unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Der 14. Kinder- und Jugendbericht
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Reinhard Joachim Wabnitz
Der Autor dieses Beitrages war Vorsitzender der Sachverständigenkommission der Bundesregierung für den 14. Kinder- und Jugendbericht (14. KJB) und gibt im Folgenden einen Überblick über Ziele, Strukturen und wesentliche Inhalte des Berichts. Dabei wird auf die jeweiligen Teile und Kapitel des 14. KJB verwiesen und im Wesentlichen auf weitere Zitate verzichtet.
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169 unsere jugend, 65. Jg., S. 169 - 184 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art17d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. jur. Dr. phil. Reinhard Joachim Wabnitz Jg. 1952; Magister rer. publ., Ministerialdirektor a. D., Professor für Rechtswissenschaft, insbesondere Familien- und Jugendhilferecht, am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule RheinMain, Wiesbaden Der 14. Kinder- und Jugendbericht Überblick über Ziele, Strukturen und wesentliche Inhalte Der Autor dieses Beitrages war Vorsitzender der Sachverständigenkommission der Bundesregierung für den 14. Kinder- und Jugendbericht (14. KJB) und gibt im Folgenden einen Überblick über Ziele, Strukturen und wesentliche Inhalte des Berichts. Dabei wird auf die jeweiligen Teile und Kapitel des 14. KJB verwiesen und im Wesentlichen auf weitere Zitate verzichtet. Einleitung Die von der Bundesregierung berufene und am 4. Juni 2010 von der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder, in ihre Arbeit eingeführte Sachverständigenkommission hat am 22. 8. 2012 nach 50 Sitzungstagen den 14. Kinder- und Jugendbericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe vorgelegt, den die Bundesregierung gemäß § 84 SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat am 30. 1. 2013 mit ihrer Stellungnahme vorgelegt hat. Jeder dritte Kinder- und Jugendbericht soll einen Überblick über die Gesamtsituation der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland vermitteln. Der 14. KJB stellt wiederum einen solchen (sehr umfang- und materialreichen) Gesamtbericht (Bundestagsdrucksache 17/ 12200) dar, der in Kürze auch in Form einer Broschüre des Bundesministeriums für Familie, Senioren Frauen und Jugend vorliegen wird. Er ist der fünfte Bericht dieser Art; ebenfalls Gesamtberichte waren der Erste (1965), der Fünfte (1980) und der Achte (1990) Jugendbericht sowie der Elfte Kinder- und Jugendbericht (2001). In einer dem Bericht vorangestellten, knapp gehaltenen Zusammenfassung wird versucht, in einer auch für Nichtfachleute verständlichen Form schlaglichtartig wesentliche Entwicklungen und Herausforderungen zu skizzieren. Mitglieder der Sachverständigenkommission für den 14. KJB waren: ➤ Prof. Dr. Dr. Reinhard Joachim Wabnitz, Ministerialdirektor a. D.: Hochschule RheinMain, Wiesbaden, Fachbereich Sozialwesen (Vorsitzender) 170 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht ➤ Prof. Dr. Sabine Andresen: J.-W.-Goethe- Universität, Frankfurt am Main, Fachbereich Erziehungswissenschaften ➤ Gaby Hagmans: Sozialdienst Katholischer Frauen, Bundesgeschäftsführerin ➤ Prof. Dr. Nadia Kutscher: Katholische Hochschule NRW, Köln, Fachbereich Sozialwesen ➤ Prof. Dr. Thomas Olk: Martin-Luther-Universität, Halle/ Wittenberg, Fachbereich Sozialpädagogik und Sozialpolitik ➤ Prof. Dr. Thomas Rauschenbach: Direktor und Vorstandsvorsitzender des Deutschen Jugendinstituts ➤ Prof. Klaus Schäfer: Staatssekretär a. D. (stellvertretender Vorsitzender) ➤ Prof. Dr. Bernd Seidenstücker: Hochschule Darmstadt (bis Juli 2011) ➤ Prof. Dr. C. Katharina Spieß: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung und Freie Universität Berlin ➤ Wolfgang Trede: Leiter des Amts für Jugend und Bildung des Landkreises Böblingen Ständiger Gast war (seit Juli 2011): Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner, Ministerialrat a. D. Mitglieder der Arbeitsgruppe am Deutschen Jugendinstitut waren: Dr. Sabrina Hoops (ab 1. 9. 2011), Dr. Christian Lüders, Dr. Hanna Permien (bis 31. 12. 2011), Birgit Riedel, Dr. Ekkehard Sander und Susanne Schmidt-Tesch (Sachbearbeitung). Aufgabe und Funktionen von Kinder- und Jugendberichten Man kann meiner Meinung nach - wenn auch nicht immer analytisch trennscharf voneinander - mehrere Funktionen von Kinder- und Jugendberichten nach § 84 SGB VIII unterscheiden: ➤ Analysefunktion; dabei geht es um die Aspekte Bestandsaufnahme, Interpretation und Bewertung der Situation und der Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und deren Familien sowie um die Situation der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland; ➤ Fachliche Impulsfunktion; dabei geht es um die von den (Kinderund) Jugendberichten ausgehenden Anstöße im Hinblick auf die Gesetzgebung, die finanzielle Förderung und auf die Fachpraxis der Kinder- und Jugendhilfe; ➤ Publizitätsfunktion; dabei geht es um die Frage, ob es gelungen ist, das jeweilige Anliegen von jungen Menschen bzw. der Kinder- und Jugendhilfe in die Öffentlichkeit zu transportieren; ➤ Politisierungsfunktion; dabei geht es um die Frage, ob der jeweilige (Kinderund) Jugendbericht und/ oder die dazu vorgelegte Stellungnahme der Bundesregierung zu einem „Aufrütteln“ in der fachpolitischen Auseinandersetzung und ggf. in der allgemeinen Öffentlichkeit bzw. zu einer „Politisierung“ mit dem Ziel bzw. dem Ergebnis beigetragen haben, neue Ideen durchzusetzen oder mehr finanzielle Mittel bereitzustellen; ➤ Legitimationsfunktion; dabei geht es um die Frage, ob (Kinderund) Jugendbericht und/ oder Stellungnahme der Bundesregierung dazu geeignet waren, bestimmte Entwicklungslinien oder getroffene Entscheidungen argumentativ abzusichern, zu bestätigen bzw. als richtungsweisend zu legitimieren. Nach meiner Auffassung ist der Mehrzahl der bisherigen (Kinderund) Jugendberichte Erfolg im Sinne der gekennzeichneten Analyse-, Impuls- und Publizitätsfunktionen zuzusprechen. Kinder- und Jugendberichte nach § 84 SGB VIII sind in der Regel von erheblicher Bedeutung für die Fachdiskussion innerhalb der Profession sowie für Standortbestimmung und Fortentwicklung der KJH. Ob diese auch Öffentlichkeitswirkung sowie politische Wirkungen zu entfalten in der Lage waren, hing maßgeblich auch von zeitlichen, politischen und 171 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht finanziellen Rahmenbedingungen ab. Wie dies alles mit Blick auf den 14. KJB zu beurteilen ist, wird die nunmehr beginnende Fachdiskussion zeigen. Die leitende Perspektive für den 14. KJB Im ersten der vier Berichtsteile A, B, C und D (mit durchlaufend nummerierten Kapiteln 1 bis 16): „Kindheit und Jugend im Wandel“ werden die konzeptionellen Grundlagen für den 14. KJB gelegt. Gleichsam als „Einstieg“ in die breit angelegte Gesamtthematik werden in Kapitel 1 zunächst wesentliche Rahmenbedingungen von Kindheit und Jugend in Deutschland umrissen. Der 14. KJB steht unter dem Leitmotiv: „Kinder- und Jugendhilfe in neuer Verantwortung.“ Darin spiegelt sich zweierlei wider: ➤ Die Kinder- und Jugendhilfe trägt heute zum Gelingen des Aufwachsens nahezu aller Kinder und Jugendlichen bei und ist als sozialstaatliches Leistungsfeld „in der Mitte der Gesellschaft“ und damit in „neuer Verantwortung“ angekommen. ➤ Die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe müssen zugleich in „neuer“, verschränkter Form von öffentlicher sowie von privater Verantwortung wahrgenommen werden. In Kapitel 2 wird die leitende Perspektive für den Bericht näher entfaltet. Der 14. KJB knüpft dabei an den Elften KJB an, der „Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in öffentlicher Verantwortung“ explizit zum Thema gemacht hatte. Nachdem in der vergangenen Dekade im Zusammenhang mit einem erheblichen Ausbau der Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland das Ausmaß der Wahrnehmung von öffentlicher Verantwortung bereits deutlich zugenommen hat, ist es nach Auffassung der Kommission für den 14. KJB jedoch nunmehr angezeigt, stärker auf die Verschiebungen im Verhältnis zwischen privater und öffentlicher Verantwortung einzugehen und dabei insbesondere zwischen ➤ der Wahrnehmung von staatlicher öffentlicher Verantwortung, ➤ der Wahrnehmung von Verantwortung im öffentlichen Raum durch den Dritten Sektor, insbesondere durch die Träger der freien Jugendhilfe, ➤ sowie durch den Markt ➤ und schließlich der Wahrnehmung von privater Verantwortung insbesondere durch Eltern und Familie zu differenzieren. Die Veränderungen der Verantwortlichkeiten gehen tiefer und sind differenzierter, als vielfach wahrgenommen wird. Im 14. KJB ist deshalb detailliert herausgearbeitet worden, dass bei der Wahrnehmung der genannten Verantwortlichkeiten jeweils spezifische Verschränkungen von öffentlicher und privater Verantwortung und die Entwicklung jeweils adäquater „Mischungsverhältnisse“ mit Blick auf die einzelnen Herausforderungen und Aufgabenfelder geboten sind. Die Eröffnung individueller Lebenschancen für junge Menschen stellt zudem eine differenzierte Gestaltungsaufgabe in privater und öffentlicher Verantwortung dar - mit den Zielen der Herstellung gleicher Lebenschancen und des Abbaus herkunftsbedingter Ungleichheiten durch Förderung junger Menschen von Anfang an, ihrer Befähigung zur gesellschaftlichen Teilhabe durch Förderung ihrer Entwicklung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten und der Gewährleistung der dafür erforderlichen strukturellen Rahmenbedingungen. Diese leitende Perspektive zieht sich leitmotivisch durch den gesamten Bericht. Zugleich wird immer wieder auch der Frage nachgegangen, wie sich soziale Ungleichheiten entwickelt und aufgrund von sozialstaatlicher Intervention ggf. sogar noch verstärkt haben - und was ggf. zum Abbau derselben geboten erscheint. 172 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Nach dem grundlegenden Teil A des Berichts folgen zwei umfangreiche Berichtsteile B und C. In Teil B werden die Lebenslagen von jungen Menschen in Deutschland beschrieben und analysiert. Dazu werden in Kapitel 3 zunächst altersübergreifende Rahmendaten zu den Feldern Demografie, Migration sowie Armuts- und Risikolagen präsentiert. Die folgenden Kapitel 4, 5 und 6 sind sodann den Altersphasen Kindheit, Jugend und junge Erwachsene gewidmet. Kapitel 4 behandelt die ersten zehn Lebensjahre von Kindheit („Familienkindheit - betreute Kindheit“), unterteilt in die drei Altersphasen des frühen, mittleren und späten Kindheitsalters. In Kapitel 5 wird die zweite Lebensphase, die zwischen Kindheit und jungem Erwachsenenalter liegt und als das Jahrzehnt der Jugend bezeichnet wird, im Einzelnen dargestellt („Das Jahrzehnt der Verselbstständigung“). In Kapitel 6 wird das junge Erwachsenenalter („Von der Pflicht zur Option“) behandelt, nämlich die Lebensphase vom allgemeinbildenden Schulsystem bis zum Übergang in Erwerbsarbeit und Familie. In einem kürzeren Kapitel 7 wird schließlich auf die Kumulation von Benachteiligungen beim Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen eingegangen. Allgemeine Bemerkungen Für die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland ist Kindheit und Jugend eine gute Kindheit und Jugend; mit Blick auf eine keinesfalls kleine Minderheit der jungen Menschen ist dies jedoch vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit, sozialer Benachteiligungen und individueller Beeinträchtigungen, ungünstiger Bildungs- und Entwicklungschancen und Armut nicht so. Zu beobachten ist also ein Nebeneinander von Zukunftsoptimismus aufgrund einer guten eigenen Ausbildung und einer wirtschaftlichen Sicherheit des Elternhauses auf der einen Seite und einer schwierigen, kaum Perspektiven verheißenden Bildungsbiografie sowie eines prekären, mit geringem kulturellen Kapital ausgestatteten Elternhauses auf der anderen Seite. Mit Blick auf beide Gruppen von jungen Menschen versucht der 14. KJB, ein aktuelles und differenziertes Lagebild zu zeichnen und Zukunftsperspektiven zu skizzieren. Einzelaspekte dabei sind: Familiale Verantwortung im Wandel Obwohl sich die öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen junger Menschen in den vergangenen Jahren ausgeweitet hat, bleibt die Familie das mit Abstand einflussreichste„Soziotop“ für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. In der privat-familialen Lebenswelt erfolgen nach wie vor die wichtigsten Entwicklungen, die das Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen betreffen. Gleichwohl ist festzustellen, dass sich die Anforderungen an Familien verändert haben. Bildeten sie früher im Koordinatensystem des Aufwachsens den Mittelpunkt, sind nun in diesem System weitere zentral bedeutsame Punkte entstanden. So führt der Ausbau der Betreuung für Kinder unter und über drei Jahren dazu, dass die öffentlichen Akteure im Leben der Kinder stärker präsent sind. Dennoch werden Eltern dadurch nicht bedeutungslos, im Gegenteil: sie müssen nun neue Entscheidungen treffen - etwa eine Einrichtung der Kindertagesbetreuung auswählen, einen von ihnen als angemessen betrachteten Startzeitpunkt des Kindes in die institutionelle Betreuung festlegen oder die Kommunikation mit dem Personal der Kindertagesbetreuungseinrichtung regeln. Erziehende Eltern müssen verstärkt in Außenbeziehungen agieren - im Unterschied zu früheren Generationen, die sich deutlich mehr in familialen Binnenwelten bewegen konnten. Kinder erleben damit keine reine„Familienkindheit“ mehr, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten in Westdeutschland üblich war. Sie wachsen in einer „betreuten Kindheit“ auf. In der 173 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht Summe werden ihre Lebenswelten offener, pluraler, individueller, vorläufiger. Die Einbindung der Kinder und Jugendlichen in ein wertgebunden stabiles Koordinatensystem wird fragiler. Familial geprägte Muster der Lebensführung und Milieus werden zudem vielfach ergänzt, durchbrochen oder fragmentiert durch kinder- und jugendkulturell inszenierte Ausdrucksformen, Stile und Präferenzen (vgl. Kap. 4 und 5.2). Familie im Jugendalter Trotz immer wieder zu hörender „Urteile“ über Jugendliche, was ihre Beziehung zur Familie anbelangt, hat Familie auch für Jugendliche immer noch eine sehr große Bedeutung (siehe Kap. 5.2). Nicht nur, weil sie selber größtenteils eine Familie anstreben, sondern auch, weil sich diese auch noch im Jugendalter zumeist als zentraler Ort der emotionalen Unterstützung und der persönlichen Beratung erweist. Familienleben ist ein unverändert außerordentlich wichtiger und von außen nicht selten unterschätzter Teil jugendlichen Lebens. So unterstützt elterliche Präsenz und Wärme nachhaltig die erfolgreiche Entwicklung von jugendlicher Selbstständigkeit. Das Erziehungsklima in den Familien dieser „erfolgreich selbstständigen“ Jugendlichen wird häufig geprägt durch starkes Einfühlungsvermögen der Mütter und Väter in die Bedürfnisse der Jugendlichen; auch sind diese Eltern engagiert und interessiert, was sich in einer nicht-aufdringlichen Form des Bescheid-Wissens und des Nachfragens nach FreundInnen, Entwicklungen in der Schule und vielem anderen bemerkbar macht. Bildung ist mehr als Schule und Kindheit mehr als Kompetenzerwerb Es kennzeichnet die Zeit nach PISA, dass die bildungspolitischen Diskussionen mehr von einer Beschleunigung der Bildungsbiografien geprägt waren und zugleich das Aufwachsen sehr stark unter dem Aspekt des Kompetenzerwerbs und der„Stärkung des Humankapitals“ gesehen wurde. Dieses reduzierte und instrumentelle Verständnis von Bildung hält jedoch den tatsächlichen gesellschaftlichen Anforderungen an Bildungsförderung nicht stand. Der Bericht macht deutlich, dass Bildung längst keine alleinige Aufgabe von Schule, sondern dass„Bildung mehr als Schule ist“ und neben den kognitiven Lerngrundlagen vor allem auch personale, soziale und instrumentelle Aspekte beinhalten muss (siehe Kap. 5.3). Nur wenn Kinder und Jugendliche in allen diesen Feldern lernen und ihre Persönlichkeit entwickeln, erwerben sie das, was man allgemeine Lebensführungskompetenz nennt. Auch hier sind neben einer öffentlichen Verantwortungsübernahme zivilgesellschaftliche und private Akteure in hohem Maß beteiligt. Medien Ein besonders auffälliges und in den letzten zehn Jahren weiter deutlich gewachsenes Merkmal des Aufwachsens ist die Nutzung der Medien bereits bei Kindern, vor allem aber bei Jugendlichen (siehe Kap. 4.4.7; 5.5). Die Vielfalt der heute von Jugendlichen genutzten Medien ist nahezu unüberschaubar geworden. Internet und soziale Netzwerke ermöglichen Gemeinschaft und schaffen Räume wechselseitiger Anerkennung durch Gleichaltrige. Sie gewähren den Jugendlichen Handlungswirksamkeit und Mobilität, ohne dass sie dazu ihr Elternhaus verlassen müssen: Jugendliche können sich durch mediales Handeln im Internet weitgehend von ihren Eltern abgrenzen, ohne einen Schritt vor die Wohnungstür zu machen. Eltern sind in der Bewertung dieser Entwicklungen ambivalent; viele von ihnen sehen sie eher als bedrohlich an. Trotz durchaus erkennbaren Risikoverhaltens bei einer kleineren Gruppe von Jugendlichen zeichnet sich ein überwiegend verantwortungsvoller Umgang ab. Allerdings wirken auch hier ungleiche Bedingungen. Und besondere Gefahren liegen im Bereich der Datensicherheit und der „Enteignung von Privatheit“ in sozialen Netzwerken. 174 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht Soziale Ungleichheiten prägen den Alltag vieler junger Menschen Die sozialen und kulturellen Verhältnisse sowie die regional unterschiedlichen Auswirkungen des demografischen Wandels sind es in besonderer Weise, die das Aufwachsen prägen, für die einen mit vielen Chancen und Möglichkeiten, für die anderen mit erheblichen Risiken und mit der Folge von Niederlagen. Es sind gerade diese Unterschiede, die die Lage von Kindern und Jugendlichen prägen und ihre Zukunft bestimmen, in sozialer, kultureller und beruflicher Hinsicht (siehe Kap. 3.3; 4.4.2; 5.1.3; 6.5). Ein ganz überwiegender Teil der Heranwachsenden kann auf eine zufriedenstellende Zukunft in beruflicher, sozialer und kultureller Hinsicht blicken. Aber fast jeder dritte junge Mensch kommt aus einem Elternhaus, das entweder von Armut bedroht ist oder in dem die Eltern keiner Erwerbstätigkeit nachgehen oder aber wo diese selbst keine ausreichenden Schulabschlüsse haben. Zwar sind nur bei ca. drei Prozent aller Kinder und Jugendlichen alle drei genannten Risikofaktoren präsent, jedoch bei deutlich mehr Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Im letzten Jahrzehnt hat sich zudem zwar das Armutsrisiko von Kindern nicht weiter verstärkt, ist jedoch bei der Gruppe der Jugendlichen und insbesondere der jungen Erwachsenen gestiegen. Damit geht einher, dass sich die Einkommensposition der jungen Menschen im oberen Bereich der Einkommensskala in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert hat. Die ökonomische Ungleichheit ist offensichtlich nicht nur bei Erwachsenen größer geworden - auch Kinder, Jugendliche und besonders junge Erwachsene in der Bundesrepublik Deutschland sind davon betroffen. Diese Kluft charakterisiert die Lebensverhältnisse des Kindes- und Jugendalters heute deutlicher als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten (vgl. Kap. 3.3, 4.4.2, 5.1.2, 6.5). Weitere Aspekte Der Bericht analysiert zahlreiche weitere Facetten und Spannungsfelder von Kindheit und Jugend (siehe Kap. 4 bis 7), u. a.: die zentralen Altersphasen von Kindheit im Einzelnen: die frühe, die mittlere und die späte Kindheitsphase; die Welten Jugendlicher: Familie, Schule, Gleichaltrigengruppen und Medien; junges Erwachsenenalter: von der Pflicht zur Option; Wege in die berufliche Ausbildung und an die Hochschulen - erstmals in einem Jugendbericht auch mit detaillierten Analysen über junge Erwachsene im Studium; von der Herkunftsfamilie zu einer eigenen Familie; politische Beteiligung und freiwilliges Engagement; demografische Entwicklungen; Migration und vieles mehr. Kinder- und Jugendhilfe Anders als der Elfte KJB enthält der 14. KJB auch einen eigenständigen und zudem ebenfalls sehr umfangreichen Teil C über Strukturen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe im Wandel. Dies ist nicht nur dem gesetzlichen Auftrag geschuldet, sondern es ist auch von der Sache her geboten, die Strukturen und Leistungen des stark expandierenden, in die „Mitte der Gesellschaft“ gerückten Aufgabenfeldes der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur „zersplittert“ im Anschluss an einzelne Aspekte von Lebenslagen darzustellen, sondern aus sich heraus gleichsam„aus einem Guss“. In den Teil C wird mit einem kürzeren Kapitel 8 eingeführt, in dem die Kinder- und Jugendhilfe in ihren wesentlichen internen und externen Spannungsfeldern vermessen wird. In Kapitel 9 werden die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe problemorientiert dargestellt, im Wesentlichen in den Dimensionen Recht, Finanzen, Personal und Trägerstrukturen. Das anschließende Kapitel 10 ist dem breiten Leistungsspektrum der modernen Kinder- und Jugendhilfe gewidmet. 175 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht Bedeutung und Stellung der Kinder- und Jugendhilfe haben sich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts spürbar verändert. Mehr denn je zuvor ist sie zu einem Gegenstand öffentlicher Erörterung geworden. Dies gilt zuallererst für den gesamten Bereich der Kindertagesbetreuung. Aber auch Fragen des Kinderschutzes und der frühen Hilfen sind in den letzten Jahren zu einem breit erörterten Thema geworden. Hinzu kommt die deutlich wichtiger werdende Rolle der Kinder- und Jugendhilfe im Umfeld von Schule, im Rahmen der Schulsozialarbeit ebenso wie im Kontext der Ganztagsschule und des Gesundheitswesens. Und wie nie zuvor wird die noch „junge“ Kinder- und Jugendhilfe in ihren verschiedenen Funktionen öffentlich so stark wahrgenommen und von so vielfältigen Akteuren als eigenständiger Partner anerkannt wie im letzten Jahrzehnt. Dabei wendet sich der 14. KJB auch denjenigen Entwicklungen und Spannungsfeldern genauer zu, die das aktuelle Profil und die Identität einer modernen Kinder- und Jugendhilfe zu Beginn des 21. Jahrhunderts zusätzlich herausfordern, nämlich insbesondere die folgenden (siehe Kap. 8): ➤ Kinder- und Jugendhilfe zwischen Hilfe, Kontrolle und Bildung ➤ Kinder- und Jugendhilfe zwischen Entgrenzung und heterogenen Handlungslogiken ➤ Kinder- und Jugendhilfe zwischen staatlicher Verantwortung und Zivilgesellschaft ➤ Kinder- und Jugendhilfe zwischen Lebensweltnähe und fachlicher Distanz ➤ Kinder- und Jugendhilfe zwischen Subjekt- und Sozialraumorientierung ➤ Kinder- und Jugendhilfe zwischen normativer Orientierung und empirischer Fundierung Tendenzen einer „Entgrenzung“ der Kinder- und Jugendhilfe, etwa bei der stärkeren Kooperation mit der Schule, der Ausweitung der Ganztagsschulen, der Schulsozialarbeit, der Jugendberufshilfe und zu einzelnen Feldern des Gesundheitswesens sind einerseits zu begrüßen, denn in der Kooperation der unterschiedlichen Disziplinen liegt eine große Chance. Andererseits bedeutet dies aber auch, dass die Kinder- und Jugendhilfe ihre Eigenständigkeit immer wieder betonen und herausstellen muss. Dies heißt letztlich nichts anderes, als dass sie selbstbewusst zu ihren Leistungen stehen, die Besonderheit ihres Wirkens deutlich herausstellen und ihr fachliches Profil dementsprechend schärfen muss. Strukturen und Rechtsgrundlagen der Kinder- und Jugendhilfe Rechtsgrundlagen Spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist das SGB VIII als ein modernes, präventiv ausgerichtetes Leistungsgesetz in der Fachöffentlichkeit und auch von den politisch Verantwortlichen breit akzeptiert (vgl. Kap. 9.1 - erstmals in einem Kinder- und Jugendbericht mit eingehenden Analysen der rechtlichen Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe mit Vorschlägen zu deren Weiterentwicklung; siehe Kap. 13.1). Seit 1992 wurde das SGB VIII aufgrund von 40 Änderungsgesetzen in zahlreichen Punkten weiter verbessert, u. a. durch Schaffung zusätzlicher Rechtsansprüche und neuer Strukturvorschriften im Bereich der Kindertagesbetreuung, des Kinderschutzes, der Beratungsangebote, der Eingliederungshilfe, der teil- und vollstationären Einrichtungen und der Steuerungsmöglichkeiten der Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Die Entwicklungen des SGB VIII einschließlich des Landesrechts, des Familienrechts und die Diskussion um die Kinderrechte können aufs Ganze gesehen als Indikatoren einer deutlich gewachsenen Wahrnehmung von öffentlicher Verantwortung und Wahrnehmung von Verantwortung im öffentlichen Raum für ein gelingendes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland verstanden werden - bei partieller Relativierung der Verantwortung im privaten Bereich einerseits und auch immer wieder beobachtbaren punktuellen ge- 176 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht genläufigen Entwicklungen andererseits. Dies alles spiegelt zugleich deutlich eine auf Aktivierung aller Bildungspotenziale sowie auf die Entwicklung von Kompetenzen und Fähigkeiten junger Menschen abzielende Kinder-, Jugend- und Familienpolitik wider. Aufgaben, Ausgaben und Finanzierung Die Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe (siehe Kap. 9.2) sind in den vergangenen 20 Jahren - bei einer rückläufigen Anzahl der unter 27-Jährigen - deutlich angestiegen, und zwar im Zeitraum von 1992 bis 2010 von umgerechnet ca. 15 Mrd. € auf knapp 28,9 Mrd. €. Dies entspricht einem nominalen Ausgabenanstieg von ca. 93 %, preisbereinigt von etwa 45 %.Die mit Abstand größten Ausgabensteigerungen haben im Bereich der Kindertageseinrichtungen stattgefunden, in den 1990er Jahren infolge des Kindergartenrechtsanspruchs und seit 2005 aufgrund des von Bund, Ländern und Gemeinden politisch gewollten Ausbaus der Betreuungsangebote für die unter Dreijährigen, zuletzt auf nicht ganz 17,4 Mrd. €. Sehr deutliche Ausgabensteigerungen sind auch im Bereich der Hilfen zur Erziehung und verwandter Leistungen zu verzeichnen; hier haben sich die Aufwendungen zwischen 1995 und 2010 fast verdoppelt - auf ca. 7,5 Mrd. €. Dementsprechend belaufen sich die Ausgaben nur für diese beiden größten Leistungsbereiche auf nunmehr insgesamt über 86 % der Gesamtausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe. Demgegenüber sind die Ausgaben für den drittgrößten Leistungsbereich, die Kinder- und Jugendarbeit, nicht dementsprechend gestiegen; von den Gesamtausgaben der Kinder- und Jugendhilfe hat sich ihr prozentualer Anteil von ca. 8 % Anfang der 1990er Jahre sogar auf nunmehr unter 6 % im Jahre 2010 reduziert. Die Verteilung der Gesamtausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe nach den staatlichen Ebenen zeigt sich für die letzten Jahre stabil. Rund 70 % (in den Flächenstaaten sogar ca. 80 %) werden von den Kommunen sowie etwas weniger als 30 % von den Ländern finanziert (bei einem Bundesanteil von ca. 1 bis 2 %). Der Anteil der Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe in den Kommunen beläuft sich inzwischen auf ca. 14 % ihrer Gesamtausgaben; Anfang der 1990er Jahre lag diese Quote noch bei 9 %. In keinem anderen kommunalen Aufgabenfeld hat es so hohe Steigerungen gegeben wie im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe - absolut und relativ! Die wesentlichen Entwicklungen im Bereich der Aufgaben, Ausgaben und deren Finanzierung in der Kinder- und Jugendhilfe in den vergangenen Jahren lassen sich wie folgt komprimieren (Kap. 9.2.5): gestiegene Erwartungen an dieses Aufgabenfeld, eine deutliche Ausweitung von Aufgaben sowie eine im Lichte wachsender öffentlicher Verantwortung deutliche Steigerung der Ausgaben einerseits, die andererseits zu einer wachsenden und mancherorts kaum noch zu bewältigenden Herausforderung für die öffentlichen Hände geführt hat, zuallererst auf der kommunalen Ebene. In der Konsequenz bedeutet dies, dass je erfolgreicher in diesem Feld öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen für Kinder und Jugendliche übernommen wird, umso mehr droht die Kinder- und Jugendhilfe zu einem fiskalischen Dauerproblem zu werden. Die Finanzierungsverantwortung der Kommunen ist auch deshalb in eine Schieflage geraten, weil die Ursachen für die Inanspruchnahme von Hilfe überwiegend nicht mehr„individueller Natur“ sind, sondern weil aufgrund bundespolitischer Weichenstellungen quasi „flächendeckend“ die Schaffung und Vorhaltung von Infrastrukturen für ganze Bevölkerungsgruppen erforderlich geworden ist. Von daher stellt sich heute deutlich stärker als früher die Frage nach der Angemessenheit der weit überwiegend kommunalen Zuständigkeit für die Kinder- und Jugendhilfe-Finanzierung bzw. nach einer dauerhaft stärkeren Einbeziehung der Landes- und Bundesebene, insbesondere in die Finanzierung der Kindertagesbetreuung. 177 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht Ergänzt wird die öffentliche Finanzierung der Kinder- und Jugendhilfe durch die Unterstützung von nicht-öffentlichen Institutionen, insbesondere die Kirchen, sowie durch die stark wachsende Zahl privater Stiftungen und Spender, mit denen sich der 14. KJB - erstmals im Rahmen eines solchen Berichts - ebenfalls näher befasst hat. So wichtig und begrüßenswert dieses zivilgesellschaftliche Engagement auch ist, so mangelt es doch zum einen oftmals an einer Abstimmung zwischen den Fördersystematiken und den Förderschwerpunkten von Stiftungen sowie anderer Akteure im Feld und zum anderen zu den Regelangeboten. Deshalb ist ein verbessertes Zusammenwirken zwischen Stiftungen und der öffentlichen Hand über die Umsetzung von Stiftungszwecken und das Setzen von Förderschwerpunkten geboten. Personal der Kinder- und Jugendhilfe Die Personalstärke der Kinder- und Jugendhilfe hat inzwischen einen historischen Höchststand erreicht: Heutzutage sind dort mehr als eine dreiviertel Million Menschen in Deutschland beschäftigt (Kap. 9.3). Dies ist - mit Blick auf Westdeutschland - in dreieinhalb Jahrzehnten weit mehr als eine Verdoppelung des Personalstandes auf nunmehr über 600.000. In Ostdeutschland hatte sich der Personalbestand in den 1990er Jahren gegenüber der Wendezeit allerdings glatt halbiert, um in der Mitte des vergangenen Jahrzehnts wieder ausgeweitet zu werden. Insgesamt ist die Kinder- und Jugendhilfe inzwischen zu einem eigenen Teilarbeitsmarkt, zu einer eigenen Branche geworden. Trotz der insgesamt anhaltenden Personalexpansion in den letzten Jahren deuten sich jedoch in der Binnenanalyse der Kinder- und Jugendhilfe in mehrfacher Hinsicht disparate, ungleiche Entwicklungen an. Einem, so vor einem Jahrzehnt nicht erwartbaren, erneuten Personalausbau im Bereich der Kindertageseinrichtungen im Zuge des U3-Ausbaus steht ein stagnierendes und zeitweilig sogar zurückgehendes Personalvolumen in anderen Feldern, insbesondere in der Kinder- und Jugendarbeit, gegenüber. Zumindest ambivalent einzuschätzen ist darüber hinaus auch der in weiten Teilen der Kinder- und Jugendhilfe zu beobachtende Rückgang an Vollzeitbeschäftigungsverhältnissen und damit der hohe Anteil an Teilzeitbeschäftigungen. Unter fachlichen Aspekten ist zudem weiterhin auffällig, dass der Anteil von Fachkräften mit Migrationshintergrund insgesamt nicht ausreichend ist. Auch wenn die entsprechenden Werte in Anbetracht eines so stark geschlechtsspezifisch segregierten Arbeitsmarktes nicht überraschen mögen - und einmal mehr die ungleichen Folgen der vorhandenen Vereinbarkeitsprobleme von Beruf und Familie für viele berufstätige Mütter signalisieren -, so müssen doch zugleich die möglichen Nebenwirkungen in punkto Image, Professionalität und Fachlichkeit beachtet werden. Jedenfalls sind ähnlich dominante Anteile an Teilzeitbeschäftigungen in anderen hoch qualifizierten Branchen und Berufssegmenten ungewöhnlich. Zudem haben diese Entwicklungen zu einer erheblich gestiegenen Ungleichheit bei der Beschäftigung und Bezahlung von Fachkräften in Vollbzw. Teilzeitbeschäftigung und zu Friktionen bei den Arbeitsabläufen in den Einrichtungen beigetragen. Trägerlandschaft im Umbruch? Die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland ist traditionell und nach wie vor gekennzeichnet durch ein breites Spektrum von unterschiedlichen Trägern der freien Jugendhilfe, die insgesamt den weitaus größten Teil der Leistungen nach dem SGB VIII erbringen. Es handelt sich nach wie vor überwiegend um ein historisch gewachsenes, plurales Trägerspektrum, das zudem durch horizontale und vertikale Zusammenschlüsse auf überörtlicher, Landes- und Bundesebene vernetzt ist. Zwischen den Gruppen der öffentlichen, freigemeinnützigen und 178 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht privatgewerblichen Träger sowie mit Blick auf deren Rechtsformen haben sich in den letzten Jahren keine gravierenden Verschiebungen ergeben (Kap. 9.4). Nach wie vor liegt - ganz im Sinne des bewährten Subsidiaritätsprinzips - das Verhältnis zwischen den beiden großen Gruppen der freigemeinnützigen und der öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Westdeutschland bei etwa 2 zu 1. Die Situation in den ostdeutschen Bundesländern hat sich der der westdeutschen Bundesländer stark angenähert. Auch an der partnerschaftlichen Zusammenarbeit von öffentlicher und freier Jugendhilfe hat sich im Kern nichts Wesentliches verändert. Auffällig sind einzig leichte Verschiebungen in den Binnenverhältnissen: So entpuppt sich der Paritätische Wohlfahrtsverband nicht nur als der eigentliche„Marktgewinner“ des letzten Jahrzehnts, da er die größten Zuwachsraten zu verzeichnen hat und in Ostdeutschland zum Hauptanbieter an Einrichtungen innerhalb der Gruppe der freien Träger geworden ist. Auch wenn, jenseits der kommunalen Einrichtungen, die eingetragenen Vereine nach wie vor den typischen Kern der Einrichtungsarten innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe bilden, haben die gemeinnützigen GmbHs leicht zugenommen, neben der „diffusen“ Gruppe der sonstigen juristischen Personen. Die Anzahl der Jugendämter in Deutschland ist auf 563 im Jahre 2011 zurückgegangen, im Wesentlichen bedingt durch Gebietsreformen in den neuen Bundesländern mit dem Ergebnis eines Rückgangs der Anzahl der kommunalen Gebietskörperschaften auf der Kreisstufe und durch „Rückgaben“ von Trägerschaften der öffentlichen Jugendhilfe durch einzelne kreisangehörige Städte in den westdeutschen Bundesländern. Gleichwohl ist die Zahl der dort Beschäftigten gestiegen. Und trotz zahlreicher organisatorischer Veränderungen in den vergangenen Jahren haben fast 90 % der Ämter die „Marke“ Jugendamt als Behördenbezeichnung beibehalten. Von einem „Zerfall“ einheitlicher, für die Kinder- und Jugendhilfe insgesamt zuständiger Organisationseinheiten kann deshalb nicht die Rede sein. Die meisten Jugendämter fungieren auch nach der Föderalismusreform I weiterhin als sozialpädagogische Fachbehörde und haben sich zumeist als von der Bevölkerung eindeutig identifizierbare, einheitliche Behörde konsolidiert, die für die jeweilige Gebietskörperschaft die Gesamtverantwortung für alle Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und den Schutz von Minderjährigen vor Gefahren für ihr Wohl wahrnimmt. Auffällig aber ist, dass es zu engeren Verbindungen zwischen den verschiedenen Ämtern vor Ort gekommen ist und häufig das Jugendamt in einem Verbund unterschiedlicher Ämter agiert. Analoges kann von den Landesjugendämtern auf der überörtlichen Ebene leider nicht durchgängig gesagt werden. Es ist insgesamt zu bedauern, dass die Bedeutung der Landesjugendämter, deren Personalbestände mehr als halbiert worden sind, in nicht wenigen Ländern eher als gering eingeschätzt wird. Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe im Wandel Generelle Entwicklungen Die Entwicklung der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland verlief in den vergangenen gut 20 Jahren enorm expansiv, sowohl was die Fallzahlen, die Angebotsbreite, das Personal als auch die Ausgaben betrifft (siehe Kap. 9 und 10.1). Zugleich sind die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sehr viel selbstverständlicher und normaler geworden. Inzwischen sind sie ein im Wesentlichen akzeptierter und quantitativ bedeutsamer Bestandteil sozialstaatlicher Leistungen, mit dem Ziel der Bildung, Erziehung und Betreuung, der Unterstützung und des Schutzes junger Menschen. Insofern ist die vor gut zehn Jahren im Elften KJB formulierte Forderung und Prognose, dass das Aufwachsen junger Menschen in 179 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht Deutschland verstärkt auch einer öffentlichen Verantwortung bedarf, nunmehr eine empirisch gut belegbare Tatsache geworden. Immer stärker werden neben Kindern und Jugendlichen auch die Eltern und Familien insgesamt zu Adressaten und Adressatinnen der Kinder- und Jugendhilfe, zum Beispiel im Zuge der Weiterentwicklung von Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren oder im Zusammenhang mit dem enormen Zuwachs der Sozialpädagogischen Familienhilfe oder der Etablierung von Frühen Hilfen. Kinder- und Jugendhilfe ist „in der Mitte der Gesellschaft“ angekommen. Förderung der Erziehung in der Familie Es gibt seit den letzten rund zehn Jahren auch eine deutlich verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit für Fragen der Erziehung in der Familie, eine verstärkte öffentliche Verantwortungsübernahme mit Blick auf die Förderung der Familienerziehung und zugleich ein Verantwortlichmachen von Eltern für eine erfolgreiche Erziehung und Bildung ihrer Kinder (siehe Kap. 10.2). Der zwischenzeitlich erfolgte Ausbau von Angeboten der Eltern- und Familienbildung zielt ganz in diesem Sinne darauf ab, elterliche Erziehungskompetenzen zu stärken, frühe Bildungsprozesse bei Kleinkindern möglichst optimal anzuregen und durch„gute“ Erziehung in der Familie das volle Potenzial der Kinder als zukünftige Leistungsträger der Gesellschaft nutzbar zu machen und gesellschaftliche Folgekosten vermeiden zu helfen. Ähnliches gilt mit Blick auf die zumeist als Eltern-Kind-Zentren oder Familienzentren bezeichneten, vielfältigen neuen Angebote, die sich in der Regel an der Schnittstelle von Kindertagesbetreuung, Familienbildung und Familienhilfe befinden und zumeist als Knotenpunkte im lokalen Netzwerk familienorientierter Hilfen und Angebote verstehen. Frühe Hilfen zielen darauf ab, (werdende) Eltern bei Unsicherheiten und Unterstützungsbedarf rund um Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebensjahre der Kinder voraussetzungslos, d. h. ohne vorherige Klassifizierung in „Risikofamilien“ und „Nicht-Risikofamilien“, zu beraten und zu begleiten. Frühe Hilfen haben in den Jahren nach 2005 innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe einen einzigartigen Bedeutungszuwachs erfahren und sind zudem ein Paradebeispiel für die starken Veränderungen, die sich im Aufwachsen von Kindern in Deutschland zwischen privater und öffentlicher Verantwortung im letzten Jahrzehnt ergeben haben. Staatliche, kommunale, aber auch zivilgesellschaftliche Akteure richten ihre Aufmerksamkeit und ihre Bemühungen zunehmend auf eine Lebensphase, die noch wenige Jahre zuvor als ureigenes Feld privater, elterlicher Verantwortung betrachtet worden ist. Die Frühen Hilfen entwickeln sich zu einem modernen Leistungsfeld, das per se system-, institutionen- und methodenübergreifend handelt: zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitswesen, innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe zwischen allgemeiner Förderung der Erziehung in der Familie, Familienbildung, den Hilfen zur Erziehung und dem Kinderschutzauftrag und gewissermaßen als Baustein einer neuen kommunalen Infrastruktur für Familien. Erziehungs- und Familienberatungsstellen gehören demgegenüber in Westdeutschland schon seit Jahrzehnten und in Ostdeutschland seit der deutschen Vereinigung 1990 zur psychosozialen Infrastruktur von Gemeinwesen. Die Erziehungsberatung ist zudem die mit Abstand am meisten genutzte Art der Hilfe zur Erziehung. Häufig wegen ihrer „Komm-Struktur“ und Mittelschichtsorientierung kritisiert, gibt es auch hier neue Entwicklungen: Online- Beratungsangebote ermöglichen neuen Gruppen Zugang zu fachkundiger Hilfe, und auch Erziehungsberatungsstellen können eine wichtige Brückenfunktion im Feld der Unterstützung der Familienerziehung einnehmen - zwischen Familienbildung, Frühen Hilfen, klassischer ASD-Arbeit des Jugendamts, dem Gesundheitswesen und den Familiengerichten. 180 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht Kindertagesbetreuung Die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern als öffentliche Leistung der Kinder- und Jugendhilfe wurde in den letzten 20 Jahren und insbesondere im letzten Jahrzehnt zu einem zentralen gesellschaftspolitischen und für die Kinder- und Jugendhilfe zum „Mega“-Thema schlechthin, was sich nicht zuletzt an der Fortentwicklung der gesetzlichen Grundlagen gezeigt hat, bis hin zur Einführung eines Rechtsanspruchs auf Förderung von Kindern ab dem vollendeten ersten Lebensjahr zum 1. 8. 2013. Die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Tagespflege (siehe Kap. 10.3) ist das mit Abstand größte Leistungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe und erreicht heute fast alle Kinder ab dem vollendeten dritten Lebensjahr. Die Kindertagesbetreuung hat sich seit dem Elften KJB stark verändert, eine Dynamik, die auch in den nächsten Jahren anhalten wird: Die Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren wurden insbesondere in den westdeutschen Bundesländern bereits deutlich ausgebaut. Die Betreuungsumfänge nehmen zu, ganztägige und flexibel auch Randzeiten des Tages abdeckende Betreuungsmodelle werden immer stärker nachgefragt. In allen Bundesländern wurden Bildungspläne für Tageseinrichtungen sowie Sprachstandserhebungen und Sprachförderprogramme eingeführt. Die Kindertagespflege wurde insbesondere für die Betreuung der unter 3-Jährigen ebenfalls ausgebaut und verlässt nach und nach ihre neben-/ ehrenamtliche Herkunft in Richtung auf eine existenzsichernde berufliche Tätigkeit. Kindertageseinrichtungen haben die Zusammenarbeit mit der Grundschule und den Eltern deutlich intensiviert und auch gemeinsam Bildungspläne von 0 bis 10 Jahren entwickelt sowie den Übergang vom Elementarbereich in die Primarstufe deutlich verbessert. Und in vielen Bundesländern entwickeln sich Kindertagesstätten weiter zu Familienzentren, werden zu einem„integrierten Dienstleister“ für die Familie und verbinden Kindertagesbetreuung mit Familienbildungsangeboten und Treffmöglichkeiten. Im Bereich der Kindertagesbetreuung spiegeln sich die im 14. KJB als zentral identifizierten Entwicklungslinien der Kinder- und Jugendhilfe besonders deutlich wider, nämlich die fundamentalen Verschiebungen und Neujustierungen im Verhältnis des Aufwachsens in privater und öffentlicher Verantwortung und die zunehmende Bedeutung öffentlich verantworteter Orte des Aufwachsens in der frühen und mittleren Kindheit, also zwischen Säuglingsalter und Schuleintritt. Gleichwohl bleiben Mütter, Väter, Großeltern und Geschwister für Kinder nach wie vor die prägenden Bezugs- und Bindungspersonen. Eltern nehmen ihre private Verantwortung für das Aufwachsen ihrer Kinder jedoch viel mehr als früher im „Zusammenspiel“ mit der Wahrnehmung von öffentlicher Verantwortung, von Verantwortung im öffentlichen Raum und (etwa bei der Nutzung von betrieblichen Angeboten) teilweise auch unter Nutzung von marktmäßigen Rahmenbedingungen wahr. Allerdings ist es aufgrund des massiven Ausbaus der Angebote der Kindertagesbetreuung jedenfalls nicht durchgängig zum Abbau von bestehenden Ungleichheiten gekommen. Aufgrund ihrer überproportional häufigen Nutzung durch ressourcenstärkere Eltern und Familien sind mit Blick auf ressourcenärmere Eltern und Familien teilweise sogar bestehende Ungleichheiten verstärkt worden. Kinder- und Jugendarbeit, Jugend- und Schulsozialarbeit, Zusammenarbeit mit Schule Die Kinder- und Jugendarbeit (siehe Kap. 10.4) war auch in der vergangenen Dekade das bedeutendste außerschulische Feld der sozialen, politischen, sportlichen und kulturellen Bildung und der Organisation junger Menschen in selbst gewählten Verbänden und Zusammenschlüssen sowie in Jugendhäusern u. Ä. Kaum ein Handlungsfeld der Kinder- und Ju- 181 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht gendhilfe ist dabei regional so vielseitig und auch unterschiedlich ausgestaltet wie die Kinder- und Jugendarbeit. Die Angebotsdichte ist immer noch enorm. Herausforderungen für die Kinder- und Jugendarbeit zeigen sich aber in vielen Entwicklungen: der demografische Wandel, Veränderungen der Jugendphase, die sich vor allem durch den Ausbau der Ganztagsschulen und der Verkürzung der Schulzeit in der Sekundarstufe ergeben, eine zunehmende Konkurrenz der kommerziellen Angebote mit einer deutlichen Ausweitung der Optionsvielfalt und die soziale Inpflichtnahme für mehr Prävention und steigende Erwartungen an die Rolle der Kinder- und Jugendarbeit als außerschulischer Bildungsort. Die vielfältigen politischen Aktivitäten und gesetzlichen Änderungen im Bereich der frühkindlichen Förderung und des Kinderschutzes haben innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe zu einer deutlichen Akzentverlagerung zugunsten der frühen Kindheit und damit - zumindest indirekt - zu einer „Unterbelichtung“ der Leistungen im Jugendalter, insbesondere im Feld der Kinder- und Jugendarbeit, geführt. Die Jugendsozialarbeit (siehe Kap. 10.5) als weiteres unverändert wichtiges Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe, in ihrem Schwerpunkt an den Übergängen von der Schule in die berufliche Ausbildung und von dort in den Beruf angesiedelt, zielt mit ihren unterschiedlichen Ansätzen auf die wegen sozialer Benachteiligungen oder individueller Beeinträchtigungen besonders förderbedürftigen Jugendlichen und jungen Heranwachsenden ab. Bis heute ist die Jugendsozialarbeit aber unübersichtlich organisiert. Der Großteil der Maßnahmen - insbesondere diejenigen, die sich auf berufsbezogene Angebote konzentrieren - wird über das SGB II und SGB III finanziert, während der Anteil der Aufwendungen für die Jugendsozialarbeit nach dem SGB VIII bei lediglich knapp 1,4 % der Gesamtausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe liegt. Die Schulsozialarbeit hat sich demgegenüber in der vergangenen Dekade dynamisch weiterentwickelt und ist erheblich ausgebaut worden. Weiterhin verbesserungsbedürftig ist die Kooperation zwischen den genannten Feldern sowie der Schulen und Berufsschulen. Verbesserung der Kooperation ist ganz allgemein im Verhältnis von Kinder- und Jugendhilfe und Schule angesagt (siehe Kap. 10.6). Die Einschätzungen darüber, ob sich das Verhältnis inzwischen verbessert hat und bereits von einem fachlichen Miteinander gesprochen werden kann, gehen auseinander und können sich von Schule zu Schule und von Träger zu Träger selbst in gleichen lokalen Zusammenhängen unterscheiden. Dennoch sind verstärkt Pragmatik und Entspannung zu beobachten. Festzustellen ist jedenfalls eine erhebliche Ausweitung und Ausdifferenzierung außerunterrichtlicher Angebote in den Schulen. Die Kinder- und Jugendhilfe ist inzwischen weiter denn je davon entfernt, lediglich als „Lückenbüßer“ zu fungieren und sich fraglos der Schule unterzuordnen. Das System Schule hat gelernt, dass die Partner aus dem außerschulischen Bereich eine große Unterstützung bei der Bewältigung der Alltagsherausforderungen von Schule sein und zu einer lebensweltorientierten Schule einen wichtigen Beitrag leisten können. Dies zeigt sich allmählich auch bei der Entwicklung von Ganztagsschulen und kommunalen Bildungslandschaften, auch wenn hier die Träger der öffentlichen Jugendhilfe vielfach noch nicht so präsent sind, wie dies aus der Perspektive der Kinder- und Jugendhilfe angezeigt wäre. Hilfen zur Erziehung und verwandte Leistungen; Kinderschutz Die Hilfen zur Erziehung und die verwandten Leistungen - die Eingliederungshilfe und die Hilfe für junge Volljährige - haben sich in den vergangenen zwanzig Jahren und insbesondere in der vergangenen Dekade quantitativ und qualitativ sowie in ihrem Differenzierungsgrad erheblich fortentwickelt (siehe Kap. 10.7). Mitt- 182 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht lerweile sind die Fallzahlen deutschlandweit auf ca. eine Million pro Jahr gestiegen, überwiegend im Bereich der Erziehungsberatung sowie der übrigen ambulanten - gesetzlich geregelten wie „unbenannten“ - Hilfearten. Die fundamentalen Verschiebungen im Aufwachsen zwischen privater und öffentlicher Verantwortung während der letzten rund 15 Jahre lassen sich empirisch besonders eindrucksvoll bei der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) nachweisen, wo sich die Fallzahlen nicht weniger als verfünffacht haben. Auch spiegelt sich im Bereich der Hilfen zur Erziehung der aktuelle Kinderschutzdiskurs deutlich wider, der mit einer verstärkten öffentlichen Kontrolle von privater Erziehungs- und Versorgungstätigkeit insbesondere von Alleinerziehenden sowie von Haushalten in Armutslagen einhergeht - ebenso wie auch in den stark gestiegenen Fallzahlen bei den vorläufigen Inobhutnahmen und den familiengerichtlichen Entscheidungen über Eingriffe in das elterliche Sorgerecht. Die stationären erzieherischen Hilfen außerhalb der Herkunftsfamilie (siehe 10.7.3) haben in den Fachdebatten der letzten zehn bis fünfzehn Jahre eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Die fachliche Grundorientierung, gefährdeten Kindern oder Jugendlichen vorrangig in ihrer Familie zu helfen, also Familien unterstützende und begleitende ambulante Hilfen zu organisieren, hat dazu geführt, dass die stationären Hilfen in Deutschland seitens der Kinder- und Jugendhilfe überwiegend als„ultima ratio“ erst eingesetzt werden, wenn nach Einschätzung der Fachkräfte es zu Hause trotz ambulanter oder teilstationärer Hilfe „gar nicht mehr geht“. Bei aller „Ambulantisierung“ ist es dennoch erstaunlich, wie stabil sich die Inanspruchnahme von außerfamiliären Hilfen über einen langen Zeitraum hinweg darstellt. Es ist zu konstatieren, dass die Fremdunterbringung in Pflegefamilien und Heimen mit ca. 110.000 und 120.000 untergebrachten jungen Menschen zu jedem Stichtag der vergangenen zwanzig Jahre nach wie vor eines der quantitativ großen Leistungsfelder und einen der großen Ausgabenblöcke der Kinder- und Jugendhilfe darstellt. In der Pflegekinderhilfe als einer Form öffentlicher Erziehung in privaten Haushalten (siehe Kap. 10.7.4) hat sich seit dem Elften KJB viel entwickelt und bestehen besondere Herausforderungen für die Jugendämter. In der Heimerziehung treten traditionell die strukturellen Ambivalenzen der Kinder- und Jugendhilfe, die von Hilfe und Kontrolle, von Erziehung und Disziplinierung, von Entlastung und Ausgrenzung, von Schonraum und„totaler Institution“, unverändert zutage. Verglichen mit dem Reformtempo der 1970er und 1980er Jahre, als sich große Teile der westdeutschen Heimerziehung erheblich differenzierten, professionalisierten und dezentralisierten, sind die vergangenen Jahre seit Veröffentlichung des vorletzten Gesamtberichts (Achter Jugendbericht) davon geprägt, dass sich die vielen methodischen Ansätze und die verschiedenen Angebotsformen der Heimerziehung verbreitert und konsolidiert haben. Fazit Die Kinder- und Jugendhilfe hat sich in ihren Konturen seit der deutschen Wiedervereinigung und der Einführung des KJHG/ SGB VIII 1990 bzw. 1991 sowie - nochmals - seit der Jahrhundertwende deutlich verändert. Ihre Leistungen wurden ausgeweitet, u. a. für junge Volljährige und für junge Menschen mit einer seelischen Behinderung, und mit neuen beteiligungsorientierten Verfahren (Hilfeplanung) zunehmend als sozialpädagogische Dienstleistung für die ganze Familie konzipiert. Realisiert werden konnte zudem nach langen Diskussionen in den 1990er Jahren der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem vollendeten dritten Lebensjahr, beschlossen ist dessen Ausweitung auf Ein- und Zweijährige ab dem 1. 8. 2013. Beide Maßnahmen zusammen haben innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe zu 183 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht einer deutlichen Akzentverlagerung zugunsten der frühen Kindheit und zu einer Aufwertung der kindbezogenen Aktivitäten und damit - zumindest indirekt - zu einer Unterbelichtung der Leistungen im Jugendalter geführt. Die Kinder- und Jugendarbeit ist von diesen Entwicklungen am deutlichsten betroffen. Deutlich an Bedeutung gewonnen haben darüber hinaus Fragen eines verbesserten Kinderschutzes. Auch im neuen Leistungsfeld der „Frühen Hilfen“ wird die größere öffentliche Aufmerksamkeit und vermehrte Unterstützung für eine Lebensphase, die noch vor wenigen Jahren ganz selbstverständlich ausschließlich im Binnenraum der Familie und damit nahezu ausschließlich in privater Verantwortung stattfand, besonders deutlich sichtbar. Hier entstehen als ein weiteres Charakteristikum moderner Kinder- und Jugendhilfe hybride Angebote, d. h. Verschränkungen und neue Mischungsformen zwischen klassischen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe und denen anderer Leistungsfelder, z. B. des Gesundheitswesens. Auch mit Bezug auf die zunehmende Anzahl von Ganztagsschulen und den vielfältigen Aktivitäten im Übergang Schule - Beruf geht die Kinder- und Jugendhilfe enge Kooperationen mit anderen Leistungssystemen ein, was erhebliche Herausforderungen für die disziplinäre Identität der Kinder- und Jugendhilfe mit sich bringt. Dass diese Entwicklungen folgerichtig auch in den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe ihren Niederschlag gefunden haben, ist wenig überraschend. Unter dem Strich kann man konstatieren: mehr Aufgaben, mehr Plätze, mehr Personal, mehr Kosten und Ausgaben. In allen Bereichen, die als Indikatoren für die Entwicklungsdynamik der Kinder- und Jugendhilfe herangezogen werden können, zeigt sich demnach eine deutliche Ausweitung des Leistungsspektrums. Demgegenüber haben sich die Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe als erstaunlich stabil erwiesen. Insbesondere sind die Jugendämter nicht „verschwunden“, wie dies in Folge der „Neuen Steuerung“ und nach der Föderalismusreform I befürchtet worden war. Im Gegenteil scheinen sie als erkennbare und vor Ort umfassend zuständige sozialpädagogische Fachbehörden wichtiger denn je. Auch die für Deutschland charakteristische Dominanz frei-gemeinnütziger Träger und Verbände bei der Gestaltung der Kinder- und Jugendhilfe hat sich kaum verändert, privat-gewerbliche Träger bleiben ein Randphänomen. Allerdings übersteigen die Aufwendungen für die vor allem im Bereich der Kindertagesbetreuung gestiegenen Aufgaben die Leistungsfähigkeit vieler Kommunen. Wege zu einer aktiven Gestaltung des Aufwachsens Im Anschluss und in Anknüpfung an die Teile B und C folgt der abschließende Berichtsteil D „Wege zu einer aktiven Gestaltung des Aufwachsens“, mit detaillierten Analysen und mit Empfehlungen zu den Zentralen Herausforderungen des Aufwachsens sowie für die weitere Ausgestaltung von öffentlicher und privater Verantwortung (Kap. 11 und 12) und mit Blick auf die Strukturen (Kap. 13), auf ausgewählte bereichsübergreifende Themen (Kap. 14) sowie auf ausgewählte Arbeits- und Handlungsfelder (Kap. 15) der Kinder- und Jugendhilfe. Die Kommission für den 14. KJB geht dabei davon aus, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe in den vergangenen Jahren insgesamt gesehen recht gut entwickelt hat und in nicht wenigen Feldern zufriedenstellend aufgestellt ist. Von daher konnte sich der 14. KJB in Teil D im Wesentlichen auf solche Aspekte und Felder konzentrieren, wo dies (noch) nicht so ist, wo besondere Herausforderungen existieren und wo Handlungsbedarf besteht. Daraus leiten sich zahlreiche Empfehlungen für die Politik, die Fachpraxis sowie für Wissenschaft und Forschung ab, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können. Sie werden am Ende des Berichts in Form knapper Leitlinien gebündelt (Kap. 16). 184 uj 4 | 2013 Der 14. Kinder- und Jugendbericht · Vorschau In der Zukunft kommt es u. a. auf Folgendes an: ➤ die Rolle als Sachwalter junger Menschen in einer adäquaten und differenzierten Verschränkung von öffentlicher und privater Verantwortung wirkungsvoll wahrzunehmen, ➤ das Aufwachsen aktiv zu gestalten, ➤ mit allen Familien, bei denen weiterhin die zentrale Verantwortung für das Aufwachsen liegt, zu kooperieren, ➤ die sozialen Ungleichheiten zu mindern, ➤ das Bildungsverständnis zu erweitern im Sinne einer umfassenden, stetigen Verbesserung der Handlungsfähigkeit junger Menschen mit dem Ziel einer selbstbestimmten Lebensführung, ➤ klare Verantwortung des Bundes zu regeln, ➤ die Angebote im Bereich der Kindertagesbetreuung und der Ganztagesschulen zeitnah und bedarfsgerecht auszubauen, ➤ die Qualität der Leistungen weiterzuentwickeln, sich ihrer Wirkungen zu vergewissern und darüber Rechenschaft abzulegen, ➤ den Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung beizubehalten und die Steuerungskompetenz der Jugendämter zu verbessern, ➤ neue Handlungskonzepte für die Kinder- und Jugendarbeit zu entwickeln, ➤ eine Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen mit oder ohne Behinderung im SGB VIII zu schaffen - und Inklusion zu verwirklichen, ➤ die kommunale Verantwortung und die Jugendämter zu stärken und deren ➤ Finanzausstattung zu verbessern, u. a. aufgrund einer dauerhaft stärkeren Einbeziehung der Landes- und Bundesebene, insbesondere in die Finanzierung der Kindertagesbetreuung, ➤ eine befähigende Medienbildung zu etablieren, ➤ den Umgang mit Heterogenität zu verbessern, ➤ die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern und ➤ die Jugendpolitik zu stärken. Prof. Dr. jur. Dr. phil. Reinhard Joachim Wabnitz Hochschule RheinMain Kurt-Schumacher-Ring 18 65197 Wiesbaden reinhard.wabnitz@hs-rm.de Vorschau auf die kommende Ausgabe Der Allgemeine Soziale Dienst Überblick zu Praxis und Theorie des ASD Zukunft des ASD und Herausforderungen Kooperation des ASD mit freien Trägern
