unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2013.art08d
21
2013
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„Da geht es um die Ehre“
21
2013
Ute Schad
Im Zusammenhang mit Fragen der Gewaltprävention und der Gewalt gegen Frauen stoßen wir in der interkulturellen Arbeit immer wieder auf das Konzept der Ehre. Um nicht Vereinfachungen und kulturalistischen Kurzschlüssen wie etwa der Annahme einer ausschließlich „islamischen Geschlechterehre“ aufzusitzen, ist es nötig, sich mit den historischen Spuren und Auswirkungen dieses Konzepts zu beschäftigen
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71 unsere jugend, 65. Jg., S. 71 - 78 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art08d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Da geht es um die Ehre“ Interkulturelle Gewaltprävention im Spannungsfeld von Ehrkonzepten und Menschenwürde Im Zusammenhang mit Fragen der Gewaltprävention und der Gewalt gegen Frauen stoßen wir in der interkulturellen Arbeit immer wieder auf das Konzept der Ehre. Um nicht Vereinfachungen und kulturalistischen Kurzschlüssen wie etwa der Annahme einer ausschließlich „islamischen Geschlechterehre“ aufzusitzen, ist es nötig, sich mit den historischen Spuren und Auswirkungen dieses Konzepts zu beschäftigen. von Dr. rer. pol. Ute Schad Jg. 1961; Sozialwissenschaftlerin, wissenschaftliche Autorin, Lehrbeauftragte an der Hochschule München für Angewandte Sozialwissenschaften Alle Kulturen und Gesellschaften haben Konzepte der Ehre - auch wenn die präzise Bedeutung Unterschiede aufweisen kann. Im Begriff der Ehre lassen sich drei Bedeutungsebenen entdecken: „Das eigene Gefühl einer Person für ihren Selbstwert, die Einschätzung, die diese Person von ihrem Selbstwert in den Augen anderer hat, und die tatsächliche Meinung anderer über diese Person“ (Spierenburg 1998, 2). In dieser Definition kommt der allgemeine Charakter des Phänomens Ehre deutlich zum Ausdruck. Die offensichtlichte Diskreditierung des Ehrbegriffs durch Militarismus, das Inferno von zwei Weltkriegen und den Nationalsozialismus stellte dessen (öffentliche) Verwendung in Deutschland lange Zeit unter ein Tabu. Nichtsdestoweniger ist der Ehrbegriff im öffentlichen Diskurs präsent (vgl. Vogt/ Zingerle 1994). Die (historische) Forschung über Männlichkeiten, aber auch die kritische Kriminologie verweisen auf den Einfluss geschlechtsspezifischer Ehrkonzepte auf das Gewaltverhalten von Männern auch in westlichen Gesellschaften. Männliche Ehre und Gewalt unter Männern in der Vergangenheit Die männliche Ehre, die auch in Verknüpfung mit nationalen, religiösen oder sonstigen gruppenbezogenen Ehrkonzepten zum Ausdruck kommen kann, steht in engem Zusammenhang mit der Ausübung von Gewalt sowohl unter Männern als auch gegenüber Frauen. Bis zur Industrialisierung war die Ehre des Mannes in westlichen Kulturen eng an dessen Bereitschaft zur Gewaltanwendung und der 72 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit damit verbundenen Demonstration von Tapferkeit geknüpft. In den letzten 300 Jahren haben sich die Konzepte von Ehre scheinbar stärker internalisiert bzw. „vergeistigt“. Bis weit in das 17. Jahrhundert galt es in europäischen Ländern als selbstverständlich, dass ein Mann, der beleidigt wurde, bereit war zu kämpfen. Auf diese Weise stellte er sowohl seine individuelle männliche als auch die Familienehre wieder her. Der Kult der männlichen Ehre lebte in Europa bis in die Neuzeit in der Praxis des Duells fort. Die Geschichte des Duells reicht in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg. Lange Zeit galten z. B. wie im preußischen Gesetzbuch Sonderregelungen für „Gewalt aus Ehre“, die nicht als normale Straftaten angesehen wurden. Männer, die sich aus Ehre duellierten, bekamen leichtere Strafen als Männer, die „ordinäre“ Straftaten begingen (vgl. Frevert 1998; Spierenburg 1998, 35). Diese Praxis war durchaus politisch umstritten. Sozialdemokraten, Linksliberale und Katholiken übten massive Kritik an der Praxis des Duells. Aber erst durch die Entlarvung der mörderischen Konsequenzen des Ehrbegriffs im Ersten Weltkrieg und den sozialen und politischen Veränderungen der Nachkriegszeit geriet das Duell ins Wanken. Das Konzept der Ehre ist - so wird hier bereits am deutschen Beispiel deutlich - historisch wandelbar und hängt von gesellschaftlichen, juristischen und politischen Rahmenbedingungen ab. Dies gilt auch für die Wandlung der Ehrbegriffe (Namus und Şeref ) in der Türkei. Soziale Strukturen (Stand, Schicht, Bildung, Einkommen), Lebensumstände (etwa Wohnort), Modernisierungsprozesse, soziokultureller Wandel (Tendenz zur Kleinfamilie, Berufstätigkeit der Frau, Strafbarkeit sexueller Belästigung) und politische Rahmenbedingungen haben Einfluss auf die sich verändernde Bedeutung des Ehrbegriffs (vgl. Özoguz 2000). So ist auch bei jungen Männern der zweiten oder dritten Migrantengeneration von einer Redefinition des Ehrbegriffs im Kontext ihrer aktuellen Lebensbedingungen und gesellschaftlich-politischer Rahmenbedingungen auszugehen. Männliche Ehre und Gewalt gegen Frauen in der Vergangenheit Der männliche Ehrenkodex stimuliert und erlaubt nicht nur Gewalt zwischen Männern. Er schränkt gleichzeitig die Freiheitsspielräume von Frauen ein und rechtfertigt Unterdrückung und Gewaltanwendung im Geschlechterverhältnis. So setzte der männliche Ehrenkodex, der im Duell zum Ausdruck kam, Frauen - insbesondere der oberen Schichten - unter Druck, ihre Sexualität zu kontrollieren und jede Form von Untreue zu vermeiden. Unverheiratete Frauen standen unter dem Zwang, ihre Jungfräulichkeit zu bewahren. Denn taten die Frauen dies nicht, so forderte ihr Verhalten den Vater oder Bruder dazu auf, ihren Verführer im Duell zu stellen. Im Duell rettet der Mann nicht die Ehre seiner Frau, Tochter oder Schwester, sondern seine eigene. Denn die Frau hatte ihre Ehre, die von ihrer Keuschheit abhing, für alle Zeit verloren (vgl. Frevert 1987, 59f ). Konzepte von Ehre und Scham sind Ausdruck einer patriarchalen Ideologie, in der Frauen auf die Rolle von Müttern oder Jungfrauen festgelegt werden. So teilten noch im Mittelalter Männer und Frauen die Auffassung, die Tugenden des Mannes würde den Kindern, vor allem den Söhnen, durch dessen adliges Blut übermittelt. Frauen verfügten nicht über genügend Selbstkontrolle, sie seien zu schwach und leidenschaftlich, um ihre Sexualität zu kontrollieren. So fällt diese Aufgabe dem Mann zu. Augustinus geht von der Unbezwingbarkeit des Sexualtriebs aus. Eva wird zum Inbegriff der Verführerin und des Sündenfalls. Noch im 17. Jahrhundert sind diese Vorstellungen lebendig. Frauen gelten als schwach, ihre Leidenschaft darf nicht geweckt werden, sonst bricht sie zerstörerisch aus: „Aus einem Feuerbrand, den sie im Leib haben, lassen sie hundert lodern“ (zit. nach Rathmayr 2000, 133). Die traditionell patriarchalischen Ehrbegriffe in Westeuropa lassen sich durch eine strikte Trennung der Geschlechterrollen sowie durch die 73 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit enge Verknüpfung der „Frauenehre“ mit der Kontrolle weiblicher Sexualität kennzeichnen. Die Vorstellungen einer Geschlechterehre wurden von prominenten Intellektuellen Europas und der europäischen Aufklärung verteidigt. So gilt Jean-Jacques Rousseaus emanzipatorisches Erziehungsideal nur für den Mann. Die Tugend der Frau zeige sich dagegen in der Anpassung an die überkommene gesellschaftliche Meinung, deren Zweck darin bestehe, die Sexualität der Frau um des Zusammenhalts der Familie willens strenger Kontrolle zu unterwerfen. Denn „der Mann ist nur in gewissen Augenblicken Mann, die Frau ihr ganzes Leben lang Frau…alles erinnert unablässig an ihr Geschlecht“ (Rousseau zit. nach Bielefeldt 2007, 161). Mit der modernen Ideologie der zwei Sphären - einer quasi natürlichen privaten weiblichen und einer männlich öffentlichen - rechtfertigt Wilhelm Friedrich Georg Hegel die patriarchalische Doppelmoral. Er leitet daraus unterschiedliche Maßstäbe für das Verhalten von Männern und Frauen ab. Sexuelle Grenzüberschreitungen von Frauen werden anders bewertet als die von Männern. Auch Immanuel Kant bleibt einem patriarchalischen Ehrenkodex, der zwischen den Geschlechtern scharf unterscheidet, verhaftet.„Derart rigide Konzepte von Geschlechterehre sind in den westeuropäischen Gesellschaften erst im Laufe des 20. Jahrhunderts in mühsamen gesellschaftlichen Lernprozessen, vorangetrieben durch feministische Bewegungen, mehr oder weniger (keineswegs vollständig) überwunden worden“ (Bielefeldt 2007, 163). Die patriarchale Vorstellung einer geschlechtsspezifischen Ehre, die den Mann als Beschützer der Ehre von Frauen sieht, ist keine Vorstellung, die ausschließlich in traditionellen Gesellschaften oder traditionellen Bereichen von sich modernisierenden Gesellschaften anzutreffen ist. In der türkeibezogenen Soziologie wird über die pauschale Gültigkeit von Gesellschaftsanalysen diskutiert, die die geschlechtsspezifische Trennung des Ehrbegriffs betonen: „Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass in der türkeibezogenen Soziologie die Diskussionen darüber anhalten, inwieweit Frauen in traditionellen gesellschaftlichen Bereichen, z. B. in Dorfgemeinschaften, im Besitz ihrer Ehre und im Stande sind, selbst für deren Bewahrung einzutreten. Die wiederholte Lektüre älterer Texte und neuerliche Befassung mit dem Thema führte zu kritischen Einwänden gegen diese Gesellschaftsanalysen (gemeint: dass der Mann für seine Ehre selbst eintreten kann, für die Ehre der Frau der Mann Sorge tragen muss). Ich sehe mich als Kettenglied in dieser Karawane der Kritiker und denke, dass man die normative Seite der Trennung der Ehrbegriffe nach geschlechtspezifischen Identitäten übertrieben hat. Ich glaube, dass in der Realität des gesellschaftlichen Lebens Auffassungen und ein Verhalten abweichend vom Normativen selbst in traditionellen Gesellschaftsbereichen moralisch möglich und zu beobachten ist“ (Yalcin- Heckmann 2000, 145). Das Konzept der Ehre schränkt die Rechte von Frauen - insbesondere in traditionellen und autoritären Gesellschaften - über den Bereich der Sexualität hinaus ein. Dies hat Auswirkungen auf das Recht von Frauen, öffentlichen Raum einzunehmen und sich in der Öffentlichkeit aufzuhalten. Es beschneidet Frauen z. B. in ihrem Recht, über ihren eigenen Körper zu bestimmen oder ihrem Recht auf grundlegende menschliche Aktivitäten wie etwa Arbeit und kreative Tätigkeiten. Alte Ehrenkodizes in neuem Gewand Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese alten Ehrenkodizes und die sie begleitende Kultur der Gewalt auch in westlichen Gesellschaften nicht vollständig verschwunden sind. In den heutigen Gangkulturen etwa zeigen sich Gemeinsamkeiten mit den Kulturen von Gewalt und Ehre vergangener Jahrhunderte (vgl. Meuser 2000; Spierenberg 1998). Elemente der Ehre leben in Konzepten hegemonialer Männlichkeit weiter. In der Praxis (subkultureller) Jugendkulturen steht Ehre für Respekt. Wird dieser Res- 74 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit pekt verweigert, so wird er durch Gewalt erzwungen. Ein gewalttätig erzwungener Respekt gilt als Maskulinitätsbeweis. Gewalt muss gerechtfertigt sein, dann ist sie gut, dann ist sie voll in Ordnung.„Gewalt ist notwendig, um die Ehre zu verteidigen, Respekt herzustellen und um zu beweisen, dass man ein Mann ist“ (Findeisen/ Kersten 1999, 84). Dieser Ehrenkodex verbindet so unterschiedliche Gruppen wie „Türken- Gangs“, „rechte Skinheads“ und Cliquen von Aussiedlerjugendlichen. Der Anspruch auf „hegemoniale Männlichkeit“ spielt im Gewaltgeschehen eine zentrale Rolle: „Der situative Anspruch auf hegemonic masculinity bezieht sich auf das Abstecken von Territorium, auf den Schutz der einheimischen Frauen, auf den Nationalstolz und auf ‚Ehre‘ beziehungsweise ‚Respekt‘ … Obwohl die jungen Männer sich so betont als Vertreter des dominanten Geschlechts darstellen, haben sie praktisch so gut wie nichts von der ‚patriarchalischen Dividende’ (Connell). Sie sind nicht heiratsfähig, sie können kein Pater familias werden. Es gibt kein regelmäßiges Einkommen und ihren Status müssen sie durch äußere Merkmale demonstrieren, weil die ökonomische und sozial/ kulturelle Substanz von Status nicht vorhanden ist. So bleibt ihnen nur das aggressive Einklagen des‚Respekts‘ und der ‚Ehre‘, der ewige Beweis der Risikobereitschaft an der Straßenecke, beim Autofahren, bei der Konfrontation mit Lehrern, Meistern oder mit der Ordnungsmacht und natürlich die hohe Affinität zum Rausch. Dies alles muss öffentlich stattfinden, die peer group und möglichst die ganze Nachbarschaft sollen zuschauen“ (Kersten 2003, 80). Männliche Gewalt lässt sich auch als Protest auf die Erosion traditioneller Geschlechterarrangements - als„Protestmaskulinität“ - deuten. Für die Analyse dieses Phänomens hat sich der von Alfred Adler zur Zeit des Ersten Weltkriegs geprägte Ausdruck„männlicher Protest“ als nützlich erwiesen. Adlers Konzept bezeichnet eine Motivstruktur, die sich aus der frühkindlichen Erfahrung von Machtlosigkeit speist, die wiederum ein übertriebenes Machtstreben zur Folge hat. Auch die von Connell (1999) befragten jungen Männer (aus der Arbeiterklasse) reagieren auf ein Gefühl der Machtlosigkeit. Sie erheben Anspruch auf den Teil der Macht, den sie im Einklang mit allgemeinen Vorstellungen aus ihrer Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht ableiten, und treiben männliche Gepflogenheiten (Schwulenklatschen, wildes Motorradfahren etc.) ins Extrem. Aber der Unterschied ist, dass es sich hierbei nicht um etwas Individuelles handelt, sondern um ein kollektives Verhalten, das mit der Ungleichheit in der Geschlechterordnung verbunden ist. Sehr ähnliche Muster kollektiver Praxis findet man in der amerikanischen Arbeiterklasse, vor allem bei ethnischen Minderheiten und Straßenbanden.„In Interaktion mit diesen Milieus legen sich die heranwachsenden Jungen eine angespannte und groteske Maske zu und erheben einen Machtanspruch, für den ihnen alle Grundlagen fehlen. Sie machen sich viele Gedanken um die äußere Wirkung, versuchen mit aller Kraft, diese Männlichkeitsfassade aufrechtzuerhalten“ (Connell 1999, 134). Die Herstellung oder Wiederherstellung von „Ehre“ spielt bei diesem Verhalten eine große Rolle und führt jedoch gleichzeitig insbesondere benachteiligte Jugendliche in die Falle. Protestmännlichkeit beschneidet die Chance dieser jungen Männer. Michael Meuser führt dies am Beispiel des Dienstleistungssektors aus: „Dieser hat jedoch aus der Sicht junger Männer, für die der Dienstleistungssektor ihre einzige Chance wäre, einen zutiefst widerwärtigen, weil femininen Charakter. Pflegen, putzen, sauber machen, freundlich und aufmerksam sein: Keine Chance für das Muskelspiel des männlichen Körpers, für seine masochistische Beschädigung und letztlich Zerstörung, kein Risiko. Arbeitsmarktbezogene Gender-Normen beschneiden Chancen bei denen, die ohnehin kaum welche haben. Die ‚männliche Ehre’, eine wichtige Ressource beim accomplishment of gender in den randständigen Zonen der Kultur, wirkt bei diesen Jugendlichen in mehrfacher Hinsicht als Falle“ (Meuser 2003, 76). Die von Connell analysierten Lebensgeschichten junger Männer aus benachteiligten sozialen 75 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit Milieus zeigen, dass diese Form der Männlichkeit und der damit verbundene Kult der Ehre keine zwangsläufige und unumkehrbare Entwicklung darstellen. Das Ehrkonzept als Erklärung von Gewalt gegen Frauen in modernen Gesellschaften Auch im Phänomen der Gewalt gegen Frauen lebt der überlieferte Ehrenkodex weiter. Dies gilt für ehrbezogene Morde - sei es in der individualisierten Form als„Verbrechen aus Leidenschaft“ oder als Morde zur Wiederherstellung der „Familienehre“. Das Phänomen der ehrbezogenen Frauenmorde kommt in unterschiedlichsten patriarchalisch strukturierten Gesellschaften und Gemeinschaften vor und ist weder auf mediterrane noch islamische Länder beschränkt (vgl. Antes 2004, 20). In westlichen Gesellschaften hat das Konzept der Ehre einen (begrifflichen) Wandlungsprozess durchlaufen, der den Zusammenhang mit dem System von Ehre und Scham verdeckt. (Männliche) Ehre wird mit Begriffen wie„Verlust des Ansehens“, „das Gesicht verlieren“, „in Verlegenheit bringen“, Angriff auf das Selbstwertgefühl, die Selbstachtung oder Identität umschrieben. Die kritische Kriminologie diskutiert, welche Bedeutung dem Ehrkonzept zur Erklärung der Gewalt gegen Frauen auch in modernen westlichen Gesellschaften zukommt. Dabei wird argumentiert, dass es in neopatriarchalen modernen westlichen Gesellschaften nicht mehr die biologische Familie, der Klan oder Stamm ist, der Verantwortlichkeit für die Kontrolle von Frauen trägt, sondern diese Kontrollfunktion auf den männlichen Beziehungspartner übertragen wird. In westlichen Gesellschaften agiert der einzelne Mann allein als Richter und ausführende Gewalt, indem er auf Gefühle des verletzten Stolzes und auf eine Beschädigung seiner männlichen Identität antwortet. Diese wiederherzustellen sei seine persönliche Angelegenheit und sein individuelles Recht. Er geht dabei bewusst das Risiko ein, dass er mit seinem Verhalten die Normen größerer Gruppen verletzt. Indem er sogar Sanktionen und Feindschaft in Kauf nimmt, bleibt der einzelne Mann sich selbst treu. Dies wird als Zeichen von „Ehre“ aufgefasst. Für Frauen hat diese Individualisierung des Konzepts der Ehre zur Folge, dass sie die unausgesprochenen Ehrenkodes ihres Intimpartners verletzt, die nur er versteht. „That is, a women may be beaten if dinner is late, if she refuses to have sex, if she wears the wrong color, shoes etc. She never knows what will next lead to abuse because the codes of honor are only known to her abuser”(Araji 2000). Menschenwürde und Ehre Menschenwürde unterscheidet sich prinzipiell von (traditionellen) Ehrkonzepten. Würde im Sinn der Menschenwürde kann weder erworben noch veräußert, weder verliehen noch abgesprochen werden. Sie kommt allen Menschen ohne irgendeine Unterscheidung zu. Die Würde des Menschen entspringt nicht einer Würdigkeit, die sich aus Herkunft, Status, Geschlecht, Verdienst, ja selbst aus Leistung welcher Art auch immer ableitet. Sondern sie liegt allein im Menschsein und dem Respekt vor dem Wert des Lebens begründet. Hinsichtlich der Würde sind alle Menschen gleich. Wo man Menschen ihre wesentliche Gleichheit abspricht, wird die Menschenwürde verletzt. Denn wenn sich Würde dadurch auszeichnet, dass sie an sich unverrechenbar ist, dann kann sie nur als „eine und gleiche Würde für jeden Menschen gelten“ (Bielefeldt 2004, 151). Jede Form der Diskriminierung verstößt deshalb gegen die Würde des Menschen. Die Würde kann keinem Menschen abgesprochen werden. „Wenn von einem Verlust der Würde deshalb streng genommen niemals die Rede sein kann, so gibt es leider gleichwohl die Erfahrung, dass sie massiv missachtet und im Grenzfall völlig negiert werden kann - mit der Folge, dass die Opfer möglicherweise sogar das Gefühl und Bewusstsein für ihre eigene Würde verlieren. 76 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit Um dies zu verhindern, bedarf es des menschenrechtlichen Schutzes der Würde“ (ebda.). Menschenrechte als allgemeine Freiheits-, Gleichheits- und Partizipationsrechte ruhen auf dem Fundament der Menschenwürde. Einzelne Menschenrechte - wie z. B. Gewissens- und Religionsfreiheit, Meinungs-, Presse und Informationsfreiheit, Schutz vor Diskriminierung, der Schutz der Privatsphäre, der Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren, Schutzrechte von Flüchtlingen, demokratische Mitwirkungsrechte sowie die verschiedenen wirtschaftlich-sozialen Rechte vom Recht auf Bildung über das Recht auf Arbeit bis zum Recht eines/ einer jeden auf das für ihn/ sie erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit - sollen die Würde aller Menschen schützen. Im Unterschied zur Menschenwürde wird Ehre in herkömmlichen Konzepten von dem Verhalten, dem sozialen Status oder der Zugehörigkeit zu einer hervorgehobenen sozialen Gruppe abhängig gemacht. Menschenrechte, z. B. das gleiche Recht auf Leben, Sicherheit, Freiheit und Schutz vor Diskriminierung lassen sich daraus nicht ableiten. Im Gegenteil: Konzepte von Ehre legitimieren Menschenrechtsverletzungen. Ehre zielt auf Abgrenzung und Ausgrenzung von anderen. Bei der Diffamierung als „Ehrlose“ (z. B. Frauen, Schwule, „Parias“, Deserteure, Andersgläubige und Andersdenkende) handelt es sich um die üble Konsequenz des Ehrbegriffs - um die gewalttätige Seite des„Undings, ja Untiers Ehre“ (Bänzinger 2002, 132f ). Ehre erfüllt sowohl eine ausgrenzende als auch eine sozial integrative Funktion. Ehre verpflichtet. Wer an der Ehre gepackt wird, fühlt sich zu Verhaltensweisen genötigt, zu denen er ansonsten nicht ohne Weiteres greifen würde. So dient Ehre der Verinnerlichung von Gruppennormen. Sie ist partikular und bezeichnet einen „distinguierenden Lebensstil, der bestimmte Gruppen privilegiert, integriert und gegenüber niedriger gestellten Gruppen positiv abhebt“ (Vogt/ Zingerle 1994, 27). Wenn die Ehre des Einzelnen angegriffen wird, so wird auch die Ehre der Gruppe angegriffen. Deshalb kann Ehre auch als Strategie eingesetzt werden: „Wird eine Provokation oder eine Beleidigung als Angriff auf die Ehre aufgefasst, kann dies ➤ erstens das Bestreben widerspiegeln, die eigene Umgebung zu mobilisieren, diese Umgebung im Bewusstsein an die Rechtmäßigkeit der eigenen Auffassungen zu einigen, und/ oder aber ➤ zweitens das Ziel verfolgen, die angreifende Partei mit der Begründung auszugrenzen, sie teile nicht die Werte, die es doch im Grunde zu teilen gelte“ (Yalcin-Heckmann 2000, 153). Intern wirkt Ehre hierarchisch, indem einzelnen Mitgliedern besondere Ehre zuteil wird. So findet sich bereits in der von dem Soziologen Georg Simmel 1893 erstmals veröffentlichten„Einleitung in die Moralwissenschaft“ der Hinweis auf den „etwas offensive(n) Charakter“, den das Bewahren der Ehre trägt. Gleichzeitig bemerkte er ihren „Zustand der Isolation“, der verhindert, sich „mit den Anderen gemein zu machen“ (Simmel zit. nach Bänzinger 2002, 58). Ausgeprägte Ehrenkodizes unter Angehörigen von Migrantengruppen sind so auch ein Zeichen der Isolierung und können als Folgeerscheinung von Marginalisierung und Hinweis auf das Scheitern von Integrationsprozessen gelesen werden. Als allgemeines Recht auf Privatsphäre schützen Menschenrechte vor Angriffen auf die individuelle Ehre. Verleumdungen und Beleidigungen können auf dem Rechtsweg verfolgt werden. Dieser Ehrschutz gilt für alle im Rahmen und unter Beachtung von Menschenrechten (z. B. Recht auf ein faires Verfahren, Meinungs- und Pressefreiheit, Schutz vor Diskriminierung). Ehre kann nicht durch Gewalt und unter Missachtung der Rechte anderer hergestellt werden. Dieses Prinzip steht als „conditio sine qua non“ (nicht wegzudenkende Bedingung) nicht zur Diskussion. Der Gedanke der Menschenrechte beruht auf dem Prinzip der gegenseitigen Aner- 77 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit kennung und des gegenseitigen Respekts vor den Entscheidungen, Werten, Überzeugungen und Lebensformen des anderen/ der anderen. Dies gilt es im Rahmen der Gewaltprävention zu vermitteln. Um das Recht anderer auf Leben, Gleichheit und Freiheit zu respektieren, muss ich mich nicht mit ihrer Lebensweise identifizieren oder sie für mich nachvollziehen können. Im Anspruch wechselseitiger Anerkennung von Freiheits- und Gleichheitsrechten liegt die solidarische Komponente der Menschenrechte. Diese ungeteilt solidarische Komponente fehlt in herkömmlichen Konzepten der Ehre. Bezugspunkt für eine immer auch geschlechtssensible Gewaltprävention, die sich nicht auf Akte physischer Gewalt beschränkt, sondern Formen von alltäglicher Unterdrückung und Diskriminierung als Form symbolischer und struktureller Gewalt miteinbezieht, kann nur die Menschenwürde und die darauf aufbauenden gleichen Menschenrechte für Frauen und Männer sein. Ein persönliches Ehrgefühl und der Schutz der Persönlichkeit steht jedem/ jeder zu. Daraus lässt sich allerdings kein Recht auf die Missachtung der Rechte anderer ableiten. Wird Ehre an eine Kultur der Menschenrechte gebunden, so verliert sie ihren partikularistischen, diskriminierenden und potenziell gewalttätigen Charakter. Der Einsatz für Menschenrechte (von Frauen) ist durchaus ehrenhaft. Dazu bedarf es keiner pädagogischen Aufwertung des Ehrbegriffs, sondern einer Ausrichtung der Gewaltprävention an einer geschlechts- und kultursensiblen Menschenrechtsbildung. Der Ehrbegriff enthält nicht nur historisch „toxische“ Momente. Feridun Zaimoğlu meint dazu: „Ehre konsequent zu Ende gedacht, führt zu Paranoia und - als Mann sage ich - zu typisch männlicher Erstarrung. Also ich kann sehr gut ohne Ehre leben, ich kann aber nicht ohne Haltung leben, ohne Wertschätzung für und durch meine Freunde und ohne Selbstwertgefühl auch nicht. Zweifellos spielt die Ehre im Brunft- und Balzverhalten von Männern innerhalb der Großstadtstämme eine erhebliche Rolle. Aber sie bleibt - das darf man natürlich auch nicht vergessen - neben Aussehen, Outfit und Musikgeschmack nur ein Zitatpartikel: Ich plädiere für mehr Haltung und weniger für diesen etwas verknusten Begriff von Ehre, weil man sich da auf einem Minenfeld bewegt“ (zit. nach Türkei-Programm der Körber-Stiftung 2000, 61). Dr. rer. pol. Ute Schad Anglerstraße 3 80339 München u.schad@mnet-online.de Literatur Antes, P., 2004: Verbrechen im Namen der Ehre - ein religiöses Phänomen? Ehre und Religion. In: Terre des Femmes e.V. (Hrsg.): Tatmotiv Ehre. Tübingen, S. 16 - 22 Araji, K. S., 2000: Crimes of Honor and Shame: Violence against Women in Non-Western and Western Societies. In: The Red Feather Journal of Postmodern Criminology. An International Journal. www.critcrim. org./ redfeather/ journal-pomocrim/ vol-8-shaming/ araji.html, 10. 2. 2012, o. S. Bänzinger, H., 2002: Ehre als Ideal, Idol oder Freipass zu töten. Über praktische, literarische und theoretische Aspekte neuzeitlicher Ehrbegriffe. Rostock Bielefeldt, H., 2004: Die Menschenwürde als Fundament der Menschenrechte. In: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.): Jahrbuch Menschenrechte. Schwerpunkt: Frauenrechte durchsetzen! Frankfurt am Main, S. 134 - 155 Bielefeldt, H., 2007: Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus. Bielefeld Connell, R. W., 1999: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen Findeisen, H-V./ Kersten, J., 1999: Der Kick und die Ehre. Vom Sinn jugendlicher Gewalt. München 78 uj 2 | 2013 Migrationssensible Arbeit Frevert, U., 1998: The Taming of the Noble Ruffian: Male Violence and Duelling in Early Modern and Modern Germany. In: Spierenburg, P. (Hrsg.): Men and Violence. Gender, Honor, and Rituals in Modern Europe and America. Ohio, S. 37 - 63 Kersten, J., 2003: „Gender und Crime“. Die Tragweite kulturübergreifender Ansätze. In: Boatc-, M./ Lamnek, S. (Hrsg.): Geschlecht - Gewalt - Gesellschaft. Opladen, S. 71 - 84 Meuser, M., 2003: Gewalt als Modus von Distinktion und Vergemeinschaftung. Zur ordnungsbildenden Funktion männlicher Gewalt. In: Boatc-, M./ Lamnek, S. (Hrsg.): Geschlecht - Gewalt - Gesellschaft. Opladen, S. 37 - 54 Rathmayr, B., 2000: Über die Schwierigkeit Liebe und Sexualität zu verbinden. In: Bieringer, I./ Buchacher, W./ Forster, E. (Hrsg.): Männlichkeit und Gewalt. Konzepte für die Jungenarbeit. Opladen, S. 130 - 135 Schad, U., 2007: Geschlechtssensible Gewaltprävention in der (interkulturellen) Jugendarbeit als Beitrag zu einer Kultur der Menschenrechte. Bern Spierenburg, P. (Hrsg.), 1998: Men and Violence. Gender, Honor, and Rituals in Early Modern Europe and America. Ohio Türkei-Programm der Körber-Stiftung (Hrsg.), 2000: Ehre und Würde = Şeref ve onur. Deutsch-Türkisches Symposium 1999 (Red.: Aydan Özuguz). Hamburg Vogt, L./ Zingerle, A. (Hrsg.), 1994: Ehre: Archaische Momente in der Moderne. Frankfurt am Main Yalcin-Heckmann, L., 2000: Einige Gedanken zu den drei türkischen Ehrbegriffen „Namus“, „Seref“ und „Onur“. In: Türkei-Programm der Körber-Stiftung (Hrsg.): Ehre und Würde = Şeref ve onur. Deutsch- Türkisches Symposium 1999 (Red.: Aydan Özuguz). Hamburg, S. 143 - 154 2012. 194 Seiten. 1 Abb. 1 Tab. (978-3-497-02275-5) kt Soziale Kompetenz fördern Aufsässigkeit, Bullying, Gewalt: Soziale Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen bereiten LehrerInnen und Eltern zunehmend Kopfzerbrechen. Kann man die Entwicklung sozialer Kompetenz mit Präventionsprogrammen wirksam fördern? Nach welchen Kriterien wählt man ein Programm richtig aus? Was muss man bei der Umsetzung beachten? Das Buch orientiert über aktuelle Präventionsprogramme, von „STEEP“, „Lubo“, „Faustlos“ und „Friedensstifter-Training“ bis hin zur Positiven Peerkultur. Es zeigt auf, was für eine erfolgreiche Umsetzung zu beachten ist, und identifiziert häufige Probleme. a www.reinhardt-verlag.de
