eJournals unsere jugend 65/3

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2013
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Kinderarmut und Quartiersbezogene Hilfen

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2013
Ronald Lutz
Auf der Basis von Bausteinen, die in der letzten Zeit entwickelt wurden und die in Überlegungen einer Integrierten Sozialraumplanung eingingen, soll ein quartierbezogenes Modell vorgestellt werden, das die Folgen von familiärer Armut bereits ab dem Kleinkindalter präventiv bearbeiten will
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112 unsere jugend, 65. Jg., S. 112 - 122 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art11d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kinderarmut und Quartiersbezogene Hilfen Auf der Basis von Bausteinen, die in der letzten Zeit entwickelt wurden und die in Überlegungen einer Integrierten Sozialraumplanung eingingen, soll ein quartierbezogenes Modell vorgestellt werden, das die Folgen von familiärer Armut bereits ab dem Kleinkindalter präventiv bearbeiten will. von Prof. Dr. Ronald Lutz Professor an der Fachhochschule Erfurt, Arbeitsschwerpunkte: Besondere Lebenslagen, Stadt und Raum, internationale Beziehungen Die zentrale Argumentationslinie dabei ist, dass über eine sinnvolle und nachhaltige Vernetzung im Sozialen Raum, in dem Quartier und somit der Lebenswelt von benachteiligten und armen Kindern sowie Jugendlichen vorhandene Maßnahmen koordiniert und neue entwickelt werden können, um Heranwachsenden jene Chancen auf Förderung zu bieten, die durch die Benachteiligung und die Lebenssituation ihrer Herkunftsfamilien eingeschränkt sind. Zweifelsohne ist diese eher sozialarbeiterische und sozialplanerische Strategie kein Ersatz für die sozialstaatliche Bekämpfung materieller Armut, die sich derzeit in unzureichenden Transferleistungen zeigt, die nicht den Bedarf, vor allem nicht den Bedarf von Kindern abdecken. Klar ist deshalb: Erst durch Armut entstehen jene sozialen Folgen, die für Kinder und Jugendliche in armen Familien vielfältig nachgewiesen wurden. Sozialpolitisch notwendige Schritte sehe ich deshalb, neben Programmen, die Beschäftigung und Einkommen generieren, vor allem in bedarfsgerechten Transferleistungen, insbesondere einer Kindergrundsicherung. Diese müssen mit der Einführung von Mindestlöhnen einhergehen, um so die Einkommen unterer Lohngruppen auch weiterhin deutlich über der Höhe von Transferleistungen anzusiedeln. Dennoch sind sozialarbeiterische Maßnahmen zur Abmilderung der Folgen von Familienarmut erforderlich. In dieser These liegt die Intention, Hilfen so zu organisieren, dass sie den Betroffenen zugute kommen - und diese Hilfen gehen weit über materielle hinaus, es sind vor allem auch personenbezogene, soziale und kulturelle, es sind direkte Hilfen, die durch aufsuchende Hilfen in Familien, in Kinder- und Jugendeinrichtungen und im Sozialen Raum angeboten und organisiert werden müssen. Das aber beinhaltet, neben einer notwendigen Verbesserung der materiellen Lage, die Konzentration auf direkte Hilfen, die an Betroffene gehen, deren Situation verbessern und ihnen Optionen bieten. 113 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Verfestigung von Kreisläufen der Armut Die Armut von Familien, die auf Kinder und Jugendliche hereinbricht, hat inzwischen viele Facetten, die hier nicht in allen Details diskutiert werden können. Sie erschwert und verhindert vor allem soziale, kulturelle und individuelle Entwicklungschancen. Da sie oft bereits in der frühesten Kindheit ansetzt, prägt sie so manches Kinderleben über einen sehr langen Zeitraum bis in die Jugendphase hinein. Benachteiligung wird verfestigt und schränkt in einem eher negativen Sinne Kinder und Jugendliche nachhaltig in ihren Verwirklichungschancen ein. Es ist mittlerweile ein fataler Kreislauf der Armut erkennbar, eine Kultur der Armut, die zu einem dauerhaften Ausschluss aus der Gesellschaft führen kann. Dies zeigt sich, betrachtet man die einschlägige soziologische Literatur, in vielerlei Tendenzen: ➤ in einem Auseinanderfallen von Milieus, das sich sowohl räumlich als auch kulturell zeigt, ➤ in einer neuen Form der Segregation, die zu immer stärker eingeschränkten Beziehungen zwischen den mittleren und den unteren Klassen führt, ➤ in einer massiven und auch direkten Abgrenzung der Mittelschichten nach unten, die sich, bezogen auf Kinder, in Rede- und Berührungsverboten zeigt („Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“), ➤ in einer Spaltung der Elternwelt in aktive und überforderte Eltern, ➤ in einer Überforderung von Eltern, ➤ in einer Zunahme an Berichten über Mobbing gegen arme Kinder. Empirisch betrachtet stiegen die Zahlen armer Kinder seit 2000 kontinuierlich, in letzter Zeit waren sie stabil bis sinkend. Noch immer sind aber ca. 15 % der Kinder unter 15 Jahren im SGB II-Bezug, die Zahl der Jugendlichen in Armut liegt zudem seit Jahren über diesem Wert. In manchen Regionen sind es fast 30 %. Familiäre Armut und die daraus resultierenden sozialen Benachteiligungen für Kinder und Jugendliche lassen sich vor allem mit ökonomischen Faktoren erklären, zu denen wesentlich Krisen und Entwicklungen am Arbeitsmarkt zählen, die zu Arbeitsplatzverlusten, zu Arbeitslosigkeit, zu Langzeitarbeitslosigkeit, zur Abhängigkeit von Transferleistungen, aber auch vermehrt zu Niedriglöhnen und zu nicht ausreichendem Einkommen führen. Neben diesen Faktoren sind es auch immer wieder familiäre Faktoren wie Familienstrukturen und Familienkrisen, die ökonomische Krisen verstärken bzw. daraus resultieren und die Situation noch prekärer werden lassen. Auch spielen Migrationshintergründe eine große Rolle. Hervorzuheben sind zudem sozialräumliche Kontexte, immerhin steigen Armutsrisiken mit der Wohnortgröße, sie kumulieren in benachteiligten Stadtgebieten (Segregationsprozesse); es entstehen regelrecht Armutsinseln in Städten. Wir müssen uns vom engen Blick auf Armut lösen, der durch Armutsgrenzen, Berichte und öffentliche Debatten erzeugt wird. Nicht erst beim Vorliegen statistischer Armut beginnen die Probleme virulent zu werden. Ein Blick auf die empirische Realität zeigt nämlich, dass auch Familien, die sich oberhalb dieser Grenzen befinden, ähnlich gelagerte Probleme haben wie Familien, die darunter liegen. Es ist evident, dass die soziale Spaltung in der Gesellschaft wächst. Das aber bedeutet in der Schlussfolgerung, dass die Analyse den Blick nicht nur auf das Armutssegment richten darf. Es geht eben nicht mehr nur um Armut; es geht vielmehr um die Verstetigung prekärer Lagen, die sich oberhalb und unterhalb der statistisch definierten Armut befinden. Die Zunahme an Niedriglöhnen kann als ein Beleg dafür gelten. Wir erkennen eine Zunahme von Marginalisierung, räumlicher Segregation und einer dauerhaften Ausgrenzung eines stetig wachsenden Segmentes der Bevölkerung. 114 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Es formieren sich geschlossene Bildungskreisläufe, die zu einer Ungleichverteilung von Bildungschancen analog zur sozialen Schichtung führen. Das aber intensiviert die Tradierung von eher passiven Armutsbewältigungsmustern in der eigenen sozialen Lebenslage. Wir müssen deshalb von sich verfestigenden Kreisläufen der Armut ausgehen, in denen die ältere Generation bereits die nächste Generation der Armen enkulturiert. Dies geht mit einem„Wissen“ über die eigene Chancenlosigkeit einher. Wir stellen aber auch eine fehlende Armutssensibilität in der Öffentlichkeit in vielen Einrichtungen der Kinderbetreuung und des Bildungssystems fest, dies wiederum stigmatisiert und grenzt noch stärker aus. Insofern müssen wir von der Existenz einer breiten sozialen Unterschicht (einer Unterklasse) ausgehen, die mittlerweile auch als Prekariat bezeichnet wird und die sich aus mehreren Gruppen Armer und Benachteiligter zusammensetzt. In diesem Prekariat beobachten wir eine Wiederkehr sozialer Unsicherheit und eine Auflösung sozialer Solidarität. So sind auch mittlerweile in den Mittelschichten Erosionen erkennbar, die Ängste vor Statusverlust wachsen - dies würde auch die oben diskutierten Abgrenzungsversuche nach unten erklären. Dieses Prekariat ist immer mehr ein Ort sozialer Aussichtlosigkeit und sozialer Abstiegsängste. Erschöpfte Familien Die geschilderten sozialen und ökonomischen Hintergründe sollen durch meine These der„erschöpften Familie“ ergänzt werden. Gerade diese Familien sehe ich als einen wesentlichen Ansatzpunkt sozialraumbezogener Maßnahmen zur Bekämpfung der Armutsfolgen für Kinder an. Getragen wird diese Überlegung vom vielfältig belegten Wissen, dass Familien im Kontext sozialer Benachteiligung über unterschiedliche Ressourcen und Bewältigungsmuster verfügen. Abhängig von einem in der Literatur so bezeichneten positiven und negativen Familienklima sind Familien in unterschiedlicher Weise fähig, ihre Situation zu gestalten und die Kinder trotz Benachteiligung im Sinne einer Förderung von Resilienz stark zu machen, um trotz schlechter Ausgangsbedingungen dennoch am Chancenreichtum der Gesellschaft zu partizipieren. Das heißt aber nicht, dass einzig die Familien daran schuld sind, ob Armut und Benachteiligung Folgen haben oder nicht. Zum einen kann man ihre Armut nicht als individuelle Schuld zuweisen, diese ist vor allem ökonomisch und gesellschaftlich bedingt; zum anderen ist das Familienklima auch abhängig von Bedingungen wie Bildung und soziale Netzwerke, die ebenfalls jenseits der einzelnen Verantwortlichkeit ungleich verteilt sind. Wenn dieses Familienklima eher zum negativen tendiert, dann häufen sich allerdings die Folgen für Kinder sowie Jugendliche und minimieren deren Chancen zusätzlich. In dieses „Segment“ ordne ich die von mir als erschöpft bezeichneten Familien ein. Es sind vor allem Familien, bei denen sich Armut verfestigt und diese auf Dauer in prekären Lagen festschreibt. Insbesondere wächst hier auch die Tendenz, Armut als Lebenslage an die nächste Generation weiter zu tradieren. Gerade erschöpfte Familien benötigen neben materiellen Hilfen eine intensive Unterstützung in ihrem Alltag, da gerade hier die Chancen vor allem der Kinder erheblich eingeschränkt sind. Hier ist neben einer direkten familiären Unterstützung, neben direkten Hilfen an Kinder insbesondere die öffentliche Erziehung und die kommunale Sozialpolitik gefordert. Wenn Belastungen steigen, dann reagieren Eltern mit Erschöpfung, Apathie und Resignation. Sie können kaum noch fürsorgliche Beziehungen entwickeln und sind nur bedingt in der Lage, Verantwortung zu übernehmen. Distanz und Teilnahmslosigkeit gegenüber Kindern sind die Folgen, aber häufig auch aggressive 115 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Auseinandersetzungen in der Familie. Unberechenbare Erziehungsstile und häufiger Kontrollverlust gehören zum Alltag. Die Folgen dieser elterlichen Überforderung sind vielfältig: ➤ Vernachlässigungen und Beeinträchtigungen der körperlichen, gesundheitlichen, psychischen, kognitiven, schulischen, sozialen und emotionalen Entwicklung der Kinder, ➤ Auffälligkeiten im Verhalten wie Ängste, Depression, Rückzug, Selbstwertprobleme, Aggressivität, Unruhe, Konzentrationsstörungen, Dauerinfektionen, chronische Erkrankungen, Mangelerkrankungen und frühe Suchterkrankungen. Es sind Familien, die schon lange alleingelassen wurden, obwohl sie einen hohen Unterstützungsbedarf hatten. Und es sind Eltern, die selber Leid erfuhren und die zudem schon lange in Armut leben. Diesen Entmutigten fehlen Netzwerke, sie hatten kaum Unterstützung bei der Bewältigung von Krisen, sie verfügen über kein Brückenkapital, das Beziehungen über ihre eigene soziale Lage hinaus organisiert - Beziehungen, die wichtig sind, um Unterstützung und Förderung zu erhalten. In diesen Familien verfestigen und tradieren sich schließlich fatale Muster, wie man sich in Armut und Benachteiligung einrichten kann. Letztlich sind es vielfältige Überforderungen, die kumulieren und über ständige Entmutigungen schließlich zur Erschöpfung führen, die allerdings bei einer frühzeitigen und dauerhaften Unterstützung nicht eingetreten wäre. Erschöpfung und daraus resultierende Vernachlässigung entstehen erst durch eine permanente Überlastung und durch Probleme, die Mütter und Väter nicht mehr aus eigener Kraft bewältigen können. Je mehr Belastungen, desto stärker die Kumulationen der Überforderung, desto größer die Risiken für Kinder, lautet die erklärende Formel für diesen Prozess. Vor diesem Hintergrund sind frühe und direkte Hilfen, die in Sozialräumen als aufsuchende, als strukturelle und als vernetzte zu verorten sind, ein Lösungsansatz, den ich hier vorstelle. Dieser orientiert sich an den Forschungen zur Resilienz, die hier nicht vorgestellt werden können. Deren Ergebnisse zeigen aber, dass sozialräumlich orientierte Maßnahmen Unterstützung für Familien, aber auch direkte Hilfen für Kinder und Jugendliche organisieren können, die Betroffene stärken und jenes erreichen, was in Familien mit einem eher positiven Familienklima wahrscheinlicher ist: Bewältigungsmuster, die vor allem die Chancen der Kinder erhöhen und Armutsfolgen abschwächen. Allerdings ersetzen diese Maßnahmen nicht die sozialstaatliche Verpflichtung, allen Familien Zugänge zu einem adäquaten Einkommen und den Bedarf deckenden Transferleistungen sicherzustellen. Bedeutsamkeit Früher Hilfen Frühe Hilfen sind als ein an allen Dimensionen der Lebenslage ansetzendes Unterstützungssystem zu entwerfen, das zum einen die Erziehungs-, Haushalts- und Alltagskompetenzen der Familien stärkt und das zum anderen aber auch direkte Hilfen an Kinder und Jugendliche heranträgt, um diese jenseits ihrer Familienverbände in Einrichtungen der öffentlichen Erziehung zu stärken. Letztlich geht es um die Ausweitung gesundheitsbezogener Früher Hilfen und um Präventivmaßnahmen hinsichtlich der Folgen familiärer Armut. Dies aber macht nur in einer engen Vernetzung mit weiteren sozialräumlichen Maßnahmen Sinn, organisiert und verbunden durch Präventions- und Reaktionsketten, die an Familienzentren angeschlossen sind bzw. von dort ausgehen können. Diese Frühen Hilfen sind sowohl im familiären Kontext als aufsuchende Hilfe, aber auch als infrastrukturelle Angebote im Sozialen Raum zu konzipieren. Dabei sollten insbesondere Kindertageseinrichtungen, die zu Familienzentren umgewandelt werden können, 116 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Ausgangspunkt und Zentren des Unterstützungssystems sein. Hierfür müssen sie sich den Lebenswelten und den Infrastrukturen in ihrem Umfeld öffnen und mit jenen kooperieren, die Angebote für Kinder und Familien machen. Frühe Hilfen in einer derart erweiterten und sozialräumlich verankerten Fassung sind sowohl eine Antwort auf die Herausforderung familiärer Armut schon im Säuglingsalter als auch eine Unterstützung von Kindern im Aufwachsen. Vor diesem Hintergrund lassen sich zunächst die Ziele umreißen. Es geht um: ➤ Erziehungs- und Sozialisationshilfen für Familien, die Kindern zugute kommen, ➤ Alltagshilfen, die zum Aufbau und zur Stärkung von Kompetenzen beitragen, die sich gegen Erschöpfung wenden, ➤ Beiträge zur Entwicklung und Förderung eines positiven Familienklimas trotz benachteiligender Lebenslagen, ➤ Maßnahmen zum Aufbau förderlicher Bedingungen für Kinder, ➤ Hilfen, die zur Stärkung der Kinder in ihrem Umfeld beitragen, ➤ Wegweiser und Begleiter, die Familien Zugänge zu Sozialen Diensten öffnen. In ihrem Kern beabsichtigen Frühe Hilfen eine Stärkung des familiären Bewältigungsklimas. Dabei sind sie vor allem auf die Entwicklungschancen fokussiert. Sie unterstützen Familien, um Kinder stark zu machen und um deren Persönlichkeitsentwicklung zu fördern, damit diese trotz hoher Belastungen Chancen erhalten. Dabei sollen die Kreisläufe der Armut früh unterbrochen und Zugänge zu Bildung und zum Sozialraum geöffnet werden. Aus vielen Studien wissen wir, dass die Betreuung und die Förderung in den ersten Lebensjahren speziell bei Kindern aus armen und sozial benachteiligten Familien eine schützende und förderliche Wirkung zugleich entfalten. Dabei müssen sie früh ansetzen: Eltern sind im Zeitraum um die Geburt besonders gut ansprechbar, in dieser Phase sind sie aufgeschlossen für Hilfe und Beratung. Deshalb müssen schon hier Zugänge gelegt werden - über Kinderärzte, Geburtsvorbereitung und Familienhebammen. Es geht damit um eine integrierte und koordinierte Unterstützung von (erschöpften) Familien, die in der Schwangerschaft beginnt, die Geburtsphase begleitet und als aufsuchende und begleitende Hilfen im familiären Alltag fortgesetzt wird. Ziel ist dabei immer die Unterstützung der Eltern, damit die Kinder stark werden. Diese Hilfen sollten tendenziell anstreben, die Eltern zu befähigen, dies ohne Hilfe zu leisten. Der frühe Beginn und die Kontinuität sind besonders wichtig, da viele Kinder derzeit erst erreicht werden, wenn sie in die Kindereinrichtungen kommen. Das kann aber schon zu spät sein, zumindest erschwert es die Zugänge zu den Eltern. Die Reichweite und die Qualität einzelner und familienbezogener Maßnahmen hängen allerdings auch vom Grad ihrer Einbindung in lokale Kooperationsnetzwerke ab. Frühe Hilfen in der hier vorgeschlagenen Erweiterung sind eine Querschnittsaufgabe, die eine sozialräumliche Verankerung benötigen. Die wichtigen Fragen dabei sind: Wie kann man die Eltern erreichen? Wie finden sich Zugänge zu belasteten und vor allem erschöpften Familien? Wie transportiert man Angebote zu den Eltern, die im Fokus stehen? Es gibt sicherlich keinen Königsweg. Klar ist zunächst aber, dass Benachteiligung nicht auch Interesselosigkeit meint. Oft sind es Ängste, eigene negative Erlebnisse, Erschöpfung und auch Entmutigung, die dem entgegenstehen. Wenn die AdressatInnen notwendiger Hilfe nicht kommen, dann sind diese so zu organisieren, dass sie zu den Eltern gebracht werden und ihnen Erleichterungen im Alltag bringen. Wenn diese dann nicht als Kontrolle und Sanktion begriffen werden, sondern als Unterstützung, die den eigenen Alltag erleichtert, dann 117 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen werden diese Angebote auch angenommen. Im Grunde müssen die Maßnahmen Beratung und Bildung zugleich sein, die als Unterstützung und Förderung einen Gewinn im Alltag darstellen. Sie müssen Lösungen bieten und sich nicht als Problem und Stigma entwerfen. Deshalb muss die Hilfe eine weit gefasste Unterstützung im Alltag sein, die sich nicht auf einige Details begrenzt. Sie umfasst dann aber finanzielle, soziale und emotionale Hilfen, eben eine Stärkung der Alltags-, Wirtschafts-, Erziehungs- und Haushaltskompetenz, aber auch Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge. Aus vielfältigen Studien und Berichten lassen sich wesentliche Kriterien des Erfolgs benennen: ➤ Das Entscheidende ist ein früher Zugang, der mitunter schon in der Geburtsvorbereitung beginnen und von Familienhebammen, auch in Abstimmung mit dem Jugendamt und dem Netzwerk, in dem die aufsuchende Arbeit stattfindet, geleistet werden kann. ➤ Die aufsuchende Hilfe muss intensiv, mehrmals wöchentlich, kontinuierlich und mitunter auch über mehrere Jahre erfolgen. Dabei kann sie auch dazu beitragen, Übergänge in Kindereinrichtungen und Schulen zu begleiten. ➤ Es ist immer die Individualität der Familien zu berücksichtigen, dabei spielt der Einbezug von Eltern und Kindern eine zentrale Rolle; ein partnerschaftliches Arbeitsverhältnis ist notwendig, wenig hilfreich sind Distanz und Typisierung. ➤ Wesentlich sind Akzeptanz und Vertrauen, die sich zwischen aufsuchender Hilfe und der Familie bilden müssen. Deshalb kann dies nicht als Kontrolle und Zwang entworfen sein, es darf keine Durchsetzung hoheitlicher Maßnahmen sein (obwohl diese bei Kindeswohlgefährdung nicht auszuschließen sind). ➤ Es ist eine „Führung und Begleitung“ durch das Soziale Hilfesystem erforderlich: ein Case Management, das mögliche Hilfen und Unterstützung im Sozialen Raum aufzeigt sowie die Wege zu diesen. Über eine Begleitung kann ein Aufschluss von Hilfen vielfältiger Art erfolgen, der immer mehr auch selbst organisiert geleistet werden kann. ➤ Frühe Hilfen dürfen nicht als ein Kontroll- und Zwangsystem den Eltern gegenüber treten, sie dürfen nicht stigmatisieren oder fürsorglich belagern, eben keine verordnete Fürsorge sein. Sie müssen vielmehr freiwillig und optional sein und dabei an den Ressourcen und Stärken ansetzen, um Schwächen allmählich abzubauen. Nicht Sanktionen, sondern Informationen, Beratung und Unterstützung führen zu einer Stärkung des Alltagslebens. Die entscheidende Komponente ist aber, dass diese Frühen Hilfen Teil eines Netzwerkes, einer Präventions- und Reaktionskette, sind. Armut, Benachteiligung und Erschöpfung können nicht nur aus einem einzigen Blickwinkel betrachtet und angegangen werden, sie durchziehen das alltägliche Handeln, die Lebenslage. Dies aber macht eine überbehördliche und interdisziplinäre Zusammenarbeit in Regionen, in Sozialräumen und in Lebenswelten jenseits der Fachdisziplinen notwendig. Es müssen Bündnisse, Netzwerke, Präventions- und Reaktionsketten sowie Kooperationen begründet, gefördert und entwickelt werden. Hierzu können vorhandene Ressourcen genutzt werden, allerdings muss einiges zugespitzt und vernetzt werden. Vernetzung und Integrative Sozialraumplanung Kommunale Sozialarbeit ist konditional programmiert. Gewachsen durch eine „Addition von Fachgesetzen“ hat sie sich in mitunter stark voneinander geschiedene Bereiche (Segmente, Säulen) gegliedert (Jugendamt, Sozialamt, Gesundheitsamt etc.), die jeweils individuelle Leis- 118 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen tungsansprüche festlegen und nicht per se sozialräumlich denken und agieren. Hier hat es zwar seit einiger Zeit Aufbrüche gegeben, die sogenannte Wende vom Fall zum Feld, der Stadtteilbezug Sozialer Arbeit hat den Status des Exotischen verlassen. Dennoch sind in Sozialplanung und Sozialarbeit noch immer vielfach „isolierte Fälle“ der Anlass für Hilfe und es wird zumeist auf „Defizite“ reagiert. Sozial-, Gesundheits-, Senioren- oder Jugendhilfeplanung, die sich eigentlich auf Räume beziehen, sind zudem vielfach nicht vernetzt bzw. denken nicht wirklich räumlich - in den seltensten Fällen wollen sie Räume (Lebenslagen) für Menschen und für deren Unterstützung im Krisenfall gestalten und entwickeln. Notwendig ist eine Integrative Sozialraumplanung, die Planung als eine aktive Gestaltung von Lebenswelten und Sozialräumen versteht und zu einer abgestimmten und integrativen Steuerung von Maßnahmen in Räumen führt. Ihre Eigenständigkeit behaltend, sollen Einzelplanungen zukünftig nur noch mit dem Blick auf andere Planungen agieren. Diese Integrative Sozialraumplanung will die Planung und die Steuerung von Maßnahmen und Prozessen in Sozialräumen (Gemeinwesen) mit den Erbringungsinstanzen, der Politik, den AkteurInnen und den Menschen im Sozialraum entwickeln. Diese Planungsprozesse vernetzen alle AkteurInnen in den Sozialräumen und stellen Netzwerke her, die als Basis von Präventions- und Reaktionsketten zu sehen sind. Eine Integrative Sozialraumplanung bedarf eines gemeinwesenorientierten Ansatzes und der Vernetzung im Gemeinwesen. Sie ruht auf der Aktivierung von Ressourcen und der Moderation der Kommunikationsprozesse. Regelmäßige Vernetzungsebenen sind darin Sozialraum- oder Stadtteilkonferenzen (Runde Tische) auf der untersten Ebene, die alle relevanten AkteurInnen zusammenbinden. In einer übergeordneten Ebene wären dies Planungskonferenzen, in denen Politik und Verwaltung mit den Diskursen der Sozialraumkonferenzen konfrontiert werden und sich damit auseinandersetzen. Als ModeratorInnen und KoordinatorInnen für die Vermittlung der Ebenen kämen PlanungsraummanagerInnen zum Zug, deren Tätigkeitsbeschreibung sich an das Wirken des Quartiersmanagements in der Sozialen Stadt anlehnt. In diesen Netzwerken wird ein Wissen über Probleme, über notwendige Maßnahmen und über deren Wirkungen generiert, das gerade für Maßnahmen, die Kinder gegen die Folgen familiärer Armut stark machen wollen, genutzt werden kann. Ohne diese Vernetzung würden diese Maßnahmen isoliert bleiben und hätten lediglich Fallcharakter, würden sich jenseits ihrer sozialräumlichen Verankerung bewegen. Erst in einem vernetzten Vorgehen ergeben sich tatsächlich Optionen und Chancen für Kinder, die eben nicht nur im familiären Alltag liegen, sondern sich im Sozialen Raum öffnen. Bausteine Diese Überlegungen lassen sich in sechs Bausteinen (Modulen) darstellen, die hier zwar isoliert diskutiert werden, aber dennoch nur als Einheit zu sehen sind: Bündnisse als Ausgangspunkt Bündnisse für Familien oder Kinder bzw. Etablierung lokaler Netzwerke können Maßnahmen zur Bekämpfung der Folgen familiärer Armut für Kinder starten. Dabei sollten sich diese auf Kinder fokussieren. Primär stehen deren Förderung und deren Optionen im Fokus. Dies heißt nicht, dass Eltern nicht wichtig sind. Zweifellos sind auch die Eltern zu unterstützen, da es vor allem auch an ihnen liegt, inwieweit die Bildungschancen der Kinder realisiert werden. Darüber hinaus geht es aber auch um die Etablierung von Maßnahmen im Sozialen Raum. 119 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Die Ziele dieser Bündnisse lassen sich dabei wie folgt definieren: ➤ Entwicklung und Aufbau eines Maßnahmenpaketes im Sozialen Raum, ➤ Aufbau von „Informations-, Präventions- und Reaktionsketten“ für Kinder und Eltern ab der Schwangerschaftsvorbereitung, ➤ von der Versäulung der Hilfen zur Gestaltung von Lebenswelten durch Vernetzung, ➤ Stärkung von Nachbarschafts- und Unterstützungsstrukturen. Diese Bündnisse folgen in ihren Tätigkeiten folgenden Schritten: ➤ Bestandsaufnahme der Situation und die Evaluation bestehender Maßnahmen, ➤ Zielentwicklung hinsichtlich der Qualifizierung und Vernetzung von Angeboten, ➤ Entwicklung und Erteilung von Aufträgen, um definierte Ziele zu erreichen, ➤ Monitoring der Umsetzung erteilter Aufträge, ➤ Überprüfung der Wirksamkeit und Entwicklung weiterer Angebote und Intensivierung sowie Abstimmung der Vernetzung. Bündnisse können schließlich in Sozialraumkonferenzen übergehen, die als essenzielle Vernetzung der Hintergrund der einzelnen Hilfebausteine sind, die im Folgenden skizziert werden. Aufsuchende Hilfen Aufsuchende Hilfen müssen früh beginnen und kontinuierlich sein, wenn nötig schon in der Geburtsvorbereitung. Sie organisieren einen lebensweltorientierten Zugang (Gehstrukturen) zu Familien mit kleinen Kindern. Der Kontakt kann über vielfältige PartnerInnen im Netz hergestellt werden, spätestens durch die Kindereinrichtung. Dabei sind KinderärztInnen, Familienhebammen und GeburtshelferInnen strategische PartnerInnen im Netz, in der Präventionskette; so werden bereits vorgeburtliche Beratung und aufsuchende Hilfen bei erschöpften Familien möglich. Diese Hilfen sollen Eltern unterstützen und ihnen Wege zeigen, ihren Alltag leichter und effektiver zu gestalten. Darin sind diese Hilfen nicht diskriminierend, sondern sie integrieren die Eltern, setzen an deren Stärken an und sehen diese als einen Teil der Lösung. Wichtig ist dabei, dass die FamilienhelferInnen (Familienhebammen, geschulte Ehrenamtliche, professionelle SozialarbeiterInnen) die Sprache der Eltern sprechen und deren Handlungsmuster verstehen. Auch sollten sie mit der Lebenswelt vertraut sein. Das Projekt „Kiezmütter“ in Berlin, in dem qualifizierte türkische Frauen türkische Familien aufsuchen und betreuen, zeigt exemplarisch, wie wichtig diese Nähe zum Alltag der Familie sein kann. Über die Hilfestellung im Haushalt - Organisation der Kindererziehung, Management von Einkauf und Ernährung, Begleitung zu ÄrztInnen und Behörden - werden die Eltern gestärkt und die Kinder früh gefördert. Diese familienunterstützenden Zugänge steigern die Haushalts-, Wirtschafts- und Erziehungskompetenz der Eltern. Ihre Wirksamkeit ist vielfältig belegt. Sie zeigen und öffnen Wege zu den Angeboten des Sozialen Raums, sie arbeiten gegen Vorurteile, dass (Jugend-) Ämter immer nur kontrollieren und sanktionieren, sie vernetzen Eltern mit anderen Eltern und sie fördern soziales Kapital und somit auch selbst organisierte Unterstützungskulturen. Sie können zudem den Aufbau der Hausaufgabenbetreuung und der Nachhilfe (sowohl individuell als auch in Gruppen) entwickeln. Auch können sie Kontakte zu Kleiderkammern und Tafeln, aber auch zu Bibliotheken, Lesekreisen und musikalischer Früherziehung sowie zu Sport und Bewegung fördern. 120 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Öffnung der Einrichtungen zur Lebenswelt Ein zentraler Baustein im Netz quartiersbezogener Hilfen ist die Öffnung und Vernetzung aller Dienste zur Lebenswelt. Das sind vor allem Kindereinrichtungen (Kitas), die Basis der vernetzten Hilfen sein können und sich zu Familienzentren entwickeln. Von hier aus könnten aufsuchende Hilfen organisiert, moderiert und vernetzt werden - dies vor allem deshalb, weil sie ja spätestens ab dem dritten Lebensjahr die Kinder in ihrer Tagesstruktur betreuen und fördern. In diesen Familienzentren werden jene Angebote fokussiert, die Eltern und vor allem Kinder unterstützen, von ÄrztInnen über Ämter zu Beratungs- und Bildungsangeboten bis hin zu Sport- und Kulturvereinen (Musikschule). Alle Angebote des Sozialen Raums können in den Einrichtungen präsent sein. Sie bieten damit ein niedrigschwelliges Angebot für Eltern und Kinder. Die Kindereinrichtungen als Familienzentren werden zum Zentrum einer sozialen Infrastruktur, die Benachteiligung aufgreift und thematisiert. Dabei werden Kinder gefördert und Eltern begleitet. Sie werden zum Ausgangspunkt der Vernetzung von Präventionsketten. Ihre Unterstützungsleistungen reichen von vielfältigen Angeboten wie Sprach-, Bewegungs-, Gesundheits- und Ernährungsförderung bis hin zur Organisation von Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe. Eine Förderung und Unterstützung der Familien im Alltagsverhalten, im Erziehungsverhalten, in der Haushaltsgestaltung hinsichtlich Bewegung und Ernährung sowie regelmäßige Angebote der Elternbildung, Elternkurse oder Haushalts- und Alltagstraining können über diese Zentren geleistet, moderiert und vernetzt werden. Der Kontakt (Zugang) zu Familien, insbesondere auch zu erschöpften Familien, kann hier beginnen. Die beschriebene aufsuchende Hilfe, insbesondere auch die frühesten Hilfen, kann über diese Zentren organisiert und moderiert werden. Hierzu ist eine Vernetzung mit weiteren ambulanten Angeboten des Sozialen Raumes, auch des Jugendamtes, der Schule, der Jugendhilfe, erforderlich - im Rahmen vernetzter Präventionsketten im Sozialen Raum des Quartiers. Durch eine gut organisierte Zusammenarbeit können zudem Übergänge in die Grundschule begleitet werden, durch Stärkung der Kinder und durch Elternkurse. Neben diesen Familienzentren können auch Schulen (Grundschulen, Hauptschulen, Regelschulen) Orte gemeinwesenbezogener Arbeit sein. Ähnlich wie diese können auch hier die Angebote des Sozialen Raums in den Schulen präsent sein. Statt dass die Kinder zu ihnen gehen, kommen diese zu den Kindern. Für die Entwicklung einer gemeinwesenorientierten Schule sind diese aber wohl zu kommunalisieren, notwendig wird zudem ein sozialpädagogisches Betreuungspersonal. Ausbau einer sozialen Infrastruktur In den Quartieren ist, angedockt an die Projekterfahrungen der „Sozialen Stadt“ und von diesen inspiriert, die Entwicklung von gesunden und förderlichen Settings erforderlich, die Eltern entlasten und Kinder direkt fördern. Unterstellt wird dabei, dass diese Settings als Infrastruktur zur Förderung und Stärkung von armen Kindern beitragen und diesen Chancen und Optionen öffnen, die Kreisläufe durchbrechen. Arme Kinder benötigen Anlaufstellen in den Sozialen Räumen, in denen sie leben, die ihnen vertraut sind. Es sollten dementsprechend Freizeit- und Kulturangebote für Kinder im Quartier entwickelt werden, in Abstimmung mit Präventionsketten und Sozialraumkonferenzen, die direkt zu diesen kommen (Gehstruktur) und nicht darauf warten, dass Kinder sich auf den Weg zu ihnen machen: Vereine und Verbände müssen in die Stadtteile und zu den Kindern gehen. 121 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Sport und Bewegung, Gesundheit und Ernährung, Museum, Bibliotheken, Theater und Musik müssen dort als Angebot präsent sein, wo die Kinder sind. Die offene Kinder- und Jugendarbeit der Vereine und Verbände (Feuerwehr, Sport, Orchester, Karneval etc.) sollte ebenfalls dort hingehen, wo sich die Kinder regelmäßig aufhalten. Dort kann sie die Kinder am ehesten motivieren, sich ihren Angeboten zu öffnen. AnbieterInnen müssen dabei sowohl eine stärkere Sensibilität für die Folgen von Benachteiligung entwickeln als auch ihre Angebote kostengünstiger oder gar kostenfrei gestalten. Das lässt sich aber durch entsprechende Fördermöglichkeiten der Kommunen, über Boni für Verantwortung und Armutssensibilität steuern. Mittlerweile gibt es viele Angebote, zumeist auf Projektbasis, die zeigen, was Kinder können und wie man arme Kinder stark machen und gegen Armutskreisläufe arbeiten kann. Das zeigen vor allem auch Projekte, die sich unter dem Label„Lichtpunkte“ oder auch„Lebensbrücken“ finden. Wichtig im Sinne von Nachhaltigkeit, die über kreative Projekte hinausgeht, wäre es allerdings, diese in einer sozialräumlichen Vernetzung als Bausteine zu entfalten und zu platzieren. Präventionsketten Präventionsketten, die alle PartnerInnen im Netz miteinander verbinden und Unterstützungsmaßnahmen planen, abstimmen und umsetzen, sind Frühwarnnetze, die sich als Wahrnehmungs-, Informations- und Reaktionsketten bewährt haben. Diese frühen Warn- und Hilfesysteme dienen dem rechtzeitigen Erkennen und dem schnellen Reagieren. Sie sind vor dem Hintergrund eines weiten Begriffes der Frühen Hilfe, wie er hier vertreten wird,„neu“ zu entwerfen und zu gestalten. Hierfür müssen sie materiell und personell gut ausgestattet sein und sich vor allem auf die Zeit der ersten Lebensjahre konzentrieren. Diese Präventionsketten benötigen notwendig eine vernetzte Struktur. Das bekannteste kommunale Beispiel hierfür ist die Stadt Monheim. Vernetzung Die hier vorgestellten Bausteine einer quartiersbezogenen Hilfe für die Abmilderung von Folgen familiärer Armut für Kinder bedürfen der Vernetzung im Sozialen Raum - einer Struktur, die oben bereits im Kontext der Integrativen Sozialraumplanung vorgestellt wurde. Vernetzung meint dichte Netzwerke vor Ort, die eine Zusammenarbeit unterschiedlichster AkteurInnen und Erbringungsinstanzen ermöglichen. Sie benötigen eine zentrale Koordinationsstelle (Planungsraummanagement, Quartiersmanagement). In regelmäßig (monatlich bis vierteljährlich) tagenden Sozialraumkonferenzen, Bündnissen, Runden Tischen, Arbeitsgruppen Kinderarmut und Präventionsketten Frühe Hilfen finden Abstimmungen statt. Es werden Maßnahmen diskutiert, entworfen und evaluiert. Über die Netzwerkstruktur können ehrenamtliche und aufsuchende Fachkräfte auf Stadtteilebene begleitet werden - durch Fallkonferenzen, durch Planungs- und Evaluationsforen oder durch Kinderforen. Diese Sozialraumkonferenzen sollten über ein eigenes Budget verfügen oder zumindest Zugriffe auf Präventionsbudgets bzw. auf Budgets für Frühe Hilfen haben. PartnerInnen in einem solchen Netz, das an Familienzentren angebunden sein kann, sind: Kindereinrichtungen, Ämter, Erbringungsinstanzen sozialer Hilfen, Erzieherische Hilfen, Sozialpädagogische Familienhilfen, Schuldnerberatung, Suchtberatung, Gesundheitsdienste und ÄrztInnen, Müttertreffs, Familienzentren, Kleiderläden, Tafeln, Wohnungswirtschaft, Kneipen, Polizei, Vereine, Verbände, Arbeitsagenturen (ArGen), Politik, Verwaltung und alle, die in den sozialen Räumen Verantwortung tragen. Es sollten aber auch engagierte BürgerInnen und Kinder daran beteiligt werden. 122 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Die Unternehmen der Wohnungswirtschaft können dabei strategische Bedeutung erlangen. Sie verfügen über einen sehr direkten Kontakt zur Lebenswelt der Eltern und der Kinder. Sie sind ein Sensor für Entwicklungen und der Wirksamkeit von Maßnahmen. Hier kann die Früherkennung anfangen und sich zu Frühen Hilfen verdichten. Es sind zudem gezielte Angebote für Kinder und Eltern möglich. Auch Concierge-Modelle können ein wichtiger Baustein der Präventionsketten sein. Gerade die Zusammenarbeit mit der ArGe kann von Vorteil werden, die im SGB II möglichen Fördermaßnahmen können in dem hier diskutierten Zusammenhang als Unterstützungsmaßnahmen platziert werden. Über die ArGe können notwendige Zugänge zu Familien gelegt werden, die sonst nicht erreichbar scheinen. Frühe und aufsuchende Hilfen: ein mögliches Modell An dieser Stelle soll skizzenhaft ein mögliches Modell angedeutet werden. Ehrenamtlich geschulte FamilienhelferInnen, wie es in einigen Modellen aufsuchender Hilfen praktiziert wird, die möglichst aus dem Stadtteil kommen, bieten Sozialisationshilfen, Alltagshilfen, begleitende Hilfen, Wege in den Sozialraum und zu Sozialen Diensten an. Ein professionelles Case Management (bei einem freien Träger angebunden) berät und begleitet diese HelferInnen im Hintergrund. In regelmäßigen Betreuungskonferenzen werden die Tätigkeiten, Erfahrungen und die Fortschritte einzelner Familien reflektiert. Hier kann auch der Auftrag des Kinderschutzes wahrgenommen werden: bei Verdachtsmomenten muss das Jugendamt unverzüglich eingeschaltet werden. Dieses Case Management ist wiederum über Sozialraumkonferenzen und Präventionsketten vernetzt. Es lässt sich eine enge Zusammenarbeit mit der Wohnungswirtschaft, mit ÄrztInnen, mit Hebammen und mit städtischen Diensten organisieren. Eine Zusammenarbeit mit Tafeln, Kleiderkammern ist sinnvoll, eine Verweisung an andere Strukturen, die notwendige und weitergehende Hilfen anbieten, ist obligatorisch. Zusammenfassung An dieser Stelle sollen noch einmal die essenziellen Kriterien gebündelt werden: ➤ Es geht darum, Kreisläufe zu durchbrechen und Kindern in benachteiligten und prekären Lebenslagen Optionen zu öffnen. Dies muss lebenslagenorientiert sein und darf sich nicht auf ein Segment beschränken. ➤ Frühe Hilfen sind in einer weiten Fassung als Haushalts-, Wirtschafts- und Erziehungsunterstützung zu entfalten. ➤ Aufsuchende Hilfen müssen Familien als einen Teil der Lösung sehen, die mit ihnen Wege ebnen. Hilfe darf dabei nicht als Kontrolle, sondern soll als Unterstützung entworfen sein. ➤ Es geht vor allem darum, das Leben der Familie zu erleichtern, um Kinder zu fördern. Die Förderung eines positiven Familienklimas muss an den Eltern ansetzen, um Kinder zu stärken. Hierfür müssen Eltern und Kinder einbezogen werden. ➤ Notwendig ist ein vernetztes und sozialraumbezogenes Arbeiten. Prof. Dr. Ronald Lutz Fachhochschule Erfurt Altonaer Straße 25 99051 Erfurt lutz@fh-erfurt.de