eJournals unsere jugend 65/4

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2013
654

Equal but not the same

41
2013
Thomas Berthold
Niels Espenhorst
Eigentlich ist ja alles klar: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind Zielgruppe des SGB VIII und der UN-Kinderrechtskonvention, sie müssen wie alle anderen Kinder und Jugendlichen behandelt werden. Die UN-Kinderrechtskonvention sieht eine vorrangige Berücksichtigung der best interests of the child als zentrale Norm für staatliche und private Stellen im Umgang mit allen Kindern und Jugendlichen, also auch unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, vor. Diese eindeutige Rechtslage sollte eigentlich dazu führen, die Frage des Umgangs mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen primär als pädagogische Herausforderung zu erörtern.
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146 unsere jugend, 65. Jg., S. 146 - 153 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art14d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Equal but not the same Standards für junge Flüchtlinge in der Jugendhilfe * Eigentlich ist ja alles klar: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind Zielgruppe des SGB VIII und der UN-Kinderrechtskonvention, sie müssen wie alle anderen Kinder und Jugendlichen behandelt werden. Die UN-Kinderrechtskonvention sieht eine vorrangige Berücksichtigung der best interests of the child als zentrale Norm für staatliche und private Stellen im Umgang mit allen Kindern und Jugendlichen, also auch unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, vor. Diese eindeutige Rechtslage sollte eigentlich dazu führen, die Frage des Umgangs mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen primär als pädagogische Herausforderung zu erörtern. von Thomas Berthold Jg. 1981; Politik- und Kulturwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge mit dem Schwerpunkt Vormundschaft und Europa Doch dieser Zustand ist noch lange nicht erreicht. Vielmehr bestehen noch immer folgenreiche Missstände bei der Aufnahme und in der weiteren Unterbringung und Versorgung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Die Frage der Standards im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist dementsprechend immer zweigeteilt: Auf der einen Seite besteht weiterhin die Notwendigkeit, im Rahmen gesellschaftlicher bzw. politischer Prozesse die Gleichbehandlung aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland durchzusetzen. Auf der anderen Seite ist die Jugendhilfe an sich aufgefordert, in ihrem Rahmen bestehende Standards anzuwenden und weiter zu entwickeln. Es gibt mittlerweile eine wachsende Anzahl von Studien und Publikationen, die sich dem Thema Standards für den Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen widmen. Gefördert mit Mitteln der Europäischen Niels Espenhorst Jg. 1980; Sozialwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge mit dem Schwerpunkt Inobhutnahme und Asylverfahren * Wir danken Juana Remus für ihre kritischen Anmerkungen und Hinweise. 147 uj 4 | 2013 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Union, die der Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge durchaus besondere Beachtung zuteilwerden lässt, sind für verschiedene Arbeitsfelder Standards entstanden (vgl. u. a. SCEP 2012; DCI u. a. 2011). Besondere Bedeutung hat dabei das statement of good practice, das vom Separated Children in Europe Programme (SCEP) erarbeitet wurde und mittlerweile in vierter, neu bearbeiteter Auflage vorliegt (vgl. SCEP/ Bundesfachverband UMF 2012). Während die auf EU-Ebene verfassten Standards insbesondere zur Sensibilisierung politischer Entscheidungsträger_innen dienen und eher einen abstrakten Rahmen darstellen, fehlt vielfach die Umsetzung in die Praxis. Auch wenn die Unterstützung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen einzelfallabhängig ist, lassen sich doch konkrete Handlungsmaximen darlegen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind eine recht neue Gruppe der Jugendhilfe. Auch wenn im weltweiten Flucht- und Migrationsgeschehen schon immer auch Kinder und Jugendliche alleine reisen und folglich auch in Deutschland angekommen sind, so sind sie erst in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Fachöffentlichkeit gerückt. Nach Recherchen des Bundesfachverbands Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF) sind in den Jahren 2009 bis 2011 durchschnittlich 3.700 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Obhut genommen worden (vgl. Bundesfachverband UMF 2012). Die jungen Menschen verteilen sich dabei sehr unterschiedlich auf das Bundesgebiet. So sind insbesondere Städte Zielort bzw. Aufgriffsort, die über eine Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge verfügen oder die sich an wichtiger Verkehrsinfrastruktur befinden, die von den Flüchtenden genutzt wird. Die Ankunft in Deutschland ist für viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge das vorläufige Ende einer langen Reise. Die meisten jungen Menschen kommen gegenwärtig aus Afghanistan, dem Irak, Somalia oder auch Syrien und haben nicht nur eine gefährliche Flucht aus dem Herkunftsland hinaus hinter sich, sondern oftmals ähnlich gefährliche Reisen. Aus dem Fernsehen sind die Bilder der Flüchtenden auf kleinen Booten auf dem Mittelmeer oder in den Straßen Athens sehr bekannt - unter all den Gezeigten befinden sich auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Dieser Hintergrund ist von großer Bedeutung für die Aufnahme, da der erste Eindruck, den junge Flüchtlinge von Europa erhalten, ein europäisches Grenzregime ist, dessen Ausdruck die aggressive, teilweise militärische Abwehr von Flüchtlingen ist. Die Unterbringung in der Jugendhilfe nach der Ankunft in Deutschland ist somit innerhalb Europas oftmals der erste Ort, an dem die Jugendlichen keine offene Ablehnung erfahren. Die Jugendlichen flüchten alleine oder auch in kleineren Gruppen, um sich gemeinsam auf dem Weg nach Europa zu unterstützen. Eine Konsequenz der europäischen Migrationspolitik ist auch, dass flüchtende Familien auf der Flucht getrennt werden und immer mehr Kinder und Jugendliche auf der Flucht zu Unbegleiteten werden. Der Großteil derer, die in Deutschland ankommen, ist zwischen 14 und 18 Jahren alt; nach Zahlen des BAMF sind ca. 80 % dieser Jugendlichen männlich. Letzteres ist auch auf die Herkunftsländer zurückzuführen, da ungefähr die Hälfte der Jugendlichen gegenwärtig aus Afghanistan kommt und von dort überwiegend männliche Jugendliche flüchten. Die Fluchtgründe sind sehr unterschiedlich und reichen von der Verfolgung der Familie über eine mangelnde Lebensperspektive bis hin zur Zwangsrekrutierung als Kindersoldat oder zu geschlechtsspezifischen Verfolgungsgründen. Leider gibt es keine Erfassung der Asylgründe in Deutschland, es wird nicht ausgewertet, welche Fluchtgründe vorgetragen werden und welche anerkannt werden (vgl. Berthold/ Espenhorst/ Rieger 2011). Bei der Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sind fünf Themengebiete besonders relevant, für die Standards formuliert und durchgesetzt werden müssen, um eine 148 uj 4 | 2013 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kindesinteressengerechte 1 Aufnahme zu gewährleisten. Dies sind (1) die Inobhutnahme, (2) die Altersfestsetzung, (3) die Wahrnehmung der elterlichen Sorge, (4) Konzepte zur Unterbringung und Betreuung und (5) die Klärung des Aufenthalts und der rechtlichen Vertretung. Die Inobhutnahme Jugendämter sind nach §42 SGB VIII berechtigt und verpflichtet, allein einreisende minderjährige Ausländer_innen in Obhut zu nehmen. Das Gesetz sieht in diesem Fall kein Ermessen vor. Der Gesetzgeber hat im Jahr 2005 festgelegt, dass die unbegleitete Einreise von Minderjährigen als Kindeswohlgefährdung zu werten ist. Seit 2005 haben einige Bundesländer ihre Inobhutnahmesysteme dahingehend angepasst, dass minderjährige Flüchtlinge regulär in Obhut genommen werden. Es gibt aber nach wie vor noch Bundesländer und Kommunen, die die 16- und 17-jährigen Jugendlichen aufgrund der asyl- und aufenthaltsrechtlichen Handlungsfähigkeit nicht im Rahmen der regulären Hilfssysteme in Obhut nehmen, sondern in Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende unterbringen. Dies liegt auch an fehlenden verbindlichen Standards. Der Versuch, im Rahmen einer Bund- Länder-Arbeitsgruppe einheitliche Regelungen in den Bundesländern einzuführen, scheiterte. Einige Bundesländer haben mittlerweile Leitlinien bzw. Erlasse eingeführt, die die unmittelbare Inobhutnahme aller unbegleiteten Minderjährigen zum Inhalt haben, und zugleich wurden die Aufnahmekapazitäten in den Inobhutnahmeeinrichtungen ausgebaut, um die neue Erlasslage in die Tat umzusetzen. Die zentrale Schwierigkeit bei der Umsetzung der Inobhutnahme ist das Verhältnis von den Normen des SGB VIII zu den Normen des Asylverfahrens (AsylVfG)- und Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). So wird es beispielsweise der Bundespolizei ermöglicht, einreisende unbegleitete minderjährige Flüchtlinge direkt an der Grenze zurückzuweisen, ohne das örtlich zuständige Jugendamt einzuschalten (vgl. hierzu § 18 AsylVfG i. v. m. § 80 (2) AufenthG). Auch die Anwendung der Wohnverpflichtung bei unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden ist in einigen Bundesländern noch ein Problem. Das führt dazu, dass beispielsweise in Bayern handlungsfähige Minderjährige in Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende „in Obhut genommen“ werden und nicht in Jugendhilfeeinrichtungen. Diese Unterbringung, die als Inobhutnahme deklariert wird, entbehrt jeglicher fachlicher Standards und hat mit dem Schutzauftrag einer Inobhutnahme wenig zu tun. Dabei würde eine konsequente Anwendung der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII sehr viel dazu beitragen können, bei der Aufnahme die Kindesinteressen in den Mittelpunkt zu stellen und ausreichend Schutz und Förderung zu gewährleisten. Dies kann nur gelingen, wenn das Jugendamt die Federführung in dem Aufnahmeprozess wahrnimmt und auch von anderen Stellen als zentraler Akteur wahrgenommen wird. Eine gelingende Aufnahme setzt voraus, dass der Erstkontakt durch das jeweilige Jugendamt durchgeführt wird. Das impliziert in jedem Fall, dass alle Behörden, die mit den Jugendlichen in Kontakt kommen (beispielsweise Polizei oder Ausländerbehörde), diese unverzüglich weiterleiten. Der jeweilige Jugendliche ist dann in einer geeigneten Inobhutnahme-Einrichtung unterzubringen, das können sogenannte Clearinghäuser sein, Einrichtungen, die sich auf die Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen spezialisiert haben. Im Rahmen der Inobhutnahme sollte in jedem Fall ein Clearingverfahren durchgeführt werden, in dem u. a. die gesundheitliche und psychosoziale Situation, die Identität, die familiäre Situation, der aufenthaltsrechtliche Status, die Bildungssitua- 1 Die Autoren verwenden anstelle des Begriffs „Kindeswohl“ „Kindes-Interessen“, um die inhaltliche Anbindung an die UN-Kinderrechtskonvention zu verdeutlichen und sich von der im deutschen Rechtskontext gebräuchlichen Verwendung des Begriffs „Kindeswohl“ zu unterscheiden. 149 uj 4 | 2013 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge tion gemeinsam mit den Jugendlichen bearbeitet werden. Eine sehr große und in der Literatur wenig beachtete Rolle spielt insbesondere die Familie. Wie oben bereits beschrieben, werden einige minderjährige Flüchtlinge erst auf der Flucht zu Unbegleiteten. Dementsprechend sind die Eruierung der Situation und die aktive Suche nach Familienmitgliedern von besonderer Bedeutung. Für die beteiligten Institutionen der Jugendhilfe ergibt sich somit die problematische Situation, mit den Jugendlichen eine mögliche Integration als alleinstehende Person zu verwirklichen und gleichzeitig die Hoffnung auf das Auffinden der Eltern bzw. der Restfamilie aufrechtzuerhalten. Den Abschluss der Inobhutnahme und des Clearingverfahrens bildet entweder die Übergabe an eine sorgeberechtigte Person, was in den meisten Fällen nicht möglich ist, oder die Entscheidung über die Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe. Erst nach der Erfassung der Situation und der Klärung der Perspektiven sollten aufenthaltsrechtliche Schritte eingleitet werden. Die Altersfestsetzung Im Rahmen der Ankunft und auch des weiteren Verbleibs spielt die Frage des Alters eine herausragende Rolle. Fast alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge reisen ohne gültige Dokumente ein bzw. die vorgelegten Dokumente werden von deutschen Behörden nicht anerkannt. Dies hat zur Folge, dass in den meisten Fällen schon zu Beginn des Aufenthalts eine Entscheidung über die Altersangabe der Jugendlichen getroffen wird. Die Umstände der Festsetzungen sind dabei insbesondere für die jungen Menschen oft unklar. In den meisten Fällen werden die Altersfestsetzungen entweder im Kontext der Entscheidung über die Inobhutnahme getroffen oder im Rahmen aufenthaltsrechtlicher Maßnahmen. Da die zentrale Voraussetzung der Inobhutnahme die Minderjährigkeit ist, müssen die Jugendämter auf Basis der Amtsermittlungspflicht (§20 SGB X) den Sachverhalt klären. Dies kann die Erhebung von Beweisen umfassen (§21 SGB X), beispielsweise durch ein Interview, in dem biografische Daten abgefragt werden. Neben der Zuständigkeit der Jugendämter ermöglicht § 49 (6) AufenthG auch den Ausländerbehörden die Festsetzung des Alters bzw. die Einholung von Gutachten über das vermeintliche Alter der jungen Menschen, allerdings nur, „wenn die Identität in anderer Weise, insbesondere durch Anfragen bei anderen Behörden nicht oder nicht rechtzeitig oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann“. Weitere Rechtsgrundlagen für Altersfestsetzungen, beispielsweise im Strafrecht, werden situativ angewendet. Die sehr unübersichtliche rechtliche Situation sorgt für eine zusätzliche Intransparenz bei der schwierigen Frage der Altersfestsetzung. 2 Grundsätzlich muss festgestellt werden, dass es kein Verfahren gibt, das zuverlässig und hinreichend genau Alter feststellen kann, weder auf medizinischem, psychologischem, pädagogischem oder anderem Wege. Alle Verfahren können allenfalls Näherungswerte an das chronologische Alter liefern, das die Grundlage für die Einteilung in die Kategorie „minderjährig“ ist. Problematisch ist insbesondere, dass medizinische Verfahren eine Genauigkeit suggerieren. Gleiches gilt für gesprächsorientierte Verfahren, bei denen anhand der Abfrage biografischer Daten und der Bewertung des Gesamteindrucks eine Schätzung abgegeben wird. Der Altersfestsetzung inhärent ist dabei der Vorwurf der Intransparenz. Alle Ergebnisse, gleich auf welche Weise gewonnen, beruhen auf Interpretationen, und eine Darstellung der Ent- 2 Um das Thema Altersfestsetzung nachhaltig aufzuarbeiten, führt der Bundesfachverband UMF gegenwärtig ein eigenes, von UNHCR und terre des hommes ermöglichtes Projekt zum Thema durch; die Ergebnisse werden im 3. Quartal 2013 veröffentlicht. 150 uj 4 | 2013 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge scheidungsfindung ist oftmals unklar oder gar nicht vorhanden. Um die Frage des Alters unter Berücksichtigung der Interessen des Kindes zu behandeln, ist daher die Einhaltung von Mindeststandards unerlässlich. Als Mindestvoraussetzung für eine adäquate Altersfestsetzung lassen sich drei grundlegende Forderungen festhalten. Zunächst ist zentral, dass die Jugendlichen, deren Alter angezweifelt wird, über die Verfahren in altersgerechter und verständlicher Weise informiert werden. Dies impliziert die genaue Erläuterung des Verfahrensablaufs, der anzuwendenden Methoden und insbesondere der Möglichkeiten der Ablehnung von medizinischen Verfahren, die für die Jugendlichen entwürdigend sind oder bedrohlich wirken. Nur wenn Widerspruchsmöglichkeiten bestehen, die nicht automatisch zur Volljährigkeit der Betroffenen führen, können Verfahren etabliert werden, die die Interessen der Jugendlichen berücksichtigen. Ein solches Vorgehen setzt zweitens voraus, dass ein einheitliches Verfahren mit klaren Zuständigkeiten existiert, das von allen beteiligten Akteuren, beispielsweise Jugendamt, Ausländerbehörde, BAMF und Familien- und Verwaltungsgericht, akzeptiert wird. Die gegenwärtig unklaren bzw. sich überschneidenden Zuständigkeiten verkomplizieren die schon bestehenden Probleme, zudem kann sich kein gegenseitiges Vertrauen zwischen den Parteien entwickeln, wenn unklar ist, wie das Alter ermittelt wurde. Nach einer Altersfestsetzung muss für die Jugendlichen drittens eine Rechtssicherheit bestehen, sodass nicht von weiteren Behörden das Alter immer wieder angezweifelt wird. Solche nachgeordneten Altersfestsetzungen, die beispielsweise durch die zuständigen Jugendämter auch noch nach Jahren der Hilfegewährung angestrengt werden, verunmöglichen die Erarbeitung einer klaren Perspektive. Wenn ein Alter gesetzt ist und der betroffene Jugendliche dies akzeptiert, sollte die weitere Hilfe hiervon abhängig gemacht werden und sollten statt einer Orientierung am chronologischen Alter die tatsächlichen Bedarfe im Mittelpunkt stehen (vgl. SCEP 2012). Die Wahrnehmung der elterlichen Sorge Die Wahrnehmung der elterlichen Sorge und damit insbesondere die Rolle der Vormundschaft sind bei der Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zentral, aber dennoch vielfach unterentwickelt. Dies liegt zum einen an der asyl- und aufenthaltsrechtlichen Handlungsfähigkeit, die bewirkt, dass der Jugendliche ohne den Vormund einen Asylantrag stellen kann und bis zur Bestellung des Vormunds schon wesentliche Schritte unternommen wurden. Zum anderen besteht das Defizit in der Organisation des Vormundschaftswesens. Es fehlen klare Absprachen zwischen den Vormündern, dem ASD, den Jugendhilfeeinrichtungen und möglicherweise den beteiligten Rechtsanwält_innen. Durch das heterogene deutsche Vormundschaftssystem, das sich in den unterschiedlichen Vormundschaftstypen (Amts-, Berufs-, Vereins- und ehrenamtlicher Vormund) manifestiert, haben sich, lokalen Traditionen und Begebenheiten folgend, bei den jugendlichen Flüchtlingen sehr unterschiedliche Verfahrensweisen ergeben. Dies führt u. a. zu sehr unterschiedlichen Aufgabenbereichen der Vormünder_innen, auch wenn sie formell auf der gleichen Grundlage agieren. Da die meisten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht sind, besteht ein großer Bedarf im Austausch zwischen Betreuenden und Vormünder_innen. Nach Schätzungen des Bundesfachverbands UMF werden über 80 % der Vormundschaften durch Amtsvormünder_innen übernommen, die anderen Vormundschaftsformen spielen demnach quantitativ eine untergeordnete Rolle. Allerdings gibt es in der Praxis sehr gute Erfahrungen mit den Berufs-, Vereins- und ehrenamtlichen Vormünder_innen, sodass in Fachdiskussionen regelmäßig für einen Ausbau dieser plädiert wird. Insbesondere wird dabei auf die Unterstützung der Integrationsbemühungen durch Einbindung von ehrenamtlichen Vormünder_innen verwiesen. 151 uj 4 | 2013 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Im Zuge der Änderungen des Vormundschaftsrechts zum 1. Juli 2011 und der Entwicklung vom Schreibtischvormund zur persönlich geführten Amtsvormundschaft ist der gesamte Bereich der Vertretung von Jugendlichen in Bewegung gekommen. Auch wenn sich positive Entwicklungen insbesondere bei den Fallzahlen und der Kontaktzahl abzeichnen, so gibt es doch noch Bereiche, bei denen Handlungsbedarf besteht. Neben der Frage der generellen Ausgestaltung der Vormundschaften sind drei Standards bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen besonders bedeutend: Aufgrund der herausragenden Bedeutung des Asyl- und Aufenthaltsrechts muss der Vormund in diesem Bereich regelmäßig geschult werden oder für eine qualifizierte Vertretung im Rahmen des asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahrens sorgen. Die Möglichkeit, zusätzlich zum Vormund gemäß § 1909 BGB eine Ergänzungspflegschaft mit Wirkungskreis Asyl- und Aufenthaltsrecht einzurichten, sollte genutzt werden. In Hessen ist dies mittlerweile Praxis bei allen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, mit der Folge, dass im Regelfall ein_e entsprechend qualifizierte_r Rechtsanwalt_in die Vertretung übernimmt. Ein weiterer Standard ist die spezifische Fortbildung und die Schaffung entsprechender Angebote. Gerade für Vormünder_innen in Jugendämtern, die nur unregelmäßig unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unterstützen, sind entsprechende Weiterbildungen unerlässlich, da die Wahrnehmung der elterlichen Sorge voraussetzt, dass ausreichend Wissen über die Lebensumstände von jungen Flüchtlingen vorhanden ist. Drittens spielt die Haltung des Vormunds gegenüber dem Jugendlichen eine zentrale Rolle: Der Vormund ist der parteiliche Interessenvertreter des Jugendlichen und ausschließlich dem Wohl des Jugendlichen verpflichtet. Das Elternrecht ist per se ein fremdnütziges Recht. Die Interessen des Minderjährigen sind gegenüber anderen Akteuren (also auch gegenüber dem Jugendamt, bei dem der Vormund in der Regel beschäftigt ist) zu vertreten. Dementsprechend ist der damit einhergehende Aufbau eines Vertrauensverhältnisses von elementarer Bedeutung (vgl. DCI 2011). Konzepte zur Unterbringung und Betreuung Die Annahme einer kindeswohlgefährdenden Situation bei einer unbegleiteten Einreise aus dem Ausland, wie es § 42 SGB VIII normiert, bedeutet, dass in jedem Fall der erzieherische Bedarf zu prüfen ist. Dieser kann i. d. R. als gegeben betrachtet werden, sodass geeignete und erforderliche Hilfen zur Erziehung angeboten werden müssen (vgl. Trenczek 2012, 126). Sofern mit einem dauerhaften Verbleib in Deutschland zu rechnen ist (d. h. auch für die Dauer des Asylverfahrens), besteht ein Anspruch auf Leistungen der Jugendhilfe. Die Jugendhilfe hat sich auf verschiedene Weise auf die jungen Flüchtlinge eingerichtet. Obwohl die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Deutschland nur ein paar tausend Personen umfasst, handelt es sich um einen sehr heterogenen Personenkreis - das einzige verbindende Merkmal ist die unbegleitete Einreise aus dem Ausland. Die Fluchtgründe und -geschichten, die persönlichen Lebensverläufe und -ziele, die Haltungen und Stimmungen, die gesundheitliche Situation und die Fähigkeit, sich auf die neue Lebenssituation einzulassen, sind sehr unterschiedlich. Zudem haben sie unterschiedliche Kenntnisse und Fertigkeiten erlernt. Die Schulbildung ist unterschiedlich ausgeprägt, einige haben bereits gearbeitet und waren sehr selbstständig und stehen nun vor der Herausforderung, sich in eine Jugendhilfeeinrichtung einzugliedern. Dies macht eine sehr individuelle Förderung nötig. In zu implementierende Standards übersetzt, ergeben sich vier Kernbereiche, die für eine angemessene Versorgung relevant sind. Die Unterbringung muss regelhaft im Rahmen der Jugendhilfe erfolgen. Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften entspricht in der Regel nicht den Bedürfnissen der Jugendlichen (eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften entspricht in der Regel auch nicht den 152 uj 4 | 2013 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Bedürfnissen von Erwachsenen) und darf insbesondere nicht als Sanktionsmöglichkeit missbraucht werden. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben zweitens nach § 79 SGB VIII die Gesamtverantwortung einschließlich der Planungsverantwortung für eine angemessene Bereitstellung von Kapazitäten. Es muss insbesondere gewährleistet sein, dass die erforderlichen und geeigneten Einrichtungen und Dienste rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. Noch immer werden Jugendliche aufgrund aufenthaltsrechtlicher Verteilungsverfahren innerhalb der Bundesländer verteilt, ohne dass dabei die Suche nach einem geeigneten Jugendhilfeplatz im Mittelpunkt steht. Da die Umverteilung vielfach erst nach der Inobhutnahme und entsprechendem Clearingverfahren stattfindet, werden die Jugendlichen aus ihrem Kontext herausgenommen. Es wäre dabei wünschenswert, zum einen eine Kontinuität in der Beziehungsarbeit der Jugendlichen zu unterstützen und zum anderen ausschließlich Plätze zu vergeben, die passgenau sind. Durch schwankende Zugangszahlen steht die Jugendhilfe vor einem infrastrukturellen Problem, das sich aber nicht zum Nachteil der Jugendlichen auswirken darf. Drittens ist eine Debatte über die Zusammensetzung der Wohngruppen vonnöten. Bislang werden viele Jugendlichen in Gruppen untergebracht, in denen sich nur unbegleitete minderjährige Flüchtlinge befinden. Dies hat zum einen pragmatische Gründe, andererseits stellt sich die Frage, ob eine gemischte Unterbringung mit anderen Jugendlichen nicht vielfach sinnvoller sein kann, insbesondere vor dem Hintergrund der Integrationsperspektive. Zum vierten ist die Unterstützung der Jugendlichen mit Hilfen für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII vielfach unerlässlich. Da unbegleitete minderjährige Flüchtlinge oftmals sehr spät in das Jugendhilfesystem gelangen, sind nicht alle Zielsetzungen erfüllbar, sodass eine Weiterversorgung ratsam ist. Die Erfahrungen, die bei der Gewährung von 41er-Hilfen gemacht werden, sind dabei durchaus positiv, da den Jugendlichen so ein leichterer Übergang in die Selbstständigkeit ermöglicht wird. Dies beinhaltet auch die Verhinderung der Verlegung aus der Jugendhilfe in eine Gemeinschaftsunterkunft, die für die Betroffenen oftmals mit dem vollständigen Verlust von Lebensperspektiven verknüpft ist. Die Klärung des Aufenthalts und der rechtlichen Vertretung Der abschließende Schwerpunkt für den Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen bildet die Sicherung des Aufenthalts. Um den Aufenthalt in Deutschland zu sichern, gibt es verschiedene Wege, am häufigsten versuchen die Jugendlichen, mithilfe eines Asylantrags in Deutschland als Asylberechtige bzw. als Schutzberechtigte im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zu werden oder hilfsweise Abschiebungsverbote feststellen zu lassen, der subsidiäre Schutz. Im Asylverfahren werden die Jugendlichen persönlich angehört und können sich zu ihren Fluchtgründen äußern. Im Schnitt der letzten Jahre wurden ca. 30 bis 40 % im Rahmen der Schutzquote erfasst. Dabei ist zu beachten, dass bei der überwiegenden Mehrzahl der Antragssteller_innen die Flüchtlingsanerkennung abgelehnt wird. Stattdessen werden Abschiebehindernisse festgestellt, beispielsweise dann, wenn bei der Abschiebung ins Heimatland eine konkrete Gefahr für Leib und Leben droht. Asyl- und aufenthaltsrechtliche Verfahren sind Gegenstand vielfältiger Debatten und ein bedeutender Verhandlungsgegenstand der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit. Um den Interessen des jeweiligen Kindes gerecht zu werden, sind verschiedene Standards sinnvoll. Grundlegend ist, dass insbesondere im Asylverfahren auch Gründe anerkannt werden, die von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen vorgetragen werden, sogenannte kinderspezifische Fluchtgründe. Diese umfassen die 153 uj 4 | 2013 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Anerkennung der Flucht vor Zwangsrekrutierung durch Militär und militärische Gruppen, geschlechtsspezifische Verfolgung (z. B. Genitalverstümmelung), Gewalt in der Familie, Zwangs- oder Kinderheirat oder Kinderhandel. Daneben ist es unerlässlich, dass die Jugendlichen von Personen unterstützt werden, die sich in ausländerrechtlichen Belangen sehr gut auskennen. Das können spezialisierte Vormünder_innen sein, aber im Regelfall sollten die Jugendliche durch Rechtsanwält_innen vertreten werden. Da die Zukunftsperspektiven maßgeblich von dem Verfahren abhängen, ist eine solche Vertretung, wie in anderen EU- Ländern zum Teil schon verwirklicht, wichtig. In der Praxis zeigt sich zudem, dass die Ergebnisse der Asylverfahren sehr häufig vor den Verwaltungsgerichten angefochten werden, es handelt sich dementsprechend mitnichten um ein Verfahren, das für die Jugendlichen einfach zu durchlaufen ist. Ein weiterer Standard für das Verfahren ist dabei die umfassende und regelmäßige Schulung der Beteiligten in Belangen, die die Interessen der Kinder betreffen, insbesondere in Methoden der Befragung und der Bewertung der Informationen, welche die Jugendlichen geben. Die gegenwärtige Praxis zeigt, dass die Umsetzung dieser schon häufig benannten und mit Verantwortlichen diskutierten Standards Zeit benötigt - Zeit, die die jetzt ankommenden Jugendlichen allerdings nicht haben. Noch sind nicht alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in der Jugendhilfe angekommen und nicht überall bestehen geeignete Strukturen, um die jungen Flüchtlinge angemessen zu versorgen. Aber es gibt auch ausreichende Erfahrungen, um zu wissen, dass eine Aufnahme, die die Interessen der Minderjährigen vorrangig berücksichtigt, möglich ist. Die dargestellten Standards können eine Orientierung geben, was dazu in der Praxis zu leisten ist. Sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass vor allem im Ausländerrecht noch wesentliche Nachbesserungen nötig sind, um die Vorrangigkeit der Interessen von Kindern zu gewährleisten. Thomas Berthold Niels Espenhorst Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge Zwinglistraße 4 a 10555 Berlin t.berthold@b-umf.de n.espenhorst@b-umf.de Literatur Berthold, T./ Espenhorst, N./ Rieger, U., 2011: Eine erste Bestandsaufnahme der Inobhutnahme und Versorgung von unbegleiteten Minderjährigen in Deutschland. In: Dialog Erziehungshilfe, H. 3, S. 22 - 30 Bundesfachverband UMF, 2012: Im Jahr 2011 erreichten über 3.700 UMF das Bundesgebiet - Eine Auswertung des bundesweiten Zugangs von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. www.b-umf.de/ images/ inobhutnahmen-2011-b-umf.pdf, 25. 1. 2013, 3 Seiten DCI, 2011: Core Standards for guardians of separated children in Europe - Goals for guardians and authorities. Leiden SCEP/ Bundesfachverband UMF, 2012: Statement of good practice - Standards für den Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen. Karlsruhe SCEP, 2012: Positionspapier zur Altersfestsetzung bei unbegleiteten Minderjährigen in Europa. Berlin Trenczek, T., 2 2008: Inobhutnahme - Krisenintervention und Schutzgewährung durch die Jugendhilfe. Berlin