälfte der Gruppe im Typ „Multiple Deprivation“ keine der genannten Unterstützungen. Die bivariate Analyse der NutzerInnen zeigt weitere Gruppen mit überdurchschnittlicher Inanspruchnahme: ➤ häufiger Deutsche als MigrantInnen (37 % vs. 29 %), ➤ häufiger Alleinerziehende/ Patchwork- Familien als Zwei-Eltern-Familien (53 % vs. 25 %), ➤ häufiger Jugendliche, die Förder- oder Hauptschulen besuch(t)en (55 % vs. 26 %), ➤ häufiger Jugendliche aus bildungsfernen Familien (50 % vs. 32 %). Auch bei Betrachtung einzelner Angebote finden sich erneut geringe Unterschiede nach Soziales Angebot Lebenslagetyp des Jugendlichen Wohlergehen Benachteiligung Multiple Deprivation Beratung des Jugendamtes 8 % 24 % 45 % Erziehungsberatung 7 % 20 % 28 % Familienhilfe 4 % 14 % 23 % Schulsozialarbeit 7 % 14 % 22 % Familienbildung 9 % 14 % 17 % Wohngruppe 2 % 6 % 9 % Tagesgruppe 4 % 3 % 6 % Tab. 2: Nutzung von Angeboten der Jugendhilfe aktuell oder in den letzten fünf Jahren nach Lebenslagetyp 2009/ 10 (in %) n = 449; Lesehilfe: Beratung durch das Jugendamt gaben 8 % der Familien mit einem Jugendlichen im Typ „Wohlergehen“, 24 % der mit einem Jugendlichen in „Benachteiligung“ und 45 % der Familien mit einem Jugendlichen des Typs „Multiple Deprivation“ an. (Quelle: AWO-ISS-Kinderarmutspanel 2009/ 10, eigene Berechnung) 107 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Armut. Die deutlichsten Differenzen bestehen in der Nutzung von Beratungen des Jugendamtes (30 % arm vs. 20 % nicht arm) sowie in der Inanspruchnahme von Angeboten der Familienhilfe (20 % arm vs. 10 % nicht arm). Wieder findet sich der engere Zusammenhang von Nutzung und Lebenslagetyp (vgl. Tab. 2). Familien mit einem Jugendlichen des Typs „Multiple Deprivation“ haben die aufgeführten Dienste aktuell oder in den letzten fünf Jahren häufiger genutzt, am häufigsten Beratungen durch das Jugendamt (Typ „Multiple Deprivation“ = 45 % vs. Typ „Wohlergehen“ = 8 %). Dieser Befund bestätigt, Jugendhilfe kommt in Familien mit vielen Problemen vermehrt zum Einsatz, aber die Anteile sind durchaus kritisch einzuschätzen. Spannend ist nun, welches Bild sich für die am höchsten belastete Jugendgruppe - arm und „multipel depriviert“ - ergibt: 35 % geben die Nutzung von jugendund/ oder familienbezogenen Hilfen an. Dagegen sind es 64 % der nicht Armen im gleichen Lebenslagetyp. Dieses Ergebnis muss die AkteurInnen der Jugendhilfe zum Nachdenken bringen. Durch eine logistische Regression wurde geprüft, ob die Effekte der bereits dargestellten Einflussfaktoren unabhängig voneinander bestehen bleiben oder ob die gefundenen Gruppenunterschiede in der Nutzung auf gleiche, dahinterliegende Faktoren zurückzuführen sind. Hier wird erkennbar, einen eigenständigen Einfluss haben lediglich ➤ der Lebenslagetyp. Dies lässt die Folgerung zu, dass ein erhöhter Hilfebedarf grundsätzlich erkannt wird; ➤ der Familientyp. Dies könnte beispielsweise daran liegen, dass infolge von Trennungen bzw. Unterhaltsangelegenheiten häufiger eine Jugendamtsberatung angefragt wird; ➤ der Besuch von Förder- oder Hauptschule. Dies könnte vor allem an der höheren Verfügbarkeit von Angeboten, wie z. B. Schulsozialarbeit, in diesen Schulformen liegen. Diese Verfügbarkeit begünstigt auch eine Weitervermittlung an andere Hilfen. Familiäre Armut dagegen trägt alleine unter Berücksichtigung dieser Faktoren nicht zur Erklärung der Nutzung von Jugendhilfeangeboten bei. Dies kann als Hinweis verstanden werden, dass nicht der für die kindliche Entwicklung große Risikofaktor „Armut“ Auslöser von Hilfen ist, sondern eher das zunehmende Eintreten individueller Beeinträchtigung und sichtbar werdender Auffälligkeiten beim Einzelnen infolge von (Dauer-)Armut. Aber auch dann hat die größte Risikogruppe, arme Jugendliche im Typ „Multiple Deprivation“, das Nachsehen. Ein Zwischenfazit: Die Daten der AWO-ISS- Studie weisen auf deutliche Nutzungsunterschiede hin und erfordern die Nachfrage, warum offenkundig unterschiedliche Bedarfe der Jugendlichen und ihrer Familien sich wohl in einem unterschiedlichen Nutzungsumfang wiederfinden, nicht aber zu - je nach Lebenslage - unterschiedlichen Mustern der Hilfeleistung führen? Nutzung von (Jugendhilfe-)Angeboten im Längsschnitt - 1999 bis 2009/ 10 Bereits in der ersten Erhebung der Studie 1999 wurde deutlich, dass der Zugang zu professioneller Unterstützung - auch über die Angebote der Jugendhilfe hinausgehend -, die in den Lebenslagetypen der Sechsjährigen sichtbar werdenden Bedarfe nicht abdeckt. Positiv ließ sich nachweisen, dass mit dem Grad der Beeinträchtigung und Belastung auch die professionelle Unterstützung angestiegen ist. Allerdings wurde dennoch die Hälfte bis zwei Drittel der Kinder, die unterstützungsbedürftig waren, im KiTa-Alter nicht erreicht. 108 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Arme KiTa-Kinder mit hohem Belastungsgrad erhielten häufiger professionelle Unterstützung als nicht arme Kinder in vergleichbarer Lebenslage. Drei Interpretationsmuster wurden dazu genannt: Anstoß der Hilfen von außen, weil Fachkräfte den Familien keine eigenen Ressourcen oder Problemlösungskompetenzen zutrauen, Anstoß von den Familien selbst, weil sie diese Einschätzung der Fachkräfte teilen, sowie der Versuch finanziell besser gestellter Familien aufgrund von Stigmatisierungsängsten die Probleme privat ohne Hilfe von außen zu lösen. Die Gewichtung dieser drei Faktoren bleibt auf Grundlage des Studiendesigns unklar (vgl. Hock u. a. 2000, 105). Im Hinblick auf belastete Kinder, die keine professionelle Unterstützung erhalten, zeigten die Auswertungen, dass diese über mehr eigene Ressourcen verfügten als die bereits unterstützten Familien. Hilfeangebote wurden also vor allem von Kindern mit Auffälligkeiten, deren Familien wenige finanzielle und/ oder soziale Ressourcen haben, in Anspruch genommen, also von der verwundbarsten Gruppe. Gleichwohl wurden auch von dieser besonders bedürftigen Gruppe nicht alle erreicht. Auch auf der Ebene der einzelnen Hilfen wurde eine nur geringe Passgenauigkeit zu den Problemen der Kinder festgestellt. So erhielt beispielsweise nur jedes sechste Kind mit sprachlichen Auffälligkeiten eine Sprachförderung (vgl. Hock/ Holz/ Wüstendörfer 2000, 109). In der Folgestudie am Ende der Grundschulzeit im Jahr 2003/ 04 lag die Inanspruchnahme von sozialen Diensten insgesamt bereits höher. Arme Familien und ihre Kinder nutzten häufiger die verschiedenen abgefragten professionellen Angebote, allerdings kamen der Mehrzahl der armen Familien diese Leistungen nicht zugute, obwohl der negative Zusammenhang zwischen Armut und Lebenslagetyp der Kinder nun weitaus deutlicher sichtbar wurde als noch vor dem Schulstart. Eine Verschiebung trat zudem zwischen der Hilfenutzung von armen zu nicht armen belasteten Kindern auf. Kinder im Lebenslagetyp „Multipler Deprivation“ wurden nur etwas besser erreicht, wenn sie in einer nicht armen Familie aufwuchsen. Im Längsschnitt zwischen 1999 und 2003/ 04 zeigte sich, dass die größte Zahl der Familien schon einmal auf Hilfen zurückgegriffen hat. Auch gibt eine hohe Anzahl eine erstmalige Nutzung von Hilfen im Jahr 2003/ 04 an. Zurückgeführt wurde dies auf die neu hinzugekommenen schulnahen Angebote wie Hausaufgabenhilfe und Schulsozialarbeit. Ein interessantes Ergebnis war zudem, dass vor allem nicht arme Familien im Jahr 2003/ 04 „EinsteigerInnen“ - also erstmals Dienste in Anspruch nahmen - waren, während die Zahl der„AussteigerInnen“ - also Familien, die nur 1999 Dienste nutzten - bei den armen Familien zunahm. Mit der Erhebung am Ende der Sekundarstufe I im Jahr 2009/ 10 wurde die Betrachtung der Nutzung von Jugendhilfeangeboten über drei Erhebungszeitpunkte möglich. Zunächst fällt auf, dass im KiTa-Alter die Hilfenutzung insgesamt am seltensten war (11 %), in der Grundschulzeit hingegen weit verbreitet (59 %). In der Sekundarstufe I nutzten noch gut ein Drittel der Familien die in der Studie erhobenen Angebote der Jugendhilfe (35 %). Bei Betrachtung der einzelnen abgefragten Hilfen/ Dienste wird anschaulich, dass diese Entwicklung auf die altersspezifischen Angebote zurückzuführen ist: Der Besuch eines Hortes sowie Hausaufgabenhilfe wurde von vielen Grundschulkindern genutzt. Der Hortbesuch war unabhängig vom damaligen Armutsstatus. Gleichermaßen verfügbare und weit verbreitete Angebote gab es in den anderen Altersphasen nicht (sieht man vom Besuch der KiTa ab, die bei allen befragten Familien gegeben war). Unterschiede im Nutzungsverhalten nach der finanziellen Familiensituation finden sich im KiTa-Alter. Hier werden Jugendhilfeangebote 109 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen vor allem von armen Familien in Anspruch genommen, während die Unterschiede in späteren Altersphasen nur noch gering sind. Der schon im Querschnitt herausgearbeitete Trend zur stärkeren Nutzung je nach Belastungsgrad und einem damit einhergehenden größeren Unterstützungsbedarf des jungen Menschen findet sich nun im gesamten Längsschnitt wieder. Allerdings wird auch deutlich, dass nur im Vorschulalter arme Kinder „in Not“, also in der Lebenslage „Multipler Deprivation“, häufiger erreicht wurden als nicht arme Kinder in dieser schlechten Lebenssituation. Das dreht sich ab der Schulzeit zugunsten nicht armer Familien um. Eine Erklärung kann sein, dass KiTas von ihrem Konzept und Selbstverständnis her leichter die gesamte Lebenslage des Kindes und damit auch eine mögliche Armutssituation der Familie erfassen. Ihnen eröffnen sich auf diese Weise viel mehr Chancen und Möglichkeiten, adäquate Hilfen einzubinden bzw. bedarfsorientiert an Dritte weiterzuvermitteln. Mit Schuleintritt vollzieht sich strukturell quasi ein Bruch mit einem in der Folge sich umkehrenden Prozess. Armutsprävention - An- und Herausforderung (nicht nur) für die Jugendhilfe Die bisherigen Ausführungen zeichnen ein ambivalentes Bild mit Licht, aber mehr noch mit (langem) Schatten. Unzweifelhaft bildet Armut einen entscheidenden Risikofaktor für das kindliche Aufwachsen. Die Folgen schlagen sich immer mehr und immer stärker in der Lebenslage, dem Entwicklungsverlauf und den weiteren Zukunftschancen des Kindes nieder, je länger es unter Armutsbedingungen aufwächst. Die sich verfestigenden Beeinträchtigungen hin zum Typ „Multiple Deprivation“ werden beim Einzelnen sichtbarer. Die Auswertungen zur Nutzung von sozialen und besonders von Jugendhilfeangeboten durch die Befragten weist auf Unterschiede - nur zum Teil mit eindeutigen Trends - hin. Ein Trend ist: die Hilfenutzung hatte immer weniger mit dem Risikofaktor Armut an sich zu tun, sondern steht in zunehmend engem Bezug zur wachsenden kindlichen Notlage. Anders formuliert, die Symptome und nicht der verursachende Risikofaktor werden zum Auslöser von Hilfen. Jungen Menschen im Lebendlagetyp„Multipler Deprivation“ kommen mehr soziale Angebote zugute als weniger belasteten. Aber je älter sie werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass, selbst bei der am höchsten belasteten Gruppe, die nicht armen Kinder eher in den Genuss der Hilfen kommen als die armen. Das deutet auf strukturelle Mängel im System hin, die sowohl im Umfang als auch der Qualität des Hilfeangebotes liegen. Über all die Jahre weist die Studie auf ein nicht ausreichendes Angebot, also fehlende Infrastruktur für Kinder und Jugendliche, hin, die vor allem benachteiligten Gruppen zum Nachteil gereicht. Im Zugang zu knappen Gütern sind vorrangig sie es, die in der Reihe hinten anstehen (müssen). Gleichzeitig wird aber auch in der Qualität eine unterschiedliche - eigentlich wenig entwickelte - Armutssensibilität erkennbar, seitens der Fachkräfte, in den Konzepten, über die Gestaltung des Zugangs zum Hilfesystem und fehlender vernetzter Fördersettings. Ausgeprägt sind Wissen und Maßnahmen tertiärer Prävention als Intervention und brüchig ist das Wissen und die Umsetzung primärer Prävention als verlässliche auf Förderung und Unterstützung basierende Begleitung in Kindheit und Jugend. Angesichts der Bedeutung von Bildung und sozialer Inklusion kommt hier neben den Bildungseinrichtungen (von der Krippe, über KiTa und Schulen bis zum Ausbildungsbetrieb) der 110 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Jugendhilfe mit ihrem ausdrücklichen Förder-, Schutz- und Interessensvertretungsauftrag eine ganz besondere Verantwortung zu. Die Anforderung an diese lassen sich aus den zuvor skizzierten Erkenntnissen klar erkennen: Benötigt ist ein am Risikofaktor Armut ansetzendes Wirken. Übersetzt heißt das, mehr Armutssensibilität in der und eine strukturell verankerte kindbezogene Armutsprävention durch die Jugendhilfe. Kindebezogene Armutsprävention bedeutet aktives Handeln zur Vermeidung und mindestens Begrenzung kindlicher Armutsfolgen. Zander hat dazu die Eckpunkte im Sinne einer primären, sekundären und tertiären Armutsprävention gesetzt (vgl. Zander 2008, 128f ). Holz (2010) und Richter-Kornweitz (2010) haben eine Verknüpfung von verhaltens- und verhältnisbezogenen Präventionsbereichen zu einem kindbezogenen Armutspräventionsansatz vorgenommen und dazu Leitsätze, Zielsetzungen, Ebenen und Elemente zur Umsetzung benannt. Darauf gegründet finden sich erste kommunale Handlungskonzepte und Umsetzungsstrategien, Mo.Ki - Monheim für Kinder (www.monheim.de/ kinder-und-familie/ moki-monheimfuer-kinder/ ) ist das bundesweit bekannteste und Vorreiter für eine systematische Verknüpfung kommunaler Infrastruktur in Form von Präventionsketten auf der Grundlage von Unterstützungsnetzwerken (Landesjugendamt Rheinland 2012). Wie und wo verortet sich innerhalb dessen die Jugendhilfe? In Monheim am Rhein ist sie die treibende Kraft, wobei sie gleichzeitig einen Zwang zur Neuorientierung und Neuausrichtung erlebt. Armutsprävention baut auf Frühe Förderung und soziale Inklusion von Anfang an, nimmt Kinder wie Eltern als Familiensystem und jeweils mit den ganz eigenen kind- und erwachsenenspezifischen Bedarfen in den Blick. Sie nimmt die Einrichtungen und ihre Fachkräfte in die Pflicht, dort wo die Kinder und Jugendlichen sind. Sie haben Unterstützungsnetzwerke zu schaffen und gemeinsam an der Präventionsaufgabe zu arbeiten. Diese lautet: allen Kindern ein Aufwachsen im Wohlergehen zu ermöglichen. Sie setzt auf eine Sozialraumorientierung und leistet die erforderlichen individuellen Hilfen (insbesondere die Hilfen zur Erziehung), denn sie bedingen sich gegenseitig und beides wird gleichermaßen benötigt. Armutsprävention umfasst konkrete Hilfen und ein politisches Handeln, die erforderlichen Rahmenbedingungen entsprechend zu schaffen. Dazu sind u. a. fachpolitische Diskurse zu führen, damit der Präventionsauftrag eine größere Gewichtung im Kinder- und Jugendhilferecht erhält. Es sind aber genauso politische Entscheidungen zu treffen, die Ungleichheit durch ungleiche Ressourcenverteilung zugunsten von benachteiligten/ armen Familien mit jungen Menschen entgegenwirken. Gerda Holz Claudia Laubstein Evelyn Sthamer Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. Zeilweg 42 60439 Frankfurt a. M. gerda.holz@iss-ffm.de claudia.laubstein@iss-ffm.de evelyn.Sthamer@iss-ffm.de 111 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Literatur Bundesjugendkuratorium, 2009: Kinderarmut in Deutschland. Eine drängende Handlungsaufforderung an die Politik. Berlin Hock, B./ Holz, G./ Wüstendörfer, W., 2000: Frühe Folgen - langfristige Konsequenzen? Armut und Benachteiligung im Vorschulalter. Frankfurt a. M. Holz, G., 2010: Kindbezogene Armutsprävention als struktureller Präventionsansatz. In: Holz, G./ Richter- Kornweitz, A. (Hrsg.): Kinderarmut und ihre Folgen. Wie kann Prävention gelingen? München, S. 109 - 125 Holz, G./ Skoluda, S., 2003: Armut im frühen Grundschulalter. Vertiefende Untersuchung zu Lebenssituation, Ressourcen und Bewältigungshandeln von Kindern. Frankfurt a. M. Holz, G./ Richter-Kornweitz, A./ Wüstendörfer, W./ Giering, D., 2006: Zukunftschancen für Kinder! ? - Wirkung von Armut bis zum Ende der Grundschulzeit. Frankfurt a. M. Laubstein, C./ Holz, G./ Dittmann, J./ Sthamer, E., 2012 a: Lebenslagen und Zukunftschancen von (armen) Kindern und Jugendlichen in Deutschland. 15 Jahre AWO-ISS-Studie. Frankfurt a. M. Laubstein, C./ Holz, G./ Dittmann, J./ Sthamer, E., 2012 b: „Von alleine wächst sich nichts aus …“. Abschlussbericht der 4. Phase der Langzeitstudie im Auftrag des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt. Frankfurt a. M. Lutz, R./ Hammer, V. (Hrsg.), 2010: Wege aus der Kinderarmut. Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen und sozialpädagogische Handlungsansätze. Weinheim Landesjugendamt Rheinland (Hrsg.), 2012: Kommunale Initiativen und Netzwerke zur Vermeidung der Folgen von Kinderarmut. Köln Richter-Kornweitz, A., 2010: Resilienz und Armutsprävention. In: Holz, G./ Richter-Kornweitz, A. (Hrsg.): Kinderarmut und ihre Folgen. Wie kann Prävention gelingen? München, S. 94 - 108 Zander, M., 2008: Armes Kind - starkes Kind? Die Chance der Resilienz. Wiesbaden 2010. 183 Seiten. 12 Abb. 23 Tab. ( 978-3-497-02170-3) kt Chancen für Kinder in Armut Kinder, die in Armut aufwachsen, sind besonderen Risiken hinsichtlich Gesundheit, Bildung und sozialer Integration ausgesetzt. Ein effektives Präventionskonzept erfordert genaue Kenntnis darüber, wie Armut wirkt und in welchen Entwicklungs- und Lebensbereichen sie Spuren hinterlässt. Es beinhaltet umfassende Möglichkeiten der Betreuung, Erziehung und Bildung mit dem Ziel der Stärkung von kindlichen Potenzialen. Dieses Buch enthält praktische Konzepte für eine Armutsprävention auf der individuellen und strukturellen Ebene für Praktiker in der Sozialen Arbeit wie auch für Politiker auf kommunaler Ebene. a www.reinhardt-verlag.de