eJournals unsere jugend 65/5

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2013
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Der Allgemeine Soziale Dienst

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2013
Dieter Kreft
Über kein Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe ist in den letzten Jahren so viel, so kontrovers und so öffentlichkeitswirksam diskutiert worden wie über den ASD. Kein anderer Dienst hat sich einerseits so verändert – von der Familienfürsorge zum Basisdienst –, keiner ist andererseits inzwischen so gut untersucht. von Dieter Kreft Diplom-Kameralist und Diplom-Pädagoge, Staatssekretär a. D., Honorarprofessor der Leuphana Universität Lüneburg
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194 unsere jugend, 65. Jg., S. 194 - 197 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art18d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Der Allgemeine Soziale Dienst Ein Überblick zum Stand von Praxis und Theorie des kommunalen Basisdienstes Sozialer Arbeit und eine Einladung zum Weiterlesen Über kein Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe ist in den letzten Jahren so viel, so kontrovers und so öffentlichkeitswirksam diskutiert worden wie über den ASD. Kein anderer Dienst hat sich einerseits so verändert - von der Familienfürsorge zum Basisdienst -, keiner ist andererseits inzwischen so gut untersucht. von Dieter Kreft Diplom-Kameralist und Diplom-Pädagoge, Staatssekretär a. D., Honorarprofessor der Leuphana Universität Lüneburg Zur Entwicklung Schon das genauer zu erfassen, was Soziale Arbeit kennzeichnet, ist durchaus schwierig. Zwar ist inzwischen unbestritten, dass Soziale Arbeit zum Oberbegriff für die Gegenstandsbereiche der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik geworden ist (zuletzt wieder Schilling/ Zeller 2012), aber ob die Erziehungswissenschaft noch die Leitdisziplin auch für die Soziale Arbeit bleibt oder ob die Sozialarbeitswissenschaft - oder mit anderen ähnlichen Bezeichnungen - nunmehr zur Disziplin für das soziale Handeln geworden ist, bleibt weiterhin offen. Auch die nähere Charakterisierung dessen, was zur Praxis der Sozialen Arbeit gehört, also welche Arbeitsfelder, welche zentralen Ziele und welche die sehr unterschiedlichen Angebote, Dienste und Veranstaltungen verbindenden Begriffe es gibt (also etwa beraten, bilden, erziehen, helfen, pflegen), welche Konzepte, Methoden und Verfahren genuin sozialarbeiterisch/ sozialpädagogisch sind, ist immer noch nicht eindeutig geklärt. Als Beleg für diese Unklarheiten/ Unsicherheiten soll hier angeführt sein, dass von den wichtigsten und aktuellsten Hand-/ Wörterbüchern und Lexika der Sozialen Arbeit (DV 2011; Otto/ Thiersch 2011; Kreft/ Mielenz 2013) nur die Letzteren einen eigenständigen Beitrag „Soziale Arbeit“ aufgenommen und darin versucht haben, diese Fragen zu beantworten (Kreft/ Mielenz 2013, 773ff ). Es verwundert daher nicht, dass bei dieser anhaltenden Unklarheit des professionellen und disziplinären Terrains auch lange Zeit aktuelle und klare Beschreibungen des Basisdienstes der Sozialen Arbeit, des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD), fehlten. Die letzten umfassen- 195 uj 5 | 2013 Der Allgemeine Soziale Dienst den Versuche, diesen Dienst zu beschreiben, stammten aus den Jahren 1992 - 1994. Erst in den letzten Jahren hat sich dieser Zustand des öffentlichen und fachlichen Desinteresses radikal verändert. Seit Ende der 1990er Jahre haben unsägliche Fälle von Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung mit Todesfolge dazu geführt, dass eine breite, sehr kritische Öffentlichkeit sich dafür interessierte, was die Jugendämter und ihre ASDs dabei tun, und auch die Fachliteratur hat sich dieses Dienstes aktuell wieder angenommen (zuerst ISS e. V. 2010, inzwischen in 2. Auflage 2011; Gissel- Palkovich 2011 und zuletzt Merchel 2012 - vgl. dazu die Besprechung auf S. 233ff ). Mithilfe dieser drei Texte ist inzwischen gut aufbereitet, ➤ welcher Weg zum heutigen ASD geführt hat (zur Entstehungsgeschichte Hammerschmidt/ Uhlendorff 2012, 10ff und Gissel-Palkovich 2011, 17ff ); ➤ welche rechtlichen Rahmenbedingungen für die Arbeit des ASD von Bedeutung sind (Wabnitz 2011, 33ff und sehr ausführlich Waschull 2012, 78ff; Nonninger/ Meysen 2012, 88ff; Tammen 2012, 105ff ); ➤ wie er organisiert ist und was sein Personal kennzeichnet (Landes 2011, 141ff und Landes/ Keil 2012, 34ff; Merchel 2012, 33ff und zum Personal Merchel 2012, 368ff; Khalef 2012, 387ff; Pamme 2012, 396ff ); ➤ was allgemein zum Leistungsspektrum des ASD gehört, also seine Aufgaben, seine Zielgruppen, seine Kooperationspartner (Gissel-Palkovich 2011, 106ff sowie Maly 2011, 18ff; Tenhaken 2011, 94ff in sehr gut lesbaren Kurzübersichten und dann wieder sehr ausführlich in Merchel 2012 an verschiedenen Textstellen); ➤ wie sich die methodischen Anforderungen und Arbeitsweisen des ASD darstellen (ganz hervorragend dazu das gesamte Kapitel IV bei Merchel 2012, 140ff, zur Fallbearbeitung auch Poller/ Weigel 2011, 59ff ). Drei im Umfang wohl sehr unterschiedliche, inhaltlich aber durchaus vergleichbare Texte (mit dem Handbuch Merchel 2012 gewissermaßen an der Spitze) führen ein, analysieren genau, lassen erkennbar werden, was heute „einen guten ASD“ ausmacht (vgl. Qualitätskriterien, die Merchel beschreibt (2012, 419ff, insbesondere 430ff ). Nach alledem lässt sich ein moderner ASD so kurz skizzieren: ➤ der ASD, wenn auch noch immer mit unterschiedlichen Bezeichnungen, ist heute überwiegend Teil des Jugendamtes (80 % dieser Dienste sind ausschließlich für Kinder- und Jugendhilfe-Aufgaben zuständig, die restlichen übernehmen auch Aufgaben für Erwachsene, Senioren oder im Rahmen der Gesundheitsfürsorge, nur wenige sind noch selbstständige Dienste); ➤ diese Dienste arbeiten ausnahmslos einzelfallbezogen, knapp die Hälfte inzwischen auch sozialraumorientiert oder in organisatorischen Mischformen; ➤ die Rechtsgrundlagen für den ASD haben sich zuletzt noch einmal erweitert, sind aber durchaus eindeutig: das SGB VIII, das BGB (Familienrecht), das FamFG (Familienverfahrensrecht), seit 2012 das Bundeskinderschutzgesetz sowie verschiedene Bundesgesetze (etwa Adoptionsvermittlungsgesetz, Unterhaltsvorschussgesetz, Jugendgerichtsgesetz, Jugendschutzgesetz, das SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) und SGB XII (Sozialhilfe); ➤ die Aufgaben des ASD reichen von der Beratung bis zur Krisenhilfe. Niemand hat dieses breite Aufgabenspektrum so präzise zusammengefasst wie Christian Schrapper: „beraten und entscheiden“, „unterstützen, schützen und kontrollieren“, „knappe Güter verteilen“ (zuletzt wieder in Kreft/ Mielenz 2013, 58ff ); ➤ dem Fachkräftegebot des § 72 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII wird inzwischen weitgehend entsprochen. Im ASD arbeiten heute etwa 196 uj 5 | 2013 Der Allgemeine Soziale Dienst 80 % KollegInnen, die Diplom-SozialarbeiterIn/ SozialpädagogIn (Fachhochschule) bzw. Diplom-PädagogIn (Universität) sind, inzwischen auch Bachelor oder Master in Sozialwesen. Probleme und Perspektiven Die Diskussionen um Kindesmisshandlungen und Kindestötungen seit dem Ende der 1990er Jahre („Kinderschutzdebatte“) haben für die Kinder- und Jugendhilfe - und damit für den ASD - zu einem deutlichen Professionalisierungsschub geführt. Zunächst durch die Einführung des § 8 a in das SGB VIII (2005), dann erweitert durch das Bundeskinderschutzgesetz (2012) ist der ASD zum „Motor der Schutzmaßnahmen bei Kindeswohlgefährdung“ geworden (Meysen 2012, 98ff ). Der exemplarische Fall für das öffentliche und private Versagen ist der Fall Kevin aus Bremen (2006), der inzwischen sehr gut und lehrreich analysiert wurde, zuletzt von Hans-Christoph Hoppensack (2012, 144ff ). Die öffentliche Diskussion hat aber nicht nur zu Rechtsänderungen geführt, sondern auch zu sehr genauen Beschreibungen dessen, was Garantenpflicht/ Garantenstellung und Wächteramt fachlich fordern (dazu genauer: Münder u. a. 2013), sie sind zugleich auch zum „Sinnbild des Erfolgsdrucks“ geworden (Meysen 2012, 134f ). Und diese spektakulären Fälle des „Kinderschutzes“ binden immer wieder - und zeitweise total - die knappen Kapazitäten im ASD. Aber der ASD ist und bleibt ein allgemeiner Dienst, der in Erziehungs- und Familienfragen berät, der regelmäßig die Fallverantwortung bei Hilfen zur Erziehung hat, der häufig auch die Jugendgerichts- und Familiengerichtshilfe (etwa bei Trennung und Scheidung) und daneben - eben nicht allein - auch für die Krisenhilfe und Eingriffe bei Kindeswohlgefährdung zuständig ist. Der ASD muss so organisiert und ausgestattet sein, dass er neben den öffentlichkeitswirksamen Fällen von Kinderschutz auch die vielen allgemeinen Einzelfälle angemessen und nachhaltig bearbeiten kann - m. E. das aktuelle Hauptproblem der ASD-Arbeit. Ein anderes ist die angemessene Personalentwicklung (genauer bei Pamme 2012, 396ff ). Die Pflicht der öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe, für ihre MitarbeiterInnen regelmäßig Fortbildung und Praxisberatung anzubieten (§ 72 Abs. 3 SGB VIII), wird vielerorts immer noch nicht hinreichend beachtet. Und schließlich, dass die Qualität im ASD immer wieder neu (weiter) entwickelt werden muss: fallbezogen, organisatorisch, umweltbezogen, damit ein „guter ASD“ entsteht (nach Merchel 2012, 430ff ). Fachlich und organisatorisch ist das Feld für eine „gute Arbeit im ASD“ ordentlich bis gut erkundet, analysiert und beschrieben. Jetzt muss die Politik - zunächst wohl der Jugendhilfeausschuss - dafür Sorge tragen, dass diese neuen Standards und Regeln der Kunst nachhaltiger Leistungen im ASD in seiner ganzen gesetzlichen Angebotsbreite beachtet werden und zu erbringen möglich sind. Dabei sind die inhaltlichen, organisatorischen und personellen Anforderungen zu beachten und sicherzustellen, wie sie jetzt vor allem in den hier vorgestellten drei neuen Titeln zum ASD beschrieben wurden. Prof. Dieter Kreft Nürnberg kremie.nuernberg@t-online.de 197 uj 5 | 2013 Der Allgemeine Soziale Dienst Literatur Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge/ DV (Hrsg.), 7 2011: Fachlexikon der sozialen Arbeit. Baden-Baden Hammerschmidt, P./ Uhlendorf, U., 2012: Zur Entstehungsgeschichte des ASD - von den Anfängen bis in die 70er Jahre. In: Merchel (Hrsg.): a. a. O., S. 10 - 32 Hoppensack, H.-C., 2 2012: Kevins Tod - Ein Fallbeispiel für missratene Kindeswohlsicherung. In: ISS e. V. (Hrsg.): Vernachlässigte Kinder besser schützen. München/ Basel, S. 144ff Gissel-Palkovich, I., 2011: Lehrbuch Allgemeiner Sozialer Dienst - ASD. Weinheim/ München ISS e. V. (Hrsg.), 2 2011: Der Allgemeine Soziale Dienst. München/ Basel Khalaf, A., 2012: Personalbemessung im bzw. für den ASD. In: Merchel (Hrsg.): a. a. O., S. 387 - 395 Kreft, D./ Mielenz, I., 7 2013: Soziale Arbeit. In: Kreft/ Mielenz (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Weinheim/ Basel, S. 773 - 776 Landes, B., 2 2011: Organisationsmodelle und Personal. In: ISS e.V. (Hrsg): a. a. O., S. 139 - 150 Landes, B./ Keil, E., 2012: Organisatorische Verortung des ASD. In: Merchel (Hrsg.): a. a. O., S. 33 - 46 Maly, D., 2 2011: Der ASD heute: Ein sozialer Basisdienst zwischen Krisenhilfe und umfassender Beratung. In: ISS e. V. (Hrsg.): a. a. O., S. 18 - 32 Merchel, J. (Hrsg.), 2012: Handbuch Allgemeiner Sozialer Dienst. München/ Basel Merchel, J., 2012: Anforderungen und Belastungen der Fachkräfte im ASD. In: Merchel (Hrsg.): a. a. O., S. 368 - 378 Merchel, J., 2012: Personalmanagement und Qualität der Arbeit des ASD. In: Merchel (Hrsg.): a. a. O., S. 379 - 386 Münder, J./ Meysen, T./ Trenczek, T (Hrsg.), 7 2013: Frankfurter Kommentar SGB VIII. Baden-Baden Nonninger, S./ Meysen, T., 2012: Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII). In: Merchel (Hrsg.): a. a. O., S. 88 - 104 Otto, H.-U./ Thiersch, H. (Hrsg.), 4 2011: Handbuch Soziale Arbeit. München/ Basel Pamme, H., 2012: Personalentwicklung im ASD. In: Merchel (Hrsg.): a. a. O., S. 396 - 404 Poller, S./ Weigel, H.-G., 2 2011: Die Fallbearbeitung im Allgemeinen Sozialen Dienst. In: ISS e. V. (Hrsg): a. a. O., S. 57 - 79 Schilling, J/ Zeller, S., 5 2012: Soziale Arbeit. München/ Basel Schrapper, C., 2013: Allgemeiner Sozialdienst. In: Kreft/ Mielenz (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Weinheim/ Basel, S. 57 - 62 Tammen, B., 2012: Grundsicherungsrecht und Sozialhilfe. In: Merchel (Hrsg.): a. a. O., S. 105 - 122 Tenhaken, W., 2 2011: Jugendhilfe und Dritte: (interinstitutionelle) Kooperation in der Arbeit des ASD. In: ISS e.V. (Hrsg.): a. a. O., S. 92 - 98 Wabnitz, R. J., 2 2011: Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Arbeit des ASD. In: ISS e. V. (Hrsg): a. a. O., S. 31 - 56 Waschull, D., 2012: ASD-Arbeit und Verwaltungsverfahren. In: Merchel (Hrsg.): a. a. O., S. 78 - 78