unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2013.art47d
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2013
6511+12
Was leisten Rechtschreibdiagnoseverfahren für eine individuelle Förderplanung?
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2013
Katja Siekmann
Der Markt der Diagnoseinstrumente für die Rechtschreibleistung von Kindern ist groß und für Lehrkräfte mitunter zu unübersichtlich. Für die Praxis sind Verfahren zu empfehlen, die neben einer Diagnostik auch konkrete Förderansatzpunkte liefern. Im folgenden Artikel werden zwei konzeptionell unterschiedliche Verfahren vorgestellt und hinsichtlich ihrer Aussagekraft beurteilt.
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495 unsere jugend, 65. Jg., S. 495 - 502 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art47d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Katja Siekmann Jg. 1979; Junior-Professorin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster am Germanistischen Institut, Abt. Sprachdidaktik Was leisten Rechtschreibdiagnoseverfahren für eine individuelle Förderplanung? Der Markt der Diagnoseinstrumente für die Rechtschreibleistung von Kindern ist groß und für Lehrkräfte mitunter zu unübersichtlich. Für die Praxis sind Verfahren zu empfehlen, die neben einer Diagnostik auch konkrete Förderansatzpunkte liefern. Im folgenden Artikel werden zwei konzeptionell unterschiedliche Verfahren vorgestellt und hinsichtlich ihrer Aussagekraft beurteilt. Der Einsatz von qualitativen Diagnoseverfahren ist unumgänglich, wenn eine objektive Einschätzung der Rechtschreibleistungen und die Planung von Förder- und Therapiemaßnahmen gewünscht sind (Herné/ Naumann 2002). Der Markt bietet momentan eine Vielzahl an Testverfahren zur Feststellung der orthografischen Kompetenz. Für Lehrkräfte stellt sich die Frage, welches Verfahren bietet mir welche förderdiagnostischen Erkenntnisse? Im Folgenden werden die Ergebnisse der testunabhängigen Oldenburger Fehleranalyse (kurz: OLFA, Thomé/ Thomé 2010 und 2011) und der testabhängigen Hamburger Schreibprobe (kurz: HSP, May 2010) im Hinblick auf eine „echte“ Förderdiagnostik verglichen. Ob testabhängige oder testunabhängige Instrumente für eine konkrete Förderplanung geeignet(er) sind und welche konkreten Ansatzpunkte die Verfahren für eine individuelle Förderung eruieren, soll am Beispiel des Viertklässlers Steven demonstriert werden. Die Ergebnisse der Hamburger Schreibprobe (HSP) Die testabhängige Diagnostik von Rechtschreibleistung hat eine gewisse Tradition in der Schulpraxis. Testabhängige (standardisierte) Verfahren wie die HSP ermöglichen einen Vergleich mit der Norm (individuelle Leistung im Verhältnis zu Gleichaltrigen), erinnern in ihrer Konzeption aber an Diktate (Einzelwort-, Satzbzw. Lückendiktate). Dass Diktate eine zusätzliche psychische Belastung für LernerInnen darstellen, die sich ihrer Schwierigkeiten meist sehr bewusst sind, muss beim Einsatz eines testabhängigen Verfahrens berücksichtigt werden. Diktiert werden wenige Testwörter bzw. Sätze, von deren Beherrschung auf die allgemeine Rechtschreibkompetenz geschlossen wird. Diese Tatsache 496 uj 11+12 | 2013 Rechtschreibdiagnoseverfahren führt dazu, dass bei diesen Verfahren die Validität (d. h. Gültigkeit des Testergebnisses) angezweifelt wird. Die Ballung orthografischer Schwierigkeiten gilt als problematisch, mitunter werden auch Teilbereiche der Orthografie getestet, die bis zum Testzeitpunkt gar nicht Gegenstand des Unterrichts gewesen sind (Eichler 1977, 154f ). Zudem ist fraglich, ob die getesteten Wörter repräsentativ für den individuellen Wortschatz der LernerInnen sind (Herné 2006, 887). Vor allem SchülerInnen mit Migrationshintergrund sind bei der testabhängigen Diagnoseform durch Lücken im Wortschatz (Unkenntnis der Testwörter) im Vergleich mit MuttersprachlerInnen häufig(er) im Nachteil (Becker/ Siekmann 2012). Zum Beispiel Steven Steven ist ein Muttersprachler, der Mitte der 4. Klasse die HSP-Testwörter wie folgt verschriftet (Fehlschreibungen sind in den Abbildungen 1 und 2 mit einem Sternchen * gekennzeichnet): Die Hamburger Schreibprobe kann manuell oder online ausgewertet werden. Die Online-Auswertung von Stevens Test ergibt folgende Ergebnisse (in Auszügen): Bei der Auswertung wird in Tabelle 1 unterschieden zwischen ➤ Alphabetischer Strategie (A), d. h. es gelingt dem/ der SchülerIn, Wörter „lautgetreu“ aufzuschlüsseln und für jeden Laut einen Buchstaben/ eine Buchstabengruppe zu verschriften (z. B. *Briftreger für Briefträger ist lautgetreu, wenn auch orthografisch inkorrekt). ➤ Orthografischer Strategie (O), d. h. bestimmte orthografische Besonderheiten, die über die „lautgetreue“ Verschriftung hinausgehen, werden erfasst (z. B. die Doppelkonsonanz). ➤ Morphematischer Strategie (M), d. h. bestimmte morphematische Besonderheiten werden erfasst (z. B. *Verkeuferin - Steven kennt den Wortbaustein „ver“ und verschriftet das <v> statt <f>. Er schreibt aber vereinfacht <eu> statt <äu>). ➤ *Hantuch *Bläter ➤ *Briftreger *Kwarkkuchen ➤ *Schmeterling *Rulschuhe ➤ *Fahratschlos *Staupsauger ➤ *Fehrnsehprogram *wintmüle ➤ *Verkeuferin *Verkerschilt ➤ *Spienennez *BanckReuber ➤ *Giskane *Strumfhose Abb. 1: HSP-Einzelwörter Satzschlusszeichen müssen selbstständig gesetzt werden und fließen in die Bewertung ein: ➤ Der *torwat *schimft mit dem *Schizrichter. ➤ Familie *Mitag _____ (*keine Schreibung für: „sitzt“) beim *frustüg. ➤ Das *eichörnchen *Knakt *nüse ➤ Max*bekomt zwei *Geschenke (statt „Päckchen“) zum *Geburstag ➤ Die *Lererin schreibt am *Komputer Abb. 2: HSP-Sätze Typ Rohwert Prozentrang T-Wert A 21.0 17.0 40.0 O 3.0 1.0 27.0 M 2.0 0.9 26.0 GT 220.0 3.4 32.0 Tab. 1: Stevens HSP-Ergebnisse, Mitte Klasse 4 497 uj 11+12 | 2013 Rechtschreibdiagnoseverfahren Zudem werden die Graphemtreffer ausgezählt. Grapheme sind die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten auf der Schriftebene, die in Relation zu den Phonemen (kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit auf der Lautebene) stehen. Grapheme bestehen aus 1 bis 3 Buchstaben (z. B. <a>, <sch> oder <eu>), die für einen Laut stehen. Die deutsche Schrift ist so konzipiert, dass für einen Laut meist mehrere Verschriftungsmöglichkeiten existieren. So kann das Phonem / t/ durch ein <t>, <d>, <tt>, <dt> oder in Fremdwörtern auch durch ein <th> repräsentiert werden. Bei den Graphemtreffern wird ausgezählt, wie viele korrekte Grapheme (nicht Buchstaben) verschriftet wurden. Das Wort B/ l/ ä/ tt/ e/ r enthält 6 Grapheme (aber 7 Buchstaben), von denen Steven immerhin 5 korrekt verschriftet. Insgesamt schreibt Steven von 277 nur 220 Grapheme korrekt. Seine Leistung ist im deutschlandweiten Vergleich zu anderen SchülerInnen Mitte der 4. Klasse sehr schwach. Die statistische Berechnung zeigt für diese Leistung einen Prozentrang von 3.4, der als rechtschreibschwach einzustufen ist (ein Prozentrang ≤ 15 wird in der Diagnostik [mehr oder weniger willkürlich] als Hinweis auf eine Rechtschreibschwäche gedeutet, vgl. Herné 2006). Zudem ordnet die Hamburger Schreibprobe (HSP) bestimmte orthografische„Lupenstellen“ den Entwicklungsstrategien des Rechtschreiberwerbs zu. Die Ergebnisse innerhalb dieser Strategien werden in der Auswertung zueinander ins Verhältnis gesetzt. Bei Steven dominiert die alphabetische Strategie (PR 17.0) gegenüber der orthografischen (PR 1.0) und der morphematischen Strategie (PR 0.9), wobei die alphabetische Strategie selbst sehr schwach ausgebildet ist. Die Durchgliederung der Testwörter fällt Steven sehr schwer. Er kann keines der Einzelwörter korrekt verschriften, da er orthografische und morphematische Besonderheiten nicht umsetzen kann. Im zweiten Testsatz vergisst er das Verb (sitzt) und im vierten Satz ersetzt er sinngemäß das Päckchen mit „Geschenk“. Die Testergebnisse zeigen eindeutig, dass Steven massive Rechtschreibschwierigkeiten hat und im Vergleich zur Bundesnorm in allen Strategiebereichen (auch in der alphabetischen Strategie) ein erheblicher Förderbedarf besteht. Für den schulischen Einsatz ist an dieser Stelle zu hinterfragen, welche konkreten Förderansatzpunkte die Hamburger Schreibprobe (HSP) liefert. Die Werte lassen Rückschlüsse auf den Förderbedarf und die Dringlichkeit im Vergleich zur bundesweiten Vergleichsgruppe erkennen. Bei der schulischen und außerschulischen Förderung wird die HSP deshalb auch gerne zur „Selektion“ (Feststellung einer Rechtschreibschwierigkeit), seltener zur Bildung von Fördergruppen (strategieabhängige Förderschwerpunkte) genutzt. Aber kann diese (grobe) Separation dem individuellen Förderbedarf gerecht werden? Die Ergebnisse der Oldenburger Fehleranalyse (OLFA) Testunabhängige Verfahren wie die Oldenburger Fehleranalyse (OLFA) erfassen die Rechtschreibleistung am eigenen (Schreib-)Wortschatz der LernerInnen. Hierbei werden keine Testwörter vorgegeben, die Einschätzung der Kompetenz erfolgt in keiner Testsituation. Eine Verschleierung der Ergebnisse durch die falsche Wortwahl (Geschenk statt Päckchen) gibt es nicht, das Weglassen bestimmter Satzkomponenten wird durch die Arbeit am Text erkannt und kann in eine individuelle Förderung einfließen. Die Oldenburger Fehleranalyse (Thomé/ Thomé 2010, 2011) gehört zu den wenigen testunabhängigen Verfahren und ermöglicht die Erfassung der Rechtschreibkompetenz in frei formu- 498 uj 11+12 | 2013 Rechtschreibdiagnoseverfahren lierten Texten. Die OLFA wurde zum einen für die Klassen 1 - 2, zum anderen für die Klassen 3 - 9 konzipiert und wird nur bei auffälligen Rechtschreibschwierigkeiten eingesetzt. Im Analyseraster der OLFA (vgl. Abb. 3) werden alle Fehlschreibungen horizontal unter sprachwissenschaftlicher Perspektive unterschieden, auf vertikaler Ebene werden sie den drei Entwicklungsstufen instrumentgesteuert zugeordnet: ➤ die vorbis proto-alphabetische Phase (hier werden Schreibungen erfasst, die unsystematisch sind, z. B. die nicht korrekte Durchgliederung von Wörtern), ➤ die alphabetische Phase (hier finden sich systematische orthografische und morphematische Fehler, z. B. Einfachschreibung statt Doppelkonsonanz) und ➤ die orthografische Phase (hier finden sich „Übergeneralisierungen“, d. h. Schreibungen, die zeigen, dass orthographische und morphematische Besonderheiten bekannt sind, aber zeitweise auch an falschen Stelle platziert werden). Die Orientierung an Phasenmodellen des Erwerbsprozesses bringt den Vorteil, dass Fehler Hinweise auf den Entwicklungsstand geben können und damit darauf, wie Über- und Unterforderungen vermieden werden können (vgl. Valtin 2000, 21). Die OLFA 3 - 9 ermöglicht eine inhaltliche Klassifizierung aller Schreibabweichungen in 37 Fehlerkategorien (01 - 37). Alle 37 Kategorien sind streng deskriptiv, d. h. sie beschreiben die Fehler nach ihrer äußeren Form und keinesfalls nach vermuteten Ursachen. Die Kategorien gehen auf verschiedene Rechtschreibuntersuchungen zurück und gliedern sich in folgende Bereiche: ➤ Groß- und Kleinschreibung (Kategorie 01 - 03), ➤ Getrennt- und Zusammenschreibung (Kategorie 04 - 06), ➤ Kürze- und Längenmarkierung (Kategorie 07 - 12), ➤ s/ ß-Schreibungen (Kategorie 13 - 16), ➤ spezielle Graphembereiche (e/ eu, ä/ äu) (Kategorie 17 - 18), ➤ Stammschreibungen bei Auslautverhärtung und Velarisierung (z. B. ptk für bdg im Silbenende) (Kategorie 19 - 20, 27 - 28), ➤ f/ v/ w-Schreibungen (Kategorie 23 - 26) sowie ➤ lautliche Fehler (Kategorie 29 - 35). Lautliche Fehler werden immer dann diagnostiziert, wenn durch die Schreibung die vorgesehene Lautung nicht wiedergegeben wird, weil das fehlerhafte Schriftzeichen unter keinen Umständen den entsprechenden Laut repräsentieren kann, ein Schriftzeichen komplett fehlt oder überflüssig geschrieben wurde. In diesen Bereich fallen Dialektfehler sowie einige grammatische Fehler im Kasusbereich bei den Pronomen und Präpositionen (z. B. *ein für einen, *den statt dem) (vgl. Thomé/ Thomé 2010). Anders als bei einem standardisierten Test gibt es keine eigentliche Testdurchführung, die Erkenntnisse werden nicht in „künstlichen Situationen abgeprüft“, sondern anhand von freien Texten erfasst (Thomé/ Thomé 2009, 193). So befinden sich die SchülerInnen in einer natürlichen stressfreien Schreibsituation (Düsing/ Köller 2008, 23). Zur Durchführung einer qualitativen Fehleranalyse nach der OLFA 3 - 9 werden Schülertexte mit einem Umfang von mindestens 350 Wörtern und 60 Fehlern benötigt. Vor der kompletten Auswertung ist also sicherzustellen, dass der zu analysierende Text genügend Wortmaterial aufweist und dass die Zahl der Fehler so hoch ist, dass eine qualitative Analyse sinnvoll ist (hierzu können Texte aus einem Zeitraum von mehreren Wochen zusammengefasst werden). Geringere Text- und Fehlermengen würden die Ergebnisse des Kompetenz- und Leistungswertes so stark verzerren, dass sie nicht mehr brauchbar wären (Thomé/ Thomé 2010, 14). 499 uj 11+12 | 2013 Rechtschreibdiagnoseverfahren An dieser Stelle sei zum besseren Verständnis kurz die Intention des Kompetenz- und des Leistungswertes erwähnt: ➤ Der Kompetenzwert (KW) gibt Auskunft über die individuelle orthografische Basiskompetenz, indem das Verhältnis der unsystematischen Fehler (Gruppe I) zu den systematischen Fehlern (Gruppe II und III) betrachtet wird. Mit diesem Wert wird eine schnelle und aussagekräftige Einschätzung grundlegender Strukturen der orthografischen Kompetenz geboten. Abb. 3: OLFA-Ergebnis von Steven 500 uj 11+12 | 2013 Rechtschreibdiagnoseverfahren ➤ Der Leistungswert (LW) erfasst, inwieweit sich der/ die SchülerIn schon dem „grünen Bereich“ schulischer Bewertung genähert hat. Einen guten praktikablen Anhaltspunkt bietet aber auch der Wert„Fehler auf 100 Wörter“, der sich im Laufe einer Fördereinheit kontinuierlich verringern sollte. Diesen schauen wir uns im folgenden Text von Steven an. Die Leistungen von Steven in der HSP und in der OLFA sind vergleichbar, da der freie Text parallel zur HSP-Testung entstand. Exemplarisch wurden an dieser Stelle nur ein Ausschnitt des Textes übertragen und die Fehlerkategorien der Überschrift sowie der ersten Zeile zugeordnet (Abb. 4). Eine komplette Analyse des Textes zeigt Abbildung 3. Die spezifischen Fehler werden mittels einer Strichliste im Instrument vermerkt. So muss z. B. für Stevens Fehlschreibung *getreum (Abb. 4, Zeile 3) sowohl eine Eintragung (Strichmarkierung) in der Kategorie „e/ eu für ä/ äu“ (*getreum, Nr. 17, Gruppe II = systematischer Fehler, siehe oben) als auch in der Kategorie „Konsonantenzeichen fehlt“ (*getreum_, Nr. 29, Gruppe I = unsystematischer Fehler) vorgenommen werden. Die Überschrift in Abbildung 4 enthält zwei Fehler: die „Getrennt für Zusammenschreibung“ (Nr. 04) sowie das fehlende <ch>, was als ein Graphem zu werten ist und somit wird nur ein Strich in der Kategorie 29 (Gruppe I = unsystematischer Fehler) vermerkt. Für jede Strichmarkierung steht in der OLFA jeweils nur ein weißes (d. h. leeres) Eintragungsfeld zur Verfügung (die grauen Felder gelten als gesperrt). Auf diese Weise werden individuelle Fehlerschwerpunkte sichtbar, die sowohl orthografiesystematisch (37 Kategorien) als auch entwicklungsorientiert verortet werden (vgl. Thomé/ Thomé 2010). So wird beispielsweise deutlich, ob sich ein/ e SchülerIn noch auf der ersten oder bereits auf einer höheren Entwicklungsstufe befindet. Für Steven zeigt sich durch die Strichlisteneintragung in Abbildung 3 folgende Analyse: Seine Fehlerschwerpunkte liegen in den Gruppe I und II, sind also sowohl systematisch als auch unsystematisch. Sein Text zeigt wenig Kohärenz, ist teilweise schwer lesbar. Er selbst kommentiert Teile des Textes in einer Förderstunde: „Keine Ahnung, was ich da schreiben wollte.“ Die Probleme, die sich in der Hamburger Schreibprobe (Tab. 1) angedeutet haben, spiegeln sich im eigenen Wortschatz (Abb. 4) wider. Steven hat noch massive Probleme auf der lautlichen Ebene (Lautgliederung/ -differenzierung; Kat. 29 - 34 der OLFA). Zudem sind die morphematischen Schwierigkeiten erkennbar (Auslautverhärtung, Kat. 19 in der OLFA) sowie die grundlegenden Probleme mit den Wortgrenzen (Kat. 04 - 06), die in der Hamburger Schreibprobe so nicht dokumentiert werden. Probleme in den Kategorien 07 und 09, Problembereiche vieler SchülerInnen, weil die Abb. 4: Textauszug von Steven, Mitte Klasse 4 Lügen_ Geschiten 04 29 Fabian geht ins Frei Bat im witer. I mist(Ihm ist) im Sommer sehr kalt. Aber er war amstrat 04, 19 01,29 06,09,05 05, 29,19 er ist inwassereingeslafenund hat getreum_ er färt mit einem Auto durchswaser. Und macht ein piknik in enemwal_ er woltewide_einspanenesalepnis im sant machen aber er hat liber einen schetz… 501 uj 11+12 | 2013 Rechtschreibdiagnoseverfahren Längen- und Kürzenmarkierung wie z. B. *Brif bzw. *Bile, nicht konsequent im Unterricht eingeführt werden, teilt er mit vielen seiner MitschülerInnen. Grundsätzlich zeigt die OLFA bei Steven kein anderes Leistungsbild als die Hamburger Schreibprobe. Stevens Text umfasst 132 Wörter und 91 Fehler. Er produziert somit durchschnittlich 69 Fehler auf 100 Wörter. Die Richtwerttabelle für tolerierte Fehlerzahlen auf 100 Wörter (noch unverbindliche Standards; Thomé/ Thomé 2010, 28) zeigt, dass für den Textproduktionszeitraum Mitte Klasse 4 ein Fehlerwert von nur 11,3 zum Durchschnitt zählt (Note zwischen befriedigend und ausreichend). Stevens Fehlerwert liegt um das Sechsfache über dem Durchschnittswert. Im Unterschied zur Hamburger Schreibprobe bietet die Oldenburger Fehleranalyse durch die konkret sichtbaren Fehlerkategorien eine wertvolle Hilfe, wenn es um die Erstellung von Fördermaterialien und Übungen für rechtschreibschwache SchülerInnen geht. Lehrkräfte sollten sich hierbei auf das Wortmaterial aus dem freien Text der LernerInnen konzentrieren, an dem orthografische Phänomene erläutert und geübt werden können. Eine Förderung nach der OLFA sieht die Arbeit an den konkreten Fehlerkategorien vor. Zur Motivation bietet sich die Markierung in der OLFA-Lernstandsentwicklungstabelle (Thomé/ Thomé 2013) an (mit und ohne den betreffenden Fehlerschwerpunkt): Die SchülerInnen können hieran erkennen, was durch die Verbesserung in der Kategorie möglich ist. Außerdem ist es für sie entlastend zu wissen, dass es (nur) bestimmte Bereiche sind, an denen gearbeitet werden muss. Bei Schülern wie Steven kehrt die Lernlust zurück, wenn sie nicht pauschal als schlecht „abgestempelt“ werden, sondern erkennen, dass sie nicht grundsätzlich in allen Bereichen der Orthografie Probleme haben. Ebenso motivierend wie die visualisierte Lernstandsentwicklung ist die Erkenntnis, dass die Orthografie bestimmten Prinzipien folgt und nicht so unsystematisch ist, wie es subjektiv von rechtschreibschwachen SchülerInnen wahrgenommen wird. Die Übungsformen sollten sich am jeweiligen Stand der Entwicklung orientieren. Dafür ist neben der reinen Diagnostik didaktisches Fingerspitzengefühl gefragt, das von der Lernstandsdiagnose maßgeblich getragen wird (Naumann/ Weinhold 2011). Fazit Diagnostische Testverfahren bieten Lehrkräften für den schulischen und außerschulischen Einsatz objektive Bewertungsmaßstäbe. Die konzeptionell unterschiedlichen Verfahrenstypen bieten jeweils Vor- und Nachteile, die Lehrkräfte in der Praxis abwägen sollten (vgl. z. B. den Überblick zur Hamburger Schreibprobe, der Oldenburger Fehleranalyse und der Aachener Förderdiagnostischen Rechtschreibfehler-Analyse in Siekmann/ Thomé 2012). Zur Selektion von förderbedürftigen SchülerInnen sind testabhängige Verfahren wie die HSP aufgrund ihrer Standardisierung, der Normierung und der zeitlichen Ökonomie als Rechtschreibtest in der Schule einsetzbar, wenn eine erste Selektion im Hinblick auf den Förderbedarf konstatiert werden soll. Für die Planung von Fördereinheiten ist dringend eine vertiefende Analyse der Rechtschreibfähigkeiten anzuraten. Freie Texte, die in einer stressfreien, eventuell sogar motivierenden Atmosphäre geschrieben wurden, können mehr über die eigentliche Kompetenz der SchülerInnen verraten als Testverfahren, die u. a. auch von der Tagesleistung abhängig sind. 502 uj 11+12 | 2013 Rechtschreibdiagnoseverfahren Literatur Becker, T./ Siekmann, K., 2012: Diagnose orthographischer Fähigkeiten bei mehrsprachigen Kindern. In: Grießhaber, W./ Kalkavan, Z. (Hrsg.): Orthographie- und Schrifterwerb bei mehrsprachigen Kindern. Freiburg, S. 169 - 187 Düsing, E./ Köller, K., 2008: Diagnostische Verfahren im Deutschunterricht. In: Heggen, T./ Götze, D. (Hrsg.): Grundschule neu denken. Beiträge des Paderborner Grundschultages 2006 zu Heterogenität, Medien und Ganztag. Wien/ Zürich, S. 15 - 30 Eichler, W., 1977: Sprach-, Schreib- und Leseleistung. Eine Diagnostik für den Deutschlehrer. München Herné, K.-L.,²2006: Rechtschreibtests. In: Bredel, U./ Günther, H./ Klotz, P./ Ossner, J./ Siebert-Ott, G. (Hrsg.): Didaktik der deutschen Sprache. Bd. 2. Paderborn, S. 883 - 897 Herné, K.-L./ Naumann, C. L., 4 2002: Aachener Förderdiagnostische Rechtschreibfehler-Analyse. AFRA. Systematische Einführung in die Praxis der Fehleranalyse mit Auswertungshilfen zu insgesamt 33 standardisierten Testverfahren als Kopiervorlagen mit Beiträgen von C. Löffler. Aachen May, P., 2010: HSP Manual 1 - 9. Diagnose orthographischer Kompetenz. Zur Erfassung der grundlegenden Rechtschreibstrategien mit der Hamburger Schreibprobe. Stuttgart Naumann, C. L., 2008: Zur Rechtschreibkompetenz und ihrer Entwicklung. In: Bremerich-Vos, A./ Granzer, D./ Köller, O. (Hrsg.): Lernstandsbestimmung im Fach Deutsch. Weinheim/ Basel, S. 134 - 159 Naumann, C. L./ Weinhold, S., 2011: Rechtschreiben. In: Bremerich-Vos, A./ Granzer, D./ Köller, O. (Hrsg.): Bildungsstandards für die Grundschule: Deutsch konkret. Berlin, S. 185 - 201 Siekmann, K./ Thomé, G., 2012: Der orthographische Fehler. Grundzüge der orthographischen Fehlerforschung und aktuelle Entwicklungen. Oldenburg Thomé, G., 2 2006: Entwicklung der basalen Rechtschreibkenntnisse. In: Bredel, U./ Günther, H./ Klotz, P./ Ossner, J./ Siebert-Ott, G. (Hrsg.): Didaktik der deutschen Sprache. Bd. 1. Paderborn, S. 369 - 379 Thomé, G./ Thomé, D., 2009: Zur individuellen Diagnostik in der Rechtschreibförderung: Das Konzept von OLFA (Oldenburger Fehleranalyse). In: Valtin, R./ Hofmann, B. (Hrsg.): Kompetenzmodelle der Orthographie. Empirische Befunde und förderdiagnostische Möglichkeiten. Berlin, S. 189 - 198 Thomé, G./ Thomé, D., 2 2010: OLFA 3 - 9. Oldenburger Fehleranalyse für die Klassen 3 - 9. Instrument und Handbuch zur Ermittlung der orthographischen Kompetenz und Leistung aus freien Texten. Oldenburg Thomé, G./ Thomé, D., 2 2011: OLFA 1 - 2. Oldenburger Fehleranalyse für die Klassen 1 und 2. Handbuch und Instrument zur Ermittlung der orthographischen Kompetenz und Leistung aus freien Texten. Oldenburg Thomé, G./ Thomé, D., 2 2013: Rechtschreibförderung organisieren nach OLFA 3 - 9. Oldenburg Valtin, R., 2000: Ein Entwicklungsmodell des Rechtschreibens. In: Valtin, R. (Hrsg.): Rechtschreiben lernen in den Klassen 1 - 6. Frankfurt am Main, S. 17 - 22 Testunabhängige Diagnoseverfahren wie die OLFA stellen somit einen „Hebel für die individuelle Förderung“ dar (Naumann 2008, 150). In der OLFA wird - wie das Fallbeispiel zeigt - aus der Fehleranalyse zeitgleich auch eine Förderanalyse, weil die spezifischen Fehlerkategorien sichtbar werden, in denen Förderbedarf besteht. Dr. Katja Siekmann Westfälische Wilhelms-Universität Münster Germanistisches Institut Schlossplatz 34 48413 Münster k.siekmann@uni-muenster.de
