unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2013.art43d
111
2013
6511+12
Inklusionsorientierung als pädagogische Herausforderung
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2013
Clemens Dannenbeck
Inklusionsorientierung stellt hier und heute eine unhintergehbare Grundbedingung für pädagogisches Handeln dar, unabhängig von der pädagogischen Fachausbildung, der dabei erfolgten professionellen Schwerpunktsetzung und unabhängig von beruflichen Erfahrungen in den verschiedensten pädagogischen Handlungsfeldern.
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460 unsere jugend, 65. Jg., S. 460 - 466 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art43d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Inklusionsorientierung als pädagogische Herausforderung Inklusionsorientierung stellt hier und heute eine unhintergehbare Grundbedingung für pädagogisches Handeln dar, unabhängig von der pädagogischen Fachausbildung, der dabei erfolgten professionellen Schwerpunktsetzung und unabhängig von beruflichen Erfahrungen in den verschiedensten pädagogischen Handlungsfeldern. von Prof. Dr. Clemens Dannenbeck Jg. 1962; Diplom-Soziologe, Professor für Soziologie und Sozialwissenschaftliche Methoden und Arbeitsweisen in der Sozialen Arbeit an der Hochschule (FH) Landshut, Arbeitsschwerpunkte: Inklusionsforschung, Diversity, Cultural Studies, Disability Studies, Biografieforschung Der folgende Beitrag erhebt nicht den Anspruch einer fachlichen Klärung des Verhältnisses zwischen Integrations- und Inklusionspädagogik - und auch nicht zwischen diesen und einer im herkömmlichen Sinne sich als allgemein verstehenden pädagogischen Fachdisziplin (Eberwein 2001; Eberwein/ Knauer 2002; Feuser 2003; Hinz u. a. 2012). Stattdessen soll an dieser Stelle „Inklusionsorientierung“ über alle Fachrichtungen hinweg als generelle pädagogische Herausforderung betrachtet und analysiert werden. Dies ist deshalb sinnvoll, weil Inklusion sich nicht allein als genuin fachpädagogischer Begriff diskutieren lässt. Über Inklusion ist weder zu sprechen, ohne soziologisch informiert gesellschaftsanalytische Bedeutungsschichten des Begriffs mitzudenken, noch ohne zu berücksichtigen, dass die Rede von der Inklusion längst in den politischen Alltagsdiskurs Eingang gefunden hat und dabei eine mehr oder weniger gesellschaftskritische Funktion einnimmt. Meine Grundthese lautet daher: Inklusion ist aufgrund der Rechtsgültigkeit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) eine unhintergehbare Herausforderung für jede/ n pädagogische/ n AkteurIn - und zwar in persönlicher, fachlicher und politischer Hinsicht. Aktuelle Diskussionen dazu finden sich in den Aktivitäten und Verlautbarungen der Monitoringstelle am Institut für Menschenrechte in Berlin (www.institut-fuermenschenrechte.de). Die Ratifizierung der UN-BRK durch Bund und Länder hat eine neue (rechtliche) Realität geschaffen, die praktische Konsequenzen nach sich zieht. Ich möchte im Folgenden aus dieser allgemeinen Feststellung einen Aspekt herausgreifen - die Konsequenzen, die sich für eine/ n pädagogische/ n AkteurIn aus der vorliegenden menschenrechtlichen (Selbst)Verpflichtung durch die UN-BRK ergeben. Hierbei ist kein Unterschied zu machen zwischen pädagogischen Fachrichtungen, noch zwischen bereits berufserfahrenen und zukünftig auszubildenden 461 uj 11+12 | 2013 Inklusion pädagogischen Fachkräften. Das heißt, unabhängig von der genossenen pädagogischen Fachausbildung und unabhängig von dabei erfolgten professionellen Schwerpunktsetzungen, unabhängig von beruflichen Erfahrungen in den verschiedensten pädagogischen Handlungsfeldern stellt Inklusionsorientierung hier und heute eine unhintergehbare Grundbedingung für pädagogisches Handeln dar. Ich spreche in diesem Beitrag bewusst von Inklusionsorientierung und nicht von Inklusion - da es meiner Ansicht nach um einen anhaltenden reflexiven Gestaltungsprozess geht und nicht um die Realisierung eines positiv definierbaren gesellschaftlichen (Ideal-)Zustands. Diese Grundbedingung der Inklusionsorientierung lässt sich analytisch in drei Dimensionen begreifen: Erstens zwingt sie zu einer Reflexion der persönlichen Handlungsmotivation - zur Vergegenwärtigung und gegebenenfalls Revision der individuellen Haltung, die der eigenen Handlungspraxis zugrunde liegt. Zweitens sind, gleichgültig welcher allgemein- oder sonderpädagogischen Fachrichtung man sich zuordnet und unabhängig von den jeweils erworbenen disziplinären Fachkenntnissen und praktischen Berufserfahrungen, die fachlichen Grundlagen des eigenen Handelns auf den Prüfstand zu stellen. Im Zentrum der Überlegungen stehen dabei Fragen des Umgangs mit Vielfalt (Heterogenität) und Differenz (Diversity). Und drittens fordert Inklusionsorientierung die Bildung eines gesellschaftskritischen Bewusstseins heraus, das die Umsetzung der UN- BRK als Element öffentlicher Verantwortung begreift und somit für PädagogInnen zu einem politischen Projekt werden lässt. Persönliche Konsequenzen Wenn Inklusion im Kopf beginnt, heißt das zunächst: Sich die Grundlagen des eigenen (fachlichen) Handelns zu vergegenwärtigen und zu überprüfen, welche Antworten die eigene Praxis auf die Tatsache menschlicher Vielfalt auf der einen Seite und den Umgang mit Differenz(en) auf der anderen Seite bereit hält. Inklusionsorientierung fordert Haltung im Sinne der Wertschätzung aller Menschen, unabhängig von deren jeweiligen Ressourcen und Kompetenzen. Das bedeutet, dass menschliche Vielfalt (an)erkannt wird (Stojanov 2010) als Grundlage des Handelns - und nicht als Risiko, das einer gelingenden pädagogischen Intervention potenziell im Wege steht. Fachliche Begründungen, aus denen eine Nichtzuständigkeit von kategorialen Gruppen abgeleitet werden (könnte), sind mit einer inklusionsorientierten Haltung unvereinbar. Sie können in keinem Fall als Rechtfertigung herangezogen werden, sich der pädagogischen Zuwendung zu verweigern. Dem steht auf den ersten Blick die Differenzierung (sonder)pädagogischer Fachdisziplinen (mithin also die eigene fachliche Ausbildung) entgegen - eine Praxis, die pädagogische Kompetenzen zielgruppenspezifisch ausrichtet und damit einer Form von Professionalität Vorschub leistet, die fachliche Zuständigkeiten und Nichtzuständigkeiten nach kategorialen Gruppenunterscheidungen festlegt. Inklusionsorientierung entzieht einer solchen Praxis die Legitimationsgrundlage. Jenseits der fachdisziplinären Ausbildung ist eine inklusionsorientierte pädagogische Situation in der Tat durch das Merkmal der Allzuständigkeit gekennzeichnet - unabhängig von gesundheitlichen, körperlichen Voraussetzungen, unabhängig von sozialen oder kulturellen Verhältnissen und unabhängig von antizipierten Entwicklungspotenzialen der Kinder, Jugendlichen oder Erwachsenen, denen die pädagogische Zuwendung gilt. Die Konsequenz aus dieser Perspektive ist keineswegs eine notwendigerweise auftretende fachliche Überforderung (oder gar eine unvermeidbare Qualitätseinbuße pädagogischer Interventionen) - sehr wohl aber das Erfordernis einer umfassenden Bereitschaft (und Fähigkeit) zu inter- und transprofessioneller Zusammenarbeit in der Praxis. 462 uj 11+12 | 2013 Inklusion Was heißt das konkret - verdeutlicht an einem Beispiel? Selbstverständlich erscheint die Forderung, dass eine kategoriale Unterscheidung und Aufteilung von SchülerInnen nach Hautfarbe in Kindergarten oder Schule eine (weil rassistischer Logik entsprechende) Unmöglichkeit darstellen würde, die jeglicher fachlicher Legitimation entbehrt. Gleichermaßen widerspräche aber auch eine kategoriale Trennung von SchülerInnen nach statusdiagnostisch ermittelten Entwicklungspotenzialen dem Menschenrecht auf volle selbstbestimmte Teilhabe am Bildungssystem. Vor allem eine „Lösung“ von praktischen Problemen im Unterrichtsablauf etwa durch Separierung von bestimmten SchülerInnen auf der Basis einer defizitorientierten Diagnostik lässt sich mit einer Inklusionsorientierung nicht (mehr) vereinbaren (Mutzeck 2007). Die Frage, die sich als Herausforderung für die eigene Handlungsorientierung und das eigene Menschenbild stellt, ist damit folgende: Welches Begriffsverständnis von gesellschaftlich bedeutsamen Differenzen liegt meinem eigenen professionellen Handeln zugrunde? Also konkret: Welche Bedeutung haben für mich Begriffe wie „Behinderung“, „Verhaltensauffälligkeit“, „geistige Entwicklungsverzögerung“, „kulturelle Differenz“, „Ausländer“, „sozial schwieriges Herkunftsmilieu“ etc. - welche Bedeutung haben diese Begriffe in meinem und für meinen professionellen Alltag? Welche „Erkenntnisse“ sind mit ihrem Auftauchen verbunden, welche Konsequenzen ergeben sich aus ihren zweifellos vorhandenen gesellschaftlichen Relevanzen? Und vor allem: In welcher Hinsicht reproduziere ich durch mein eigenes Handeln und durch meine eigene Haltung gegenüber menschlicher Vielfalt die Bedeutung(en) dieser Differenz(en)? Die Bedeutungen sind vor allem hinsichtlich ihres Stigmatisierungs- und Diskriminierungspotenzials zu hinterfragen. Der UN-BRK liegt dabei ein spezifisches Verständnis von Behinderung zugrunde (Hirschberg 2011), das es lohnt, für die Reflexion der wirklichkeitserzeugenden Bedeutungen kategorialer Unterscheidungen herangezogen zu werden. Bei der UN-BRK handelt es sich nicht um „neue“ oder „spezifische“ Menschenrechte für eine bestimmte Teilgruppe der Gesellschaft - etwa die der sogenannten „Behinderten“ -, sondern um eine Präzisierung der bereits durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Prinzip für alle Menschen geltenden Rechte. Man könnte sich fragen, weshalb es dann einer UN-BRK bedurfte (- die gleiche Frage stellt sich übrigens auch hinsichtlich anderer entsprechender Dokumente wie der UN-Kinderrechtskonvention oder der UN-Frauenrechtskonvention). Der Grund liegt in all diesen Fällen darin, dass global unschwer festzustellen ist, dass es offensichtlich Teile der Gesellschaft (wie der menschlichen Gemeinschaft insgesamt) gibt, die es besonders schwer haben, ihre Menschenrechte vollumfänglich für sich geltend zu machen. Am Beispiel von Behinderung lässt sich dies etwa an der Tatsache erkennen, dass nur ein kleiner prozentualer Anteil von Menschen mit Behinderung weltweit gesehen überhaupt Zugang zu Bildung hat. Die Inklusionsforderung bezieht sich dabei nicht nur auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung. Vielmehr geht es um das Recht auf volle selbstbestimmte Teilhabe für alle Menschen, ungeachtet ihrer kulturellen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Geschlechtszugehörigkeit, Sprache, Religion, politischen oder sonstigen Anschauung, sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt, des Alters oder des sonstigen Status, wie es in der UN-BRK heißt. Eine positive Definition von „Behinderung“ im Sinne einer gruppenspezifischen Zuschreibung fehlt in der UN-BRK jedoch - als Behinderung wird vielmehr das verstanden, was in einer Gesellschaft in einer spezifischen historischen Situation jeweils als Behinderung gilt. Damit ist eine Behinderung kein unveräußerliches Merkmal von gesellschaftlichen Teilgruppen, sondern Resultat kulturell geformter sozialer Zuschreibungen. 463 uj 11+12 | 2013 Inklusion Inklusionsorientierung zwingt infolgedessen dazu, diese Zuschreibungsprozesse (in kritischer Absicht) nachzuvollziehen - und sie dabei nicht als unumstößlich gegebene Tatsachen zu reifizieren, sondern sie als hergestellt zu begreifen und damit als prinzipiell veränderbar in ihrer Bedeutungsrelevanz zu relativieren. Dekategorialisierung in diesem Sinne heißt nicht, die Augen davor zu verschließen, dass Menschen mit unterschiedlichen Ressourcen und Potenzialen ausgestattet sind (aber eben immer auch ausgestattet werden) - es bedeutet nicht,„Behinderungen“ wegzudiskutieren - sehr wohl bedeutet es aber, Entwicklungspotenziale pädagogisch stets als offen zu begreifen und Barrieren als gesellschaftlich produziert zu durchschauen. Diagnosen etwa können dann sinnvollerweise nicht mehr Statusdiagnosen sein, auf deren Grundlage (oft fatale) Entscheidungen über Bildungsverläufe getroffen werden, sondern ausschließlich die Funktion des Erhebens von individuellen Lernständen einnehmen. Fachliche Konsequenzen Der Umgang mit den oben skizzierten persönlichen Herausforderungen, die mit einer Inklusionsorientierung verbunden sind, hängt wesentlich von der qualitativen (Neu)Ausrichtung pädagogischer (Aus)Bildung ab. Es ist einer der bildungspolitisch größten Missstände im Zusammenhang mit den Umsetzungsbemühungen der UN-BRK, dass bislang bestenfalls Ansätze einer Reform pädagogischer Ausbildungsgänge auf curricularer Ebene zu beobachten sind. Diese Ansätze fallen von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich aus. Ein bundesweit gemeinsamer Qualitätsstandard pädagogischer Ausbildungsgänge in Bezug auf die Bildung inklusiver Kompetenzen ist nicht in Sicht. Hinzu kommt, dass auch dort, wo der Begriff inzwischen Eingang in Aus-, Fort- und Weiterbildungen gefunden hat, dies nicht immer in befriedigender Weise geschieht. Nicht erkennbar ist auch eine Qualitätskontrolle und -sicherung inklusionsorientierter Fort- und Weiterbildungen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein grundsätzliches Problem hinweisen. Inklusionsorientierung manifestiert sich nicht bereits in der bloßen Erweiterung zielgruppenspezifischer pädagogischer Fachkompetenzen um den Faktor „Kompetenz im Umgang mit spezifischen Formen von Behinderungen oder chronischen Erkrankungen“. Wenn sich etwa die Reform sonderpädagogischer Ausbildungsgänge darin erschöpft, sonderpädagogische Förderschwerpunkte zu erweitern (also etwa in Lehramtsstudiengängen statt wie bisher einen Ausbildungsschwerpunkt nunmehr zwei oder mehrere sonderpädagogische Schwerpunkte zu studieren), so ist damit den eigentlichen disziplinären Herausforderungen, die Inklusionsorientierung mit sich bringt, noch nicht Genüge getan. Erforderlich ist, Inklusionsorientierung zu einem Querschnittthema sämtlicher pädagogischer Ausbildungsgänge zu machen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Inklusion in diesem Sinne eben nicht heißt zu lernen, mit spezifischen Zielgruppen zertifiziert „umzugehen“ (und sich damit wiederum gleichzeitig für andere - bedauerlicherweise - als fachlich nicht kompetent zu erklären) - sondern vielmehr eine pädagogische Grundhaltung zu entwickeln, die Vielfalt als Voraussetzung für gelingende pädagogische Interventionen ansieht und bereit ist, das eigene Handeln in Bezug auf die Reproduktion von Differenz(en) hin zu reflektieren (vgl. zur Pädagogik der Vielfalt Prengel 1993 und 2006). Ein inklusionsorientiertes pädagogisches Ausbildungscurriculum stellt damit hohe Ansprüche an eine theoretisch fundierte Reflexionsbereitschaft und führt zu einer Allgemeinen Pädagogik im eigentlichen Wortsinne. Vorzuschlagen wären etwa folgende curriculare Learning Outcomes: 464 uj 11+12 | 2013 Inklusion ➤ Studierende kennen die historische Bedeutung der Formulierung der Menschenrechte sowie unterschiedliche Facetten des aktuellen Menschenrechtsdiskurses und sind vertraut mit der Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen sowie der rechtlichen und gesellschaftspolitischen Bedeutung von Menschenrechtspolitik unter besonderer Berücksichtigung der einschlägigen UN-Konventionen. ➤ Studierende kennen differenzierungstheoretische Ansätze zu Diversity und Intersektionalität und sind in der Lage, diese auf einer gesellschaftsanalytischen sowie einer handlungspraktischen Ebene erkenntnisgenerierend anzuwenden. ➤ Studierende kennen den Inklusionsdiskurs in seiner gesellschaftsanalytischen, fachwissenschaftlichen und handlungspraktischen Dimension und können sich darin reflektiert positionieren. ➤ Studierende können den gesellschaftlichen Umgang mit Heterogenität und Differenz(en) analysieren und die diesbezügliche Praxis insbesondere in Bezug auf Auswirkungen im Bildungssystem erkennen und hinterfragen. ➤ Studierende lernen das Erziehungs- und Bildungssystem als Teilsystem einer funktional-differenzierten Gesellschaft zu analysieren und Zusammenhänge zwischen sozialen Ungleichheiten und Bildungschancen als Beispiel für die Dynamik von Inklusions- und Exklusionsprozessen zu erkennen. ➤ Studierende können auf der Basis ihrer analytischen Kompetenzen ihr je eigenes professionelles Selbstverständnis begründet entwickeln und daraus reflexiv Handlungsorientierungen ableiten. ➤ Studierende fassen menschliche Vielfalt nicht als Risiko für gelingende Bildungsprozesse auf, sondern im Gegenteil, als deren Bestandteil und wertzuschätzende Voraussetzung. ➤ Studierende begreifen die gesellschaftlich bedeutsamen, weil wirksamen (sozioökonomischen, kulturellen, religiösen, geschlechtsspezifischen, gesundheitsbezogenen, altersentsprechenden etc.) Differenzen als sozial und kulturell hergestellt und insofern veränderbar. ➤ Studierende entwickeln Handlungsstrategien, um mit Differenzen reflexiv umgehen zu können und die Reproduktion von aus ihnen resultierenden Partizipationsbarrieren zu vermeiden bzw. bestehenden Barrieren wirksam entgegenzutreten. ➤ Studierende können die Bedeutung und gesellschaftliche Funktion der Grenzziehungen zwischen Normalität und Abweichung ermessen. ➤ Studierende beherrschen die theoretischen Grundzüge einer Pädagogik der Vielfalt, kennen den aktuellen Forschungsstand der Inklusionspädagogik sowie der Interkulturellen Pädagogik und können diese fachlichen Erkenntnisse in die eigene pädagogische Praxis transferieren. ➤ Studierende kennen den Stand sozialer Ungleichheitsforschung, Migrationsforschung, Genderforschung und der Disability Studies, auch in internationalen Kontexten, und begreifen die eigene Praxis als Beitrag zu Gleichstellung, Empowerment und Anti-Diskriminierung. ➤ Studierende lernen Inklusionsorientierung zum Maßstab für Organisationsentwicklung und Qualitätssicherung zu machen. ➤ Studierende begreifen die eigene pädagogische Praxis als Beitrag zur Gestaltung eines inklusionsorientierten Gemeinwesens und sehen sich dabei in einer staatsbürgerlichen und professionellen Verantwortung. Für gegenwärtig tätige pädagogische AkteurInnen ist die Ratifizierung der UN-BRK Aufforderung, sich umgehend mit den Konsequenzen des verbürgten Rechts aller Menschen auf uneingeschränkte und selbstbestimmte Teilhabe in Gesellschaft und am Erziehungs- und Bildungssystem auseinanderzusetzen. Dies erfordert die Inanspruchnahme und ggf. Einforderung qualifizierter Fort- und Weiterbildungsangebote. 465 uj 11+12 | 2013 Inklusion Inklusionsorientierung ist fachlich nicht delegierbar - etwa, indem sie einseitig zu einer sonderpädagogischen Aufgabe oder zu einer Herausforderung ausschließlich für die Primarstufe erklärt wird. Auch die beobachtbare politische Lösung, inklusive Praxis besonderen Modelleinrichtungen zuzuweisen und gleichzeitig alle anderen Bildungsinstitutionen von der unmittelbaren Notwendigkeit der Entwicklung einer inklusionsorientierten Konzeption zu entlasten, ist mit dem Gebot der Umsetzung der UN-BRK nicht zu vereinbaren. Politische Konsequenzen Um Missverständnissen zuvorzukommen: An dieser Stelle sollen nicht die als erforderlich oder wünschenswert anzusehenden politischen Maßnahmen und Strategien thematisiert und daraus ein entsprechender Forderungskatalog abgleitet werden. Dies erfolgt in kompetenter und eindringlicher Weise an anderer Stelle (z. B. Wocken u. a. 2013). Es geht vielmehr um die Konsequenzen, die Inklusionsorientierung aus Sicht der pädagogischen Praxis nach sich zieht und die These, dass zu diesen Konsequenzen gehört, zur eigenen Professionalität auch einen Auftrag zu politischem Engagement zu zählen. Professionalität auch im Sinne eines politischen Projekts zu begreifen, geht dabei über eine reflektierte bildungspolitische Positionierung weit hinaus. Die Verwirklichung des (Menschen)Rechts auf volle selbstbestimmte Teilhabe für alle ist nicht nur eine politische Aufgabe - mithin eine Frage der Bereitstellung von Ressourcen durch bildungspolitische Maßnahmen - sondern auch eine individuelle Aufgabe, die von der Erkenntnis geleitet ist, dass das eigene professionelle Handeln Teilhabebarrieren festigen wie flexibilisieren, aufbauen wie bisweilen auch zum Verschwinden bringen kann. Die Erfahrung von Grenzen der Wirksamkeit individuellen Handelns wäre dann Anlass für eine Politisierung auf der Basis der Wahrnehmung existierender Teilhabebarrieren - mithin Anlass zur Forderung nach politischer Aktion mit dem Ziel, diese abzubauen und zu beseitigen. Insofern ist eine inklusionsorientierte pädagogische Praxis untrennbar verbunden mit einem Engagement gegen Diskriminierung, Rassismus und zunehmende gesellschaftliche Ungleichheitsentwicklungen. Da eine inklusive Entwicklung nicht darin besteht, Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen unter gegebenen Voraussetzungen etwas häufiger in bestehende Systeme oder Strukturen des Erziehungs- und Bildungssystems zu integrieren, sondern sich stets nur an der (politischen) Bereitschaft erkennen und ablesen lässt, die jeweils bestehenden Strukturen hinsichtlich der Erzeugung von Inklusions- und Exklusionsprozessen zu hinterfragen, heißt dies, sich in die gesellschaftlichen Bedingungen für eine Kritik am Bestehenden einzumischen. Es geht um den Willen zur Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse, die von Vornherein auf Ausschluss verzichten, und um das Engagement, bestehende Barrieren zu bekämpfen und zu beseitigen. Eine in diesem Sinne kritisch sich positionierende Professionalität wird sich zukünftig auf folgende politische Problemstellungen konzentrieren müssen: ➤ Auf die Entschlüsselung von Strategien, die die Realisierung von Inklusion gemäß der Forderung der UN-BRK einseitig in die Verantwortung einzelner pädagogischer AkteurInnen oder ausgewählter Institutionen legen und die mit dem Umsetzungsprozess verbundenen Herausforderungen dadurch entpolitisieren und individualisieren. ➤ Auf die Entgegnung von Versuchen, inklusive Entwicklungen kosten- und aufwandsneutral zu gestalten, indem 466 uj 11+12 | 2013 Inklusion Ressourcen-, aber auch Ressort- und Kompetenzverteilungen als alternativlose Gegebenheiten dargestellt werden, an denen Integration ihre quasi natürlichen Grenzen findet. ➤ Auf den Widerstand gegen oftmals tolerierte oder ignorierte, jedoch unübersehbare Spaltungstendenzen in der Gesellschaft, die sich in sozialer Distinktion von oben und sozialer Deprivation am unteren Ende der Sozialstruktur äußern. ➤ Auf den Einsatz gegen sich ausbreitende rassistische und intolerante Haltungen gegenüber der real existierenden kulturellen Vielfalt. Es sollte deutlich geworden sein, dass Inklusion keine zusätzliche Aufgabe für PädagogInnen ist, die (erst und nur) dann im pädagogischen Alltag auf die Tagesordnung gerät, wenn die Aufgabe der Integration eines Menschen mit Behinderung in eine ansonsten als „normal“ empfundene Lernumgebung mehr oder weniger unmittelbar ansteht. Einer Inklusionsorientierung kann auch nicht hinreichend dadurch begegnet werden, dass in einer solchen Situation Spezialkompetenzen zum „angemessenen“ Umgang mit dem zu integrierenden Menschen mit einem diagnostizierten besonderen Förderbedarf abgerufen und organisiert werden. Inklusionsorientierung manifestiert sich demgegenüber erst, wenn eine Strategie entwickelt wird, die eigene Einrichtung strukturell-organisatorisch, praktisch und konzeptionell dahingehend weiterzuentwickeln, dass sie in die Lage versetzt wird, auf die Bandbreite der Bedürfnisse ihrer ProbandInnen einzugehen, allen AkteurInnen wertschätzend zu begegnen und die erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit individuelle Entwicklungsprozesse sich unbehindert entfalten können. Solange diese Herausforderung nicht erkannt und aufgegriffen wird, sollte man nicht von inklusiven Entwicklungen sprechen. Prof. Dr. Clemens Dannenbeck Hochschule Landshut Fakultät Soziale Arbeit Am Lurzenhof 1 84036 Landshut clemens.dannenbeck@fh-landshut.de Literatur Eberwein, H./ Knauer, S. (Hrsg.), 6 2002: Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Beeinträchtigung lernen gemeinsam. Ein Handbuch. Weinheim/ Basel Eberwein, H. (Hrsg.), 2 2001: Einführung in die Integrationspädagogik. Weinheim/ Basel Feuser, G. (Hrsg.), 2003: Integration heute - Perspektiven ihrer Weiterentwicklung in Theorie und Praxis. Frankfurt am Main Hinz, A./ Körner, I./ Niehoff, U. (Hrsg.), 3 2012: Von der Integration zur Inklusion. Grundlagen - Perspektiven - Praxis. Marburg Hirschberg, M., 2011: Positionen Nr. 4 „Behinderung: Neues Verständnis nach der Behindertenrechtskonvention“ (auch in Leichter Sprache). www.institutfuer-menschenrechte.de/ uploads/ tx_commerce/ positionen_nr_4_behinderung_neues_verstaend nis_nach_der_behindertenrechtskonvention_02. pdf, 27. 8. 2013, 8 Seiten Mutzeck, W. (Hrsg.), 3 2007: Förderplanung. Grundlagen, Methoden, Alternativen. Weinheim/ Basel Prengel, A., 3 2006: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden Stojanov, K., 2 2010: Bildung und Anerkennung: Soziale Voraussetzungen von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung. Wiesbaden Wocken, H., 2013: Über die Gefährdung des Kindeswohls durch die Schule. Ein unmöglicher Essay zur Therapie einer krankmachenden Institution. In: Inklusion Online. Zeitschrift für Inklusion, H. 2. www. inklusion-online.net/ index.php/ inklusion, 27. 8. 2013, in Vorbereitung
