eJournals unsere jugend 65/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2013.art07d
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2013
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Migrationssensibilität im Kinderschutz

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2013
Birgit Jagusch
Für den Kinderschutz ergeben sich vor dem Hintergrund einer von Migrationsprozessen geprägten Gesellschaft neue Herausforderungen.
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62 unsere jugend, 65. Jg., S. 62 - 70 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art07d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. phil Birgit Jagusch Jg. 1976; Diplom-Sozialwissenschaftlerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ism) Die Umsetzung des Kinderschutzes, die Sicherstellung der Rechte von Kindern und die Bereitstellung bedarfsgerechter Hilfen für alle Kinder, die Gefahren für ihr Wohl ausgesetzt sind, sind zentrale Anforderungen an die Jugendhilfe. Wenig Berücksichtigung in den Diskussionen um Kinderschutz fand bisher jedoch die Tatsache, dass inzwischen fast jede_r fünfte Einwohner_in Deutschlands einen Migrationshintergrund hat und sich daraus spezifische Anforderungen an die Kinder- und Jugendhilfe ableiten lassen, die sich aus der ethno-natio-kulturell (Mecheril 2004) pluralen Zusammensetzung der Gesellschaft ergeben. Grundlage des folgenden Artikels bildet das Projekt „Migrationssensibler Kinderschutz“, das von 2008 bis 2011 vom Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V. in Kooperation mit der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen e.V. durchgeführt wurde. Zu den Zielen des Projekts gehörte wesentlich, dass durch die empirischen Anteile eine fundierte Datenbasis zu Fragen rund um die Themenbereiche „Kinderschutz“ und „Migration“ geschaffen werden sollte, da die Datenlage sich hierzu insgesamt als wenig aussagekräftig erwiesen hatte. Das Projekt zielte demzufolge darauf ab, einen Beitrag zur Normalisierung einer durch Migrationsprozesse geprägten Gesellschaft in der Jugendhilfe zu leisten und im Dialog mit den beteiligten Projektstandorten herauszuarbeiten, wie das Handeln des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) sich unter den Bedingungen einer pluralen und heterogenen Gesellschaft weiterentwickeln kann. Als explizites Praxisforschungs- und -entwicklungsprojekt war es so angelegt, dass neben der Schaffung einer soliden Datenbasis zu Fragen rund um das Thema Kinderschutz in Familien mit und ohne Migrationshintergrund die Praxisentwicklung einen zentralen Bestandteil innehatte. Zur Umsetzung des Projekts konnten drei Modellstandorte gewonnen werden, die unterschiedliche soziostrukturelle Charakteristika aufwiesen: Neben zwei westdeutschen Großstädten wurde auch ein ländlich strukturierter Landkreis in das Projekt einbezogen. Mit diesen drei Standorten war es möglich, die Arbeit des ASD in urbanen Ballungsräumen mit teils sehr unterschiedlicher Soziostruktur in den Blick zu nehmen und ebenso zu untersuchen, welche spezifischen Anforderungen sich bei der Umsetzung des Kinderschutzes in einer ländlichen Region mit hohem Anteil an Einwohner_innen mit Migrationshintergrund ergeben. Um die Datenlage in Bezug auf die Thematik „Kindeswohlgefährdung bei Familien mit und Migrationssensibilität im Kinderschutz Für den Kinderschutz ergeben sich vor dem Hintergrund einer von Migrationsprozessen geprägten Gesellschaft neue Herausforderungen. 63 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit ohne Migrationshintergrund“ zu verbessern, wurde eine Zielgruppenanalyse durchgeführt. Hierzu wurden alle Kinderschutzverdachtsfälle (unabhängig davon, ob das betroffene Kind einen Migrationshintergrund hatte oder nicht) der beteiligten Standorte, in denen im Jahr 2008 eine Meldung bei den Allgemeinen Sozialdiensten einging, erhoben und ausgewertet. 1 Die Erhebung bezog sich auf Angaben aus den drei Projektbezirken zur Meldung, zur Lebenssituation der betroffenen Kinder und deren Familien, zum Verfahren der Risikoeinschätzung, zu vorliegenden Gefährdungslagen und Problemindikationen, zu gewährten Hilfen (zur Erziehung) sowie zu migrationsspezifischen Faktoren, die im Zuge eines standardisierten Fragebogens eingeholt und ausgewertet wurden. Zur Vertiefung und Validierung der in der Zielgruppenanalyse und den weiteren Recherchen gewonnenen Daten wurden qualitative Einzelfallstudien durchgeführt, die insbesondere dazu dienten, die Perspektive der Familien in die Studie einzubeziehen und damit die Sichtweise der Fachkräfte - die über die Zielgruppenanalyse abgebildet wurde - zu komplementieren. Die Daten liefern Erkenntnisse zur Verbesserung des Kinderschutzes sowie zur Präzisierung eines migrationssensiblen Vorgehens für die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland und sind in Form eines Werkbuchs gebündelt und aufbereitet (Jagusch/ Sievers/ Teupe 2012). Der folgende Beitrag konzentriert sich auf drei Aspekte: „Sozio-demographische, sozio-ökonomische sowie sozialräumliche Rahmenbedingungen für das Kindeswohl und den Kinderschutz“, die „Gefährdungseinschätzung“ sowie „Kommunikationsbarrieren“. Detaillierte und weiterführende Auseinandersetzungen finden sich im Werkbuch (Jagusch/ Sievers/ Teupe 2012). Sozio-demographische, sozioökonomische sowie sozialräumliche Rahmenbedingungen Die Auswertung der Kindeswohlgefährdungsmeldungen der drei Standorte zeigt, dass 1 bis 2 % (2 % in Stadtbezirken mit stark verdichteten Problemlagen) der Population der bis 21-Jährigen in den Projektbezirken von einer Verdachtsmeldung auf eine Kindeswohlgefährdung betroffen sind. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund an diesen Verdachtsmeldungen liegt bei durchschnittlich 52,4 % und entspricht dabei ihrem Anteil an allen Kindern und Jugendlichen in der altersgleichen Bevölkerung. 2 Dies bedeutet, dass Kinder mit Migrationshintergrund nicht häufiger und nicht seltener von einem Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung betroffen sind als Kinder ohne Migrationshintergrund. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind eine zentrale Zielgruppe auch im Kinderschutz, da sie hohe Anteile an der Gesamtbevölkerung stellen, und nicht, weil Familien mit Migrationshintergrund weniger in der Lage sind, ihre Kinder zu schützen. Ein weiteres Ergebnis der Datenanalyse verweist auf die Notwendigkeit, sich im Kontext der migrationssensiblen Ausgestaltung der Kinderschutzarbeit mit den Migrationsbiographien und spezifischen Lebenslagen auseinanderzusetzen. So wurde etwa deutlich, dass aufseiten der Fachkräfte ein hohes Maß an Nichtwissen bezüglich der aufenthaltsrechtlichen Situation der Familien mit Migrationshintergrund im Kinderschutz zu konstatieren ist. Hinsichtlich der Migrationsgeschichten offenbart die empirische Analyse, dass sich zwischen Eltern und Kindern deutliche intergenerationale Unterschiede in der Art der Migrationserfahrungen feststellen lassen: Während 1 Insgesamt gingen 718 Kindeswohlgefährdungsmeldungen, verteilt über die drei Standorte, ein. Die Gesamtzahl der betroffenen Haushalte beläuft sich dabei auf 507. 2 Dabei variieren die Anteile der in den Projektbezirken lebenden Kinder/ Jugendlichen mit Migrationshintergrund an der altersgleichen Bevölkerung zwischen 34,1 % (Landkreis) und 60,3 % bzw. 61,8 % (urbane Ballungsräume). 64 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit die Eltern überwiegend eigene Migrationserfahrungen gemacht haben, sind die Kinder zu einem großen Teil in Deutschland geboren und werden hier sozialisiert. In Bezug auf die Herkunftskontexte zeigt sich ein äußerst plurales Bild, das keine Rückschlüsse in Form von bestimmten Herkunftsländern, die im Kinderschutz besonders häufig vertreten sind, zulässt. Im Gegenteil spiegelt sich - analog zur Gesamtbevölkerung mit Migrationshintergrund - eine Vielzahl an Herkunftsländern und -kontexten wider. Neben den biographischen Erlebnissen, die mit der Migration verknüpft sind, spielen für viele Menschen mit Migrationshintergrund auch Erfahrungen mit Ausgrenzung und Rassismus eine Rolle, die sich auch im Umgang mit Behörden niederschlagen können. Eine Studie über die Relevanz von Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe (Melter 2006) kommt zu dem Ergebnis, dass in pädagogischen Kontexten äußerst selten Rassismuserfahrungen von Jugendlichen überhaupt angesprochen werden. Die Studie zeigt, dass in den Interaktionen zwischen den Mitarbeitenden der Jugendhilfe und den im Rahmen verschiedener Jugendhilfemaßnahmen betreuten Jugendlichen bestimmte Erfahrungsräume selten bis gar nicht thematisiert wurden. Dazu gehören Erfahrungen von alltäglichem Rassismus der Jugendlichen. Aber auch das Thema des Aufenthaltsstatus wird seitens der Pädagog_innen zwar als wichtig erachtet, jedoch aufgrund von Informationsdefiziten wenig mit den Jugendlichen bearbeitet (Melter 2006). In diesem Zusammenhang lassen sich Analogien zu den Projektergebnissen des Projekts „Migrationssensibler Kinderschutz“ aufzeigen, in dem die Diskrepanz zwischen der Relevanz aufenthaltsrechtlicher Fragen für das Leben der Betroffenen einerseits und dem geringen diesbezüglichen Wissen der Fachkräfte andererseits als zentrales Desiderat für die weitere Qualifikation von Mitarbeitenden im Kinderschutz herausgearbeitet wurde (Jagusch/ Teupe/ Sievers 2012). Für eine migrationssensible Ausgestaltung des Kinderschutzes ist entsprechend das Wissen um ➤ die je individuellen Migrationsmotive und -hintergründe, ➤ die individuelle Migrationsgeschichte und den Umgang mit dieser Geschichte und ➤ ihre Auswirkungen auf die aktuelle Lebens- und Erziehungssituation sowie auf die Rollen und damit einhergehenden Konflikte der Familienmitglieder sowie ➤ die Erfahrungen von Ausgrenzung und Rassismus hilfreich, um die Situation der Familie bzw. einzelner Mitglieder und deren Hilfebedarf einschätzen zu können und passgenaue Hilfen zu installieren. Die Daten zeigen weiterhin, dass es nicht der Migrationshintergrund ist, der dazu führt, dass Kinder von ihren Eltern nicht hinreichend geschützt werden können bzw. von diesen selbst gefährdet werden, sondern dass u. a. prekäre Lebenslagen die Lebensbedingungen der Familien wesentlich charakterisieren. So zeigt sich in den Projektbezirken, dass Familien, die ALG II beziehen, Familien, in denen ein Elternteil alleine mit Kindern im Haushalt lebt, Familien mit drei und mehr Kindern, Familien mit sehr jungen Müttern sowie Familien, in denen Kinder und Eltern deutlich bildungsbenachteiligt sind, in den Kindeswohlverdachtsmeldungen deutlich überrepräsentiert sind. Die Lebensverhältnisse von Familien mit und ohne Migrationshintergrund, zu denen eine Gefährdungsmeldung einging, sind dabei gleichermaßen prekär. Und noch eine weitere Schlussfolgerung kann in Bezug auf die sozio-strukturellen Rahmenbedingungen gezogen werden: Wird über Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen, scheint es häufig so, als handele es sich hierbei um Themen, die sich ausschließlich auf urbane (westdeutsche) Ballungszentren beziehen. Neben zwei Großstädten war 65 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit nun im Projekt „Migrationssensibler Kinderschutz“ explizit auch ein Landkreis aus einer ländlich strukturierten Region Deutschlands vertreten. Wenngleich im Landkreis der Anteil der vertretenen Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu den anderen beiden Standorten insgesamt niedriger liegt, entspricht die Zahl jedoch in etwa den in diesem Landkreis lebenden Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die Auswertungen der Kinderschutzverdachtsfälle nach Regionen, Migrationshintergrund und Bevölkerungsstatistik verdeutlichen demzufolge, dass die Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Arbeit im Kinderschutz migrationssensibel ausgestaltet werden kann, keine rein auf großstädtische Regionen bezogene, sondern gleichermaßen virulent für den ländlichen Raum ist. Ein wichtiger Faktor, wenn es um die sozioökonomische Positionierung von Menschen geht, ist der Blick auf die Voraussetzungen, unter denen Menschen am Arbeitsleben teilhaben. Dazu gehört insbesondere die Berücksichtigung der Bildungsbeteiligung. Im Rahmen der Zielgruppenanalyse im Projekt„Migrationssensibler Kinderschutz“ zeigt sich, dass bei den im Kinderschutz vertretenen Familien (mit und ohne Migrationshintergrund) v. a. zwei Aspekte sichtbar werden: Zum einen offenbart sich die Tendenz, dass Bildungsbiographien sich im Familienbzw. Generationenverlauf fortsetzen. Sowohl bei den Eltern der betroffenen Kinder/ Jugendlichen als auch bei den Kindern/ Jugendlichen selbst finden sich überdurchschnittlich viele Menschen mit formal geringer Qualifikation. Bei den Eltern wird dieser Wert über den höchsten Bildungsabschluss, der im Haushalt vorhanden ist, deutlich: In über der Hälfte der Haushalte (mit und ohne Migrationshintergrund) ist der Schulabschluss die höchste formale Qualifikation, d. h. keines der Elternteile verfügt über eine Ausbildung oder gar ein Studium. Bei den Kindern und Jugendlichen wird die Bildungsbiographie über die besuchte Schulform zum Zeitpunkt der Meldung abgefragt: Auch hier wird deutlich, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen insgesamt überdurchschnittlich häufig eine Förder- oder Hauptschule besuchen und deutlich seltener als im Bundesdurchschnitt ein Gymnasium. Zum zweiten lässt sich zeigen, dass bei den betroffenen Familien der Anteil der Eltern mit Migrationshintergrund, die über ein Universitätsstudium verfügen, deutlich höher ist als bei den Familien ohne Migrationshintergrund (5,2 % versus 9,0 %). An dieser Stelle wird sichtbar, wie notwendig eine differenziertere Herangehensweise und Interpretation der Ergebnisse des Projekts ist: Allein die Tatsache, dass eine Familie mit Migrationshintergrund über hohes Bildungskapital verfügt, bedeutet noch nicht, dass sie dieses auch in ökonomisches Kapital umsetzen kann, wenn nämlich die Bildungsabschlüsse im Ausland erworben und in Deutschland nicht anerkannt werden. Als professionelle Herausforderung lässt sich in diesem Zusammenhang der Bedarf der Profilierung der Arbeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes mit Blick auf Familien (ohne und mit Migrationshintergrund) in prekären Lebenslagen benennen. Möglichkeiten und Grenzen der ASD-Arbeit, erforderliche Kooperationen im Einzelfall und einzelfallübergreifend sowie eine dafür notwendige Ausstattung des ASD sind in diesem Zusammenhang zu erörtern. Ferner bedarf es einer Weiterentwicklung der sozialen Regelstruktur für Familien in prekären Lebenslagen sowie der Etablierung präventiver Angebote, um Familien zu entlasten und zu stabilisieren sowie Eskalationen zu vermeiden. Diesbezüglich ist eine enge Zusammenarbeit von beispielsweise Jugendamt, freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe, Kitas, Schulen und Migrantenselbstorganisationen sowie die Einbindung fachpolitischer Gremien notwendig. 66 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit Gefährdungseinschätzung und Gefährdungslagen Die empirische Analyse zeigt, dass sich im Verlauf des Gefährdungseinschätzungsprozesses die Mehrzahl der Kindeswohlverdachtsmeldungen erhärtet (25,1 %) bzw. eine Gefährdung nicht ausgeschlossen werden kann (38,4 %). In 36,5% der Fälle hingegen gelangen die Fachkräfte zu dem Ergebnis, dass keine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Allerdings zeigen sich Unterschiede bei der Einschätzung der Gefährdung zwischen Kindern/ Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. Zwar kommen die Fachkräfte bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund in je einem Viertel der Meldungen zu dem Ergebnis, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Deutlich häufiger allerdings wird bei Familien ohne Migrationshintergrund eine Kindeswohlgefährdung ausgeschlossen (40,2 % oMH versus 32,9 % mMH), während bei Familien mit Migrationshintergrund häufiger eine KWG nicht auszuschließen, aber auch nicht festzustellen ist (42,5 % mMH versus 34,1 % oMH). Die Gefährdungseinschätzung gestaltet sich demnach für die ASD- Fachkräfte in und mit Familien mit Migrationshintergrund uneindeutiger. Gleichzeitig schließen sich bei nicht eindeutigen Einschätzungen häufig auch aus Perspektive der ASD-Fachkräfte weniger erfolgreiche Anschlusshilfen an. Die am häufigsten festgestellte Gefährdungslage ist sowohl bei Familien mit als auch bei Familien ohne Migrationshintergrund die Vernachlässigung, die in jeder zweiten Familie, zu der eine Gefährdungsmeldung eingeht, diagnostiziert wurde. An zweiter Stelle steht mit knapp 30 % die Partnerschafts-/ bzw. häusliche Gewalt. Je ähnliche und deutlich geringere Anteile stellen die Gefährdungslagen„körperliche Misshandlung“ (16 %), „unzureichender Schutz vor Gefahren durch Dritte“ (13 %) und „psychische Misshandlung“ (13 %) dar. Sexueller Missbrauch wird in 6 % der Familien als Gefährdungslage benannt, in 3 % geht es um massive Autonomiekonflikte/ Menschenrechtsverletzungen (wie Zwangsverheiratung u. a.). Die Gefährdungslagen „Partnerschaftsgewalt“ und „körperliche Misshandlung der Kinder“ werden bei Kindern (und Letzteres insbesondere bei Mädchen) mit Migrationshintergrund deutlich häufiger benannt als bei Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Umgekehrt werden die Gefährdungslagen der „Vernachlässigung“ und des „sexuellen Missbrauchs“ bei Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund signifikant häufiger von den Fachkräften angegeben. Diese Befunde verweisen auf die Notwendigkeit der fachlichen Bearbeitung des Gefährdungseinschätzungsprozesses in und mit Familien mit Migrationshintergrund: vom zieldienlichen Umgang mit sprachlichen Barrieren über die Verständigung hinsichtlich notwendiger Informationen bezüglich der Migrationsgeschichte bis hin zum Aufgreifen der Unsicherheiten der Fachkräfte. Kommunikationsbarrieren Um im Kinderschutz und bei Kindeswohlgefährdungen die richtigen Entscheidungen treffen und die adäquaten Hilfemaßnahmen für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Familien einleiten zu können, werden Fachkräfte des ASD vor eine Reihe von Herausforderungen gestellt: Um die Gefährdungen einschätzen und die Problemlagen innerhalb der Familie erkennen zu können und beides mit den betroffenen Familien so zu thematisieren, dass alle Seiten zu einer gemeinsamen Problemkongruenz und -akzeptanz kommen, muss in der Regel eine Atmosphäre hergestellt werden, in der sich die Beteiligten verstehen können. Wie aber kann es gelingen, ein gegenseitiges Verstehen unter den Bedingungen einer emotional belasteten Situation zu erreichen? Welche Möglichkeiten gibt es, den Dialog so zu gestalten, dass alle Beteiligten sich verstanden fühlen und offen für die Sichtweisen der jeweiligen anderen sind? Wie können Fachkräfte gleichzeitig empathisch und respektvoll mit den Fa- 67 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit milien kommunizieren, ohne den Schutzauftrag und ihr Mandat aus den Augen zu verlieren? Diese Anforderungen gelten für alle Familien, unabhängig davon, ob sie einen Migrationshintergrund besitzen oder nicht, und stellen in jedem Fall eine der großen Herausforderungen in der Arbeit des ASD dar. Wenn über Familien mit Migrationshintergrund gesprochen wird, fällt jedoch häufig das Stichwort der Sprache bzw. Sprachkompetenz in Deutsch im Kontext der Diskussionen um Verstehen und Teilhabe. Ganz unbestreitbar gehört die Fähigkeit, in der Kommunikation mit anderen auf eine gemeinsam geteilte Sprache zurückgreifen zu können, zu einer der wesentlichen Voraussetzungen für gelingende Verständigung. Gleichzeitig impliziert Verstehen weit mehr als nur reine Sprachkompetenz. Rund 48 % aller Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, für die eine Kindeswohlverdachtsmeldung beim ASD einging, leben in Familien, in denen die Umgangssprache nicht vorrangig Deutsch ist. Wenngleich also bei rund der Hälfte der betroffenen Kinder und Jugendlichen Deutsch nicht die primäre Sprache in ihrem Elternhaus darstellt, kann darüber noch keine Aussage über die Sprachkompetenz der Eltern und Kinder getroffen werden. Ob und inwieweit eine Mehrsprachigkeit in den betroffenen Familien vorhanden ist und diese für die Zusammenarbeit mit den Familien positiv genutzt werden kann, kann über die vorliegenden Daten nicht rückgeschlossen werden. Allerdings verweisen die Daten darauf, dass in einer Vielzahl von Familien die familiäre Kommunikation nicht auf Deutsch stattfindet. Dies kann ein Indikator dafür sein, dass beispielsweise bei emotional besetzten Themen (wie sie der Kinderschutzarbeit inhärent sind) ein besonderes Augenmerk darauf gelegt werden muss, ob es allen Familienmitgliedern möglich ist, sich adäquat auszudrücken bzw. den Anliegen der Sozialarbeiter_innen zu folgen, bzw. ob es notwendig wäre, auf die Unterstützung von Dolmetscher_innen zurückzugreifen. Allerdings sind Pauschalisierungen in Bezug auf Sprachvermögen und -kompetenz unzulässig. Die Muttersprache spielt in den einzelnen Familien eine teils sehr unterschiedliche Rolle. So sprechen Jugendliche der zweiten oder dritten Generation häufig besser Deutsch als die Herkunftssprache ihrer Eltern. Gleiches gilt für den Gültigkeitscharakter von nonverbalen Codes und Symbolen. Ferner ist die psychische Ebene der Sprachkompetenz von Relevanz: Mitarbeitende der Jugendhilfe sollten sich bewusst sein, dass es belastend sein kann, wenn Personen nicht die Chance haben, sich in offiziellen Interaktionen ihrer Muttersprache bedienen zu können, die gerade bei emotional aufgeladenen Themen von Bedeutung sein kann. Auch können Informationen, die nur über bestimmte Wörter zum Ausdruck gebracht werden können, in interkulturellen Gesprächssituationen verloren gehen bzw. Begriffe in verschiedenen Sprachen unterschiedlich konnotiert sein, was dazu führen kann, dass sich die Gesprächspartnerinnen nicht verstanden fühlen. Wichtig ist es demzufolge zu betonen, dass zur Verständigung und zum gegenseitigen Verstehen weit mehr als die reine Sprachkompetenz gehört: Das Setting des Gesprächs, die gegenseitigen Rollenerwartungen, die Haltung der einzelnen Interaktionspartner_innen zueinander, die institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen, die Sprachweise sowie nonverbale Symbole und Codes haben ebenfalls einen wichtigen Einfluss innerhalb von Kommunikationsbeziehungen. Hier gilt es für eine migrationssensible Ausgestaltung der Arbeit des ASD all diese Ebenen und Formen zu berücksichtigen und nicht einseitig Nicht-Verstehen auf (vermeintliche) Sprachschwierigkeiten zurückzuführen. Inwieweit es gelingt, mögliche Sprachbarrieren in der Kommunikation auszugleichen, lässt sich u. a. aus der Analyse der empirischen Daten über die Frage der Einbeziehung von Dolmetscher_innen beleuchten. Bei rund 76 % aller 68 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wurde im Rahmen der Elternkontakte keine Dolmetscherin hinzugezogen, in jeder fünften Familie wurde für die Gespräche mit den Eltern jemand zur Übersetzung hinzugezogen. Dabei handelt es sich in 40,4 % um eine_n professionelle_n Dolmetscher_in, in 31,9 % um eine Fachkraft aus dem ASD oder einer Migrationsberatungsstelle und in jedem fünften Fall um eine_n Familienangehörige_n. Angesichts der Tatsache, dass die Übersetzung in Krisensituationen ein hohes Maß an Professionalität und Rollendistanz voraussetzt und demzufolge der Einsatz von Familienmitgliedern, insbesondere Kindern/ Jugendlichen, nicht geeignet ist, zeigen die Projektergebnisse, dass es in den Projektstandorten überwiegend gelang, auf hauptamtliches Personal für die Übersetzung zurückzugreifen. Neben den professionellen Dolmetscher_innen werden zunehmend in verschiedenen Bereichen Personen qualifiziert, die unter den Bezeichnungen inter- oder transkulturelle Mittler_innen oder Lots_innen firmieren. Grundlage der meisten Lotsenkonzepte ist die Annahme, dass gegenseitiges Verstehen nicht nur auf die rein sprachliche Verständigung reduziert werden kann. In der Regel handelt es sich bei Personen, die als Mittler_innen agieren, um Personen, die an einer entsprechenden Schulung teilgenommen haben. Dabei variieren die Schulungscurricula teilweise stark hinsichtlich des Umfangs und der behandelten Inhalte. Entsprechend müssen sich Institutionen, die Sprach- und Kulturmittler_ innen einsetzen möchten, darüber informieren, für welche Arbeitsbereiche die Mittler_innen ausgebildet wurden. Gerade Mittler_innen, die ehrenamtlich tätig sind und eine nur kurze Qualifizierung absolviert haben, sind in der Regel auf spezifische Arbeitsfelder spezialisiert. In der Praxis verlaufen die Grenzen zwischen (professionellem) Dolmetschen und interkultureller Vermittlung häufig fließend. Wie eine Studie aus der Schweiz über die Verbesserung von Teilhabechancen von Menschen mit Migrationshintergrund in den Sektoren Gesundheit, Bildung, Soziales und Justiz zeigt, übernehmen die befragten Dolmetscher_innen in ihrem Alltagskontext häufig auch vermittelnde Aufgaben und werden interkulturelle Mittler_ innen auch als Dolmetscher_innen herangezogen (Bischoff/ Schuster 2010, 177ff ). Interkulturelle Mittler_innen/ Lots_innen bzw. Sprach- und Kulturmittler_innen können eine vielversprechende Möglichkeit darstellen, um Kommunikationsbarrieren, die nicht nur auf der rein sprachlichen Ebene angesiedelt sind, zu beheben. In vielen Städten gibt es bereits solche Mittler_innen (teils unter unterschiedlichen Namen). Für die Arbeit im Kinderschutz mit Familien mit Migrationshintergrund kann es entsprechend lohnenswert sein, Kontakte aufzubauen und diese in die Kinderschutzarbeit einzubeziehen. Fazit Zusammenfassend lassen sich aus der Analyse der Ergebnisse des Projekts „Migrationssensibler Kinderschutz“ folgende Aspekte resümieren: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund stellen im Kinderschutz eine relevante Gruppe an allen betroffenen Kindern und Jugendlichen dar. Im Vergleich mit ihren Alterskolleg_innen ohne Migrationshintergrund sind sie weder übernoch unterrepräsentiert, sondern gemäß ihrem Anteil an der Bevölkerung in den drei Projektstandorten vertreten. Um sich in der Zusammenarbeit mit Familien mit Migrationshintergrund im Kinderschutz entsprechend ein Bild der familiären Lage zu machen, bedarf es von den Fachkräften der Gratwanderung, auf der einen Seite die unterschiedlichen Differenzlinien - Migrationsursachen, soziale, ökonomische, bildungsbezogene, sozio-geographische Positionierungen, 69 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit rechtliche Rahmenbedingungen, Alter, Geschlecht und Migrationsgeschichten - zu berücksichtigen und gleichzeitig mit möglichst wenig vorgefertigten Bildern an die Familien heranzutreten. Nur so können die Familien (-mitglieder) kompetente Akteur_innen ihrer eigenen Lebensrealität sein und ihre Wahrnehmungen, Bedürfnisse und Hilfebedarfe mitteilen. Gleichzeitig kann gezeigt werden, dass speziell im Bereich der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Fachkräfte Qualifizierungsbedarf besteht. Insbesondere bei Familien, die in aufenthaltsrechtlich prekären Situationen leben, wird die Lebenssituation durch diese gravierend beeinflusst. Hier gilt es, spezifisches Wissen zu fördern, möglicherweise durch spezielle Schulungsangebote oder Kontaktaufbau zu entsprechenden Einrichtungen auf der lokalen Ebene. Zudem wäre es sinnvoll, auf Leitungsebene die Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und Ausländerbehörde zu forcieren. Für etwas sensibel zu sein bedeutet, empfindsam zu sein, Verständnis und Empathie aufzubringen. Für die Arbeit im Kinderschutz sind diese Fähigkeiten zentral, um Schwierigkeiten, aber auch Ressourcen innerhalb von Familiensystemen zu erkennen, eine vertrauensvolle Basis der Zusammenarbeit zu entwickeln und angemessene Hilfe- und Schutzpläne für Kinder und Jugendliche umsetzen zu können. Die Arbeit mit Familien mit Migrationshintergrund ist jedoch bisher häufig noch von gegenseitigen Unsicherheiten (der Fachkräfte, aber auch der betroffenen Familien) charakterisiert, die es erschweren, eine gemeinsame und konstruktive Basis der Zusammenarbeit zu entwickeln. Die Grundmaxime, die handlungsleitend für das gesamte Projekt war, kann zusammengefasst werden unter dem Motto: „Keine Überbetonung von (vermeintlichen) Differenzen und gleichzeitig kein Ignorieren von möglicherweise bedeutsamen Unterschieden.“ Migrationssensibilität kann insofern verstanden werden als grundlegende selbstreflexive Haltung von Personen, die in der Sozialen Arbeit tätig sind. Diese impliziert das Bewusstsein darüber, dass Migrationsprozesse sich auf Familiensysteme und die einzelnen beteiligten Individuen auswirken und mit einer Reihe an spezifischen Herausforderungen (auf psycho-emotionaler wie auch sozio-ökonomischer, rechtlicher, kulturell und bildungsbezogener Ebene) verknüpft sein können. Gleichzeitig sind die Migrationsbiographien und -geschichten so plural, dass Migrationssensibilität kein Wissen über Patentrezepte enthalten kann, sondern vielmehr eine den jeweiligen Familien wertschätzend begegnende Grundhaltung impliziert. Zur Migrationssensibilität gehört wesentlich auch die Kompetenz, einen produktiven Umgang mit Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen zu erlernen, die sich in jeder Familie manifestieren können. Diese hilft in der Alltagspraxis, einerseits tatsächliche Besonderheiten zu erfassen und andererseits vermeintliche Differenzen, die sich in Stereotypen manifestieren, über Bord zu werfen. Dieses Dilemma, Unsicherheiten nicht a priori auflösen zu können und stets in jedem Einzelfall ausloten zu müssen, welche Relevanz „ethno-natio-kulturelle“ (Mecheril 2004) Besonderheiten haben (oder auch nicht), kann in der migrationssensiblen Kinderschutzarbeit in der Weise umgesetzt werden, dass das, was Franz Hamburger als „reflexive Interkulturalität“ (Hamburger 2009) bezeichnet, handlungsleitende Maxime auch in der Kinderschutzarbeit wird. Eine selbstreflexive Auseinandersetzung bedeutet demzufolge nicht, Verunsicherungen als per se problematisch oder gar falsch zu etikettieren und sie damit auszublenden oder zu verharmlosen. Es bedeutet stattdessen, dass es notwendig ist, sich mit verschiedenen Fragen auseinanderzusetzen, darunter beispielsweise: Was wird in der Arbeit mit Familien als anders/ besonders wahrgenommen? An welchen Stellen treten 70 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit Verunsicherungen auf, und welche Trigger führen dazu, dass Unsicherheiten entstehen? Mit welchen Normalitätsvorstellungen begegnen die Fachkräfte den Familien? Welche anderen Erklärungsmuster gibt es für bestimmte Verhaltensweisen, die nicht automatisch „ethno-natio-kulturell“ (Mecheril 2004) begründet sind? Literatur Bischoff, A./ Schuster, S., 2010: Vermitteln Dolmetscherinnen? Dolmetschen Vermittlerinnen? In: Dahinden, J./ Bischoff, A. (Hrsg.): Dolmetschen, Vermitteln, Schlichten - Integration der Diversität? Zürich, S. 176 - 189 Borde, T./ Albrecht, N.-J. (Hrsg.), 2007: Migration - Gesundheit - Kommunikation. Innovative Konzepte zur Interkulturellen Kommunikation. Bedarfsanalyse zur Interkulturellen Kommunikation in Institutionen und für Modelle neuer Arbeitsfelder. Frankfurt am Main/ London Hamburger, F., 2009: Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Plädoyer für einen Wandel sozialpädagogischer Konzepte. Weinheim Jagusch, B./ Sievers, B./ Teupe, U., 2012: Migrationssensibler Kinderschutz. Ein Werkbuch. Regensburg Mecheril, P., 2004: Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim/ Basel Melter, C., 2006: Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe. Eine empirische Studie zu Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit. Münster/ New York/ München/ Berlin Dr. Birgit Jagusch Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ism) Flachsmarktstraße 9 55116 Mainz Tel. (0 61 31) 2 40 41-15 birgit.jagusch@ism-mainz.de