eJournals unsere jugend 65/3

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2013.art12d
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2013
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Erfahrungen und Erleben von Armut aus der Sicht von Kindern

31
2013
Sabine Andresen
Stephanie Meiland
Danijela Milanovic
Judith Blume
Die auf Basis des DFG-Projektes „Prekäre Kindheit – Wie Kinder Armut erfahren“ (2009 – 2012) gewonnenen Ergebnisse geben Einblick in die Sichtweisen, Erfahrungsspektren und sozialen Praktiken von Kindern, die im Alter von 6 bis 12 Jahren unter prekären Lebensumständen aufwachsen
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123 unsere jugend, 65. Jg., S. 123 - 129 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art12d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Sabine Andresen Jg. 1966; Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Goethe-Universität Frankfurt, Schwerpunkte: Kindheitsforschung, Armut, Well-Being Erfahrungen und Erleben von Armut aus der Sicht von Kindern: „Ich würde meiner Familie was schenken und dafür sorgen, dass sie nich so viel in Schwierigkeiten sind.“ Die auf Basis des DFG-Projektes „Prekäre Kindheit - Wie Kinder Armut erfahren“ (2009 - 2012) gewonnenen Ergebnisse geben Einblick in die Sichtweisen, Erfahrungsspektren und sozialen Praktiken von Kindern, die im Alter von 6 bis 12 Jahren unter prekären Lebensumständen aufwachsen. Stephanie Meiland Jg. 1983; M. A. Erziehungswissenschaften, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt/ Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung, Schwerpunkte: Kindheitsforschung, Kinderarmutsforschung, qualitative Forschungsmethoden Danijela Milanovic Jg. 1984; Diplom-Sozialpädagogin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt/ Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung, Schwerpunkte: Familienforschung, Kindheitsforschung, Armutsforschung Judith Blume Jg. 1988; Diplomandin der Erziehungswissenschaft, Studienrichtung Sozialpädagogik an der Goethe- Universität Frankfurt 124 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen Kinder sind dabei nicht nur als ExpertInnen ihrer Lebenswelt angesprochen. Anhand der aus teilnehmenden Beobachtungen, Einzelinterviews und Gruppendiskussionen erzielten Daten kann gleichermaßen ein Beitrag zur Sensibilisierung für die Schwierigkeiten im Alltag von Kindern in Armut sowie für ihre Strategien zum Umgang mit diesen Belastungen geleistet werden. Wir berichten im Folgenden erste Ergebnisse. Armut aus Sicht von Kindern Das Forschungsprojekt orientiert sich am Konsens der deutschen Armutsforschung und damit am Begriff der relativen Armut, der sich über einen ökonomischen Mangel hinausgehend auch als eine Einschränkung von Lebensbedingungen und Lebenschancen versteht (Paugam 2004; World Vision 2007; Deutsches Kinderhilfswerk e.V. 2007). Vor dem Hintergrund, dass in Deutschland etwa 2,5 Millionen Kinder in Einkommensarmut aufwachsen, gilt es, sie nicht nur als eigene, ebenso von Armut betroffene Gruppe wahrzunehmen, sondern zugleich ihre jeweils spezifischen Perspektiven zu erörtern (Chassé/ Zander/ Rasch 2005). Kinderarmut ist in diesem Zusammenhang als ein relatives Maß an sozialer Ungleichheit anzusehen, das die Betroffenen daran hindert, sich ihrer persönlichen Fähigkeiten gemäß zu entfalten und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können (Butterwegge 2009). Deshalb ist es erforderlich, nicht primär einzelne Einflussfaktoren zu untersuchen, sondern insbesondere kindliche Wahrnehmungen der Unsicherheit und Kriterien der Einschränkung zu erheben, um die Erfahrungen prekärer Lebenssituationen aus kindlicher Perspektive rekonstruieren zu können (Chassé/ Zander/ Rasch 2005; Zander 2005 und 2008). Daran anschließend gibt die Analyse der Folgen und Auswirkungen von Armut Aufschluss über das Wohlbefinden, die Ängste, das Erleben von Unsicherheiten in Beziehungen, Räumen und Zeiten im Alltag der Kinder, so wie es bereits im Rahmen der World Vision Kinderstudien (2007, 2010) erfolgte. Da Kinderarmut generell eng mit dem Elternhaus verknüpft ist, es aber aus Sicht der Kindheitsforschung zentral ist, Kinderarmut auch als eigenständiges Phänomen zu betrachten und die besonderen Bedürfnisse und Handlungsziele der Kinder selbst zu untersuchen, zielt unsere zentrale Perspektive auf das Armutserleben von Kindern. Die soziale Lage und Befindlichkeiten von Kindern in Armut sind daher aus ihrer eigenen Perspektive zu beschreiben und zu analysieren. „Dann hätten wir nich so einen schönen Ort” Alle Erhebungen wurden in einer sozialpädagogischen, außerschulischen Einrichtung des Stadtteils Hamburg-Harburg durchgeführt, einem Kinderhaus, das sich selbst primär aus Spenden finanziert. Die Zielgruppe setzt sich aus Kindern zusammen, die sowohl im Viertel wohnen als auch in einer materiell prekären Lebenslage aufwachsen. Die Einrichtung spielt daher nicht nur eine zentrale Rolle, um Freizeitaktivitäten und Freundschaften zu pflegen, sondern ist zugleich Anlaufstelle für die Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse. Für die MitarbeiterInnen des Kinderhauses steht dabei an erster Stelle, dass sie den Kindern helfen, ihren Alltag zu strukturieren und ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen. Zu diesen gehören ein warmes Essen am Tag, ein Dach über dem Kopf oder AnsprechpartnerInnen zu haben. Organisiert ist die Einrichtung, die täglich bis abends geöffnet ist, durch eine hauptamtliche Mitarbeiterin und mehrere ehrenamtliche Kräfte, die jeweils unterschiedlich viel Zeit dort verbringen. Das Kinderhaus wird aus verschiedenen Gründen von den Kindern besucht, unter anderem weil sie nicht nach Hause gehen können oder 125 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen wollen. „… Dann könnten wir nach Hause gehen aber da müssten wir dann … vor der Tür dann stehen ... und warten bis die [Eltern] endlich zu Hause sind.“ Sowohl der fehlende Schlüssel zur Wohnungstür als auch die Abwesenheit der Eltern veranlassen die Kinder dazu, auf andere Aufenthaltsorte auszuweichen. Das Kinderhaus bietet ihnen daher eine wichtige Alternative. Es ist allerdings nicht nur der offene und niedrigschwellige Zugang, der die Einrichtung zu einem Zufluchtsort macht. Auch die verschiedenen Möglichkeiten, Freizeit zu gestalten, mit anderen Kindern zusammen zu sein und Ausflüge zu machen, sind für die Kinder ausschlaggebende Punkte, um tägliche StammbesucherInnen zu sein. „Wo soll man hingehen, es is voll langweilig zu Hause …“. So knüpfen viele der Kinder enge Kontakte zueinander und kommen gern. Teilweise pflegen sie sogar ausschließlich im Kontext der Einrichtung ihre Freundschaftsbeziehungen und besitzen außerhalb nur wenig soziale Kontakte. Es scheint damit umso essenzieller, dass diese Möglichkeit zur Aufrechterhaltung von Freundschaften für die Kinder existiert und sie diese nutzen können. Und das äußern die Kinder gleichermaßen, beispielsweise auf die Frage hin, was ihnen denn am Kinderhaus wichtig sei: „Das Wichtigste is die Freundschaft.“ Mit täglichen Angeboten an Spielen, Ausflügen und Workshops bietet das Kinderhaus außerdem ein breites Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten von freier Zeit. Dabei haben die Kinder die Gelegenheit, in kleinen Gruppen neue Bereiche alltäglicher Praxis kennenzulernen, wie beispielsweise des Kochens oder Bastelns. „Also mir gefällt insbesondere, dass wir hier basteln können, spielen…“ Dem Kinderhaus kommt jedoch nicht ausschließlich die Rolle einer Freizeiteinrichtung zu. Eine der wichtigsten Aufgaben liegt in der Grundversorgung der Kinder mit regelmäßigen Mahlzeiten. So bekommt jedes Kind, das nach der Schule das Kinderhaus aufsucht, ein warmes Mittagessen und bei Bedarf auch ein Abendbrot, bevor es nach Hause geht. Neben der Bereitstellung von Essen und Trinken erhalten die Kinder genauso Hilfe bei ihren Schulaufgaben, wenn sie diese benötigen, da einige Eltern diese Unterstützung aus verschiedenen Gründen nicht immer gewährleisten können. „Ich find das nich gut, wenn zum Beispiel ich Hausaufgaben auf habe, und meine Mama weiß das auch nicht, dann krieg ich auch von meiner Lehrerin Ärger.“ Auch an den Wochenenden und in den Ferien wird eine Versorgung der Kinder gewährleistet. Insofern ist das Kinderhaus eine konstante Institution, die den Kindern Halt gibt und ihren Alltag strukturiert. Insgesamt ist die alltägliche Unterstützung in der Einrichtung für die Kinder eine unentbehrliche Ressource. Für die meisten Kinder ist es fast undenkbar, dass das Kinderhaus nicht mehr existiert. Auf die Frage, was den Kindern fehlen würde, äußern sie sich eindeutig: „AALLES“ - und reagieren mit Trauer: „Ich wär richtig traurig. Das wär richtig blöd gewesen. Dann hätten wir nich so einen schönen Ort.“ Da sich die Einrichtung hauptsächlich aus Spenden finanziert und aus diesem Grund nur wenige Ressourcen für die Bezahlung von MitarbeiterInnen aufgebracht werden können, sind die BetreuerInnen meist ehrenamtlich tätig. Dadurch kann die Verbindlichkeit und Kontinuität der Betreuung gefährdet sein. Auffällig war in den Beobachtungen, dass sich die Kinder vor allem auf die hauptamtliche Betreuerin verlassen und sich an sie wenden. „Und dann reicht auch nicht zwanzig Euro für Klamotten, Nährung und für Miete“ Die Analyse der Daten zeigt deutlich, dass von Armut betroffene Kinder eine genaue Vorstellung darüber haben, was zur Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse notwendig ist und insbesondere, was diese kosten können. Das zeugt 126 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen nicht nur davon, dass die befragten Kinder von den Herausforderungen, die ihre Eltern tagtäglich bewältigen müssen, ähnlich betroffen sind, sondern dass sie diese genauso bewusst wahrnehmen. „Und wenn die ein Baby in der Hand haben, was soll’n die mit zwanzig Euro anfangen? Die brauchen Klamotten, Essen, eine Wohnung zu … mieten da würde ich mehr Geld geben, nicht zwanzig Euro jede Woche - ich würde das jeden Tag spenden.“ Nicht zuletzt entwickeln Kinder aus diesem Bewusstsein über Ressourcenknappheit konkrete Bewältigungsstrategien, die sich ebenfalls im Rahmen unserer Studie rekonstruieren lassen. Nach Richter (2010, 143) sind diese Strategien „… so vielfältig wie das menschliche Verhaltensrepertoire“. So zeigen einige Kinder einen konstruktiven Umgang mit den Begleitumständen ihrer familiären Situation und lösen diese für sich selbstwirksam und kompetent, wenn sie über ausreichend soziale und personale Ressourcen verfügen. Wieder andere problematisieren den Umstand des Geldmangels und diskutieren im Kollektiv mögliche Handlungsalternativen zur Lösung des ökonomischen Problem „…[dass] die Läden also die Sachen dann billiger machen für die Armen, die nich so viel Geld haben … zum Beispiel jetzt [für] die Frauen oder die Männer, die Hartz IV haben“. Auch distanzierende Verhaltensweisen und darüber hinausgehend die Abwertung anderer Kinder, mit denen sonst täglich gemeinsam gespielt und gegessen wird, können beschrieben werden (vgl. auch Richter 2010, 143). Manche Kinder wollen keinesfalls mit ihrer prekären Lebenswelt in Verbindung gebracht werden und grenzen sich daher auf allen denkbaren Wegen von der Problematik ab. Auch das in der Gruppendiskussion beobachtete Bloßstellen der anderen als arm scheint aus dem Bedürfnis zu resultieren, die eigene Betroffenheit von Armut zurückzuweisen. Zugleich wird den Forscherinnen gegenüber zuweilen betont, man sei nicht arm. Als in einer Gruppendiskussion gefragt wird, was mit den Kindern passieren würde, wenn es die Einrichtung nicht mehr gäbe, reagiert eines der Kinder mit Abwehr: „Ja was? … nach Hause gehen, denkst du die Kinder sind hier arm? “ In den Einzelinterviews wurde aber auch deutlich, dass einige Kinder sich mit ihren prekären Lebensumständen arrangieren, indem sie die stetig wiederkehrenden Herausforderungen, die mit der eigenen Lebenswelt in Verbindung stehen, nach pragmatischen Gesichtspunkten abwägen oder ganz und gar ihre Ansprüche senken. „Also wenn Arme keine Klamotten haben und die so wenig Geld bekommen, wo sollen die denn dann hin kaufen gehen? Sie können doch nich irgendwo in teuren Laden gehen wo das Geld nicht reicht. Sie können doch bei KiK gehen. Was is daran so schlimm. Ich versteh das auch nicht.“ Familienkonstellationen, in denen die Kinder leben In welchen Familienkonstellationen leben die befragten Kinder und welche Bedingungen für ihre Entwicklung in ihren Familien sind vorzufinden? In den vorliegenden Ergebnissen zeigen sich uns vor allem drei Familientypen, in denen die Kinder aufwachsen. Von der „Erschöpften Familie“, der „Working-Poor-Familie“ bis hin zur „Flüchtlingsfamilie“ wird prekäres Familien(er) leben sichtbar. Wenn die Familie aus verschiedenen Gründen nicht zur Verfügung steht, erklären diese Lebenskontexte, welche Notwendigkeit für ein Kinderhaus als Bezugsort existiert, um trotzdem unter Aufsicht von Erwachsenen Hausaufgaben zu machen, zu essen und mit Freunden zu spielen. Die folgende Darstellung ist zunächst heuristisch zu verstehen, verbunden mit der Frage, wie sich familiäre Lebenswelten aus der Sicht der Kinder beschreiben lassen. Die „Erschöpfte Familie“ ist auf mehreren Ebenen von prekären Faktoren und familiärer Erschöpfung betroffen. So beschreibt u. a. Lutz (2012), dass Kinder in solchen Konstellationen oft Einschränkungen bei materiellen Gütern 127 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen erfahren, Verzicht üben müssen (wie zum Beispiel bei der Ernährung, Kleidung, Urlaub, Taschengeld, Hobbys oder Geburtstagsfeiern) und darüber hinaus in beengten Wohnverhältnissen leben, die ihnen wiederum wenig Raum zur Erholung und individuellen Entfaltung bieten. Damit werden Beziehungskonflikte, insbesondere Streit unter Geschwistern, begünstigt (Chassé 2008), die wegen des mangelnden Rückzugsraums und der fast ausschließlich gemeinsam verbrachten Schul- und Freizeitaktivitäten entstehen. Die Erschöpfung der familialen Ressourcen zeigt sich des Weiteren auch in Form einer Parentizifierung der Kinder. So übernehmen die älteren Geschwister häufig die Fürsorgepflicht und Verantwortung für die Jüngeren, wie Lutz dies als ein mögliches Merkmal erschöpfter Familien konstatiert: „Manche müssen sich zudem um ihre Geschwister kümmern, vor allem Mädchen, da die Eltern kaum Zeit haben oder mit ihren eigenen Dingen beschäftigt sind“ (Lutz 2012, S. 31). Der folgende Protokollausschnitt ist während eines Elterncafés im Kinderhaus entstanden und offenbart, dass mit der Rollenverschiebung innerhalb des Familiensystems ein Mangel an elterlicher Aufmerksamkeit und eine Überforderung der Kinder in der Erfüllung der jeweiligen Rollenerwartung einhergehen. „Die Frau neben mir, die Mutter von Natascha, Nina, dem 5-jährigen und dem kleinen 2-jährigen Mädchen, hat zunächst das 2-Jährige auf dem Schoß, das Kind fängt an zu weinen und zu quengeln und will auf den Boden, um zu Natascha zu kommen. Die Mutter bittet Natascha, die Kleine zu nehmen. Natascha kommt dem nach, aber auch sie kann es der Schwester nicht recht machen und ihr Gesichtsausdruck wirkt etwas gequält und angestrengt … Das kleine Kind kommt wieder zurück zur Mutter, diese beugt sich unter den Tisch, um sie auf den Schoß zu heben, aber das Kind weint, ruft ,Natascha‘ und die Mutter sagt, ohne jemanden direkt anzusprechen, ,immer will sie zu Natascha‘, dann ruft sie ihre Tochter in einem - so kommt es mir vor - bittenden Ton, ,kannst du sie nicht nehmen? Sie will unbedingt zu dir.‘ Natascha kommt der Aufforderung immer nach, ihre Schultern sind hochgezogen, eigentlich kann sie das Kind gar nicht tragen, sie geht mit der kleinen Schwester auch zum Tischfußball, dort fällt das Kind um und schreit, Natascha dreht sich zur Mutter um und bewegt die Lippen, als wolle sie etwas sagen.“ Auch wenn die Kinder in ihre Familien eingebettet sind und intensive Beziehungen zu ihren Familienmitgliedern pflegen, finden ihre Freizeitaktivitäten nur selten im familiären Rahmen statt. Die „Flüchtlingsfamilie“ versucht, nach meist traumatisierenden Fluchterlebnissen mit Gewalt, Krieg, Verfolgung und Verlust von geliebten Menschen, in Deutschland ein sicheres Leben aufzubauen. Bei den betroffenen Kindern zeigt sich trotz des Umzugs eine große Sorge um die Sicherheit und das Leben ihrer Familienmitglieder. Zudem zeigen sie ein immenses Verantwortungsgefühl für das Wohlergehen der eigenen Familie. Die tiefe Verbundenheit innerhalb der Familiengemeinschaft zeugt von der Bedeutung der Familie als Konstante für die „Flüchtlingskinder“. Boss-Nünning (2010) stellt diese Formen von Familialismus und Einbindung in ethnische Communities ebenfalls als protektive Faktoren dar, die jedoch langfristig nicht über die vielfältigen Benachteiligungen von Flüchtlingsfamilien in Bereichen des Wohnens, der Bildung und erlebter Ausgrenzung hinwegtäuschen können (Butterwegge 2010). Eines der interviewten Kinder berichtet von einem sozialen Abstieg, der sich mit dem Umzug nach Deutschland einstellte. „… Wir hatten früher so ein großes sehr großes Haus. Größer als das [Kinder]haus und … größer als ein Schloss.“ Der Verlust eines vielleicht auch einst als sicher empfundenen Zuhauses lässt dieses in der Erinnerung sogar zu einer prächtigen Behausung 128 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen werden. Der Junge hält sich sehr lange bei diesen Erzählungen auf und zeigt dazu die Fotos, die er von der Wohnung in Deutschland gemacht hat. Sein neuer (deutscher) Alltag unterscheidet sich deutlich von den gewohnten Strukturen. Nicht nur die Alternativen und Partizipationsmöglichkeiten der eigenen Freizeitaktivitäten sind eingeschränkter, sondern auch die Versorgung der kindlichen Grundbedürfnisse kann von der Mutter nur begrenzt gewährleistet werden. So berichtet der 9-Jährige, dass er seit seiner Ankunft in Deutschland zugenommen hat, weil „meine Mutter konnte nicht mehr gesund kochen“. Hinzu kommt ebenfalls, dass er mit dem Essen seine emotionale Unruhe kompensiert. „Also zum Beispiel wenn ich so dolle Nerven habe, dann ess ich richtig viel. Damit ich das dann vergessen hab.“ Eine Stabilisierung der Kinder und eine Bewältigung der psychischen Belastungen sind zusätzlich erschwert, weil sie, wie in dem Fall des 9-jährigen Jungen, oft lediglich einen befristeten Aufenthaltsstatus besitzen und die Gefahr der Abschiebung besteht. Laut Boos-Nünning (2010) bergen diese prekäre Lebenslage der materiell-strukturellen Ausgrenzung, also Ausschluss von ergänzenden Sozialleistungen (z. B. Kindergeld) durch das Asylbewerberleistungsgesetz, und die Lebensumstände der Migrationssituation erhebliche perspektivische Unsicherheiten. Für die betroffenen Kinder stellt es oft eine Herausforderung dar, neue Freundschaften zu knüpfen, Vertrauen aufzubauen und wieder ein Sicherheitsgefühl zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund ist der Zugang zu stabilen Einrichtungen, in denen Erwachsene tätig sind und sich um die Kinder kümmern, existenziell. Die befragten Kinder, die in einer „Working- Poor-Familie“ aufwachsen, haben Eltern, die beide ganztags berufstätig sind und ebenfalls am Wochenende mit überlangen und unregelmäßigen Arbeitszeiten arbeiten. Sich ihrer Erziehungs- und Fürsorgepflicht zu widmen, ist diesen Eltern und Elternteilen häufig erschwert. Durch ihre Vollzeitbeschäftigung, für die sie lange Wege zurücklegen, haben sie nicht nur einen extremen Mangel an Zeit, sondern auch ihre finanziellen Ressourcen bleiben aufgrund geringer Verdienste stark begrenzt. Dieser Umstand tangiert erheblich die Alltagserfahrungen der Kinder, die die Herausforderungen ihrer Eltern bewusst wahrnehmen und wie folgt konstatieren: „Wenn zum Beispiel die Eltern jetzt… arbeiten, ne, und sie müssen zum Beispiel noch ein bisschen bezahlen … zwanzig Euro - das reicht immer nicht.“ Obwohl die häusliche Atmosphäre als gemütlich erlebt wird und die Familiengemeinschaft überwiegend intakt ist, fehlen aufgrund von mangelndem Geld und mangelnder Zeit gemeinsame Beschäftigungsmöglichkeiten und Freizeitalternativen. Dies wird von den Kindern sowohl in den Gruppendiskussionen als auch in den Einzelinterviews berichtet. Da den betroffenen Familien ein verlässliches soziales Netzwerk häufig nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung steht, kann die Betreuung der Kinder bei entsprechendem Bedarf nur unzureichend durch Verwandte oder Freunde aufgefangen werden. Aufgrund der beschriebenen Lebensumstände kommt es daher auch in diesem Familienkontext vermehrt zur Verschiebung der traditionellen Eltern-Kind-Rolle, bei der die älteren Kinder nicht nur die Elternrolle für ihre jüngeren Geschwister übernehmen, sondern sich auch verantwortlich für das emotionale Wohlbefinden der Eltern fühlen und „[ihrer] Familie was schenken und dafür sorgen [würden], dass sie nicht so viel in Schwierigkeiten sind“. Es zeigt sich, dass besonders von Erwerbsarmut betroffene Eltern somit vor der Herausforderung stehen, Erziehungs- und Schutzfunktion für ihre Kinder mit den Anstrengungen von geringem Einkommen und unregelmäßigen Arbeitszeiten zum Wohl ihrer Kinder zu vereinen, um ihnen ein sorgloses und sicheres Aufwachsen zu ermöglichen. Umso bedeutender erscheint das Unterstützungsnetz, welches die Kinder in einer Einrichtung erfahren. In diesem„Schutzraum“ können sie nicht nur ihre altersgerechte Kinderrolle leben, Beziehungen aufbauen und pflegen, son- 129 uj 3 | 2013 Armut bei Kindern und Jugendlichen dern sie erhalten auch Freizeitalternativen und kulturelle Impulse, welche von ihren Eltern nicht leistbar sind. Insbesondere vor dem Hintergrund steigender Zeit-, Organisations- und Erziehungsanforderungen, die gerade die von Erwerbsarmut betroffenen Familien nur schwer bewerkstelligen können, sind solche Einrichtungen unabdingbar. Der 12. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2005) postuliert diesen Zusammenhang, in dem er die Rolle einer ausreichenden und qualitativen institutionellen Bildung und Betreuung sowie Fragen des Zugangs zu bildungsrelevanten außerinstitutionellen Förderangeboten und Angeboten erzieherischer Familienunterstützung fokussiert. Die vorliegenden Befunde zeigen auf, dass keine generalisierenden Aussagen darüber möglich sind, wie und in welchem Umfang Kinder Armut erleben und diese als Belastung erfahren, weil sowohl ihre persönlichen Familienbiografien als auch damit zusammenhängende Risikokonstellationen sehr unterschiedlich und komplex ausfallen können. Die Kinder entwickeln zudem verschiedene Sichtweisen und insbesondere Kompetenzen, die sie diese alltäglichen Themen und Schwierigkeiten meistern lassen. Das macht es wiederum umso bedeutsamer, sensibel für die individuellen Lebensumstände der Kinder zu sein und sie als ExpertInnen ihrer sozialen Lebenswelt anzusprechen. Prof. Dr. Sabine Andresen Stephanie Meiland Danijela Milanovic Judith Blume Goethe-Universität Frankfurt Fachbereich Erziehungswissenschaften, Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung Robert-Mayer-Straße 1 60054 Frankfurt am Main S.Andresen@em.uni-frankfurt.de Meiland@em.uni-frankfurt.de Milanovic@em.uni-frankfurt.de Literatur Boos-Nünning, U., 2 2010: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund: Armut und soziale Deprivation. In: Zander, M. (Hrsg.): Kinderarmut. Einführendes Handbuch für Forschung und soziale Praxis. Wiesbaden Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, 2005: 12. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin Butterwegge, C., 2010: Armut von Kindern mit Migrationshintergrund. Ausmaß, Erscheinungsformen und Ursachen. Wiesbaden Chassé, K.-A., 2008: Arme Kinder - Prekarisierung und Verarmung bei Kindern. In: Durchblick: „Schwarzbuch“ Soziale Arbeit. S. 34 - 37 Chassé, K.-A./ Zander, M./ Rasch, K., 4 2005: Meine Familie ist arm. Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen. Wiesbaden Lutz, R., 2012: Erschöpfte Familien. Wiesbaden Richter, A., 2010: „Meine Mutter hat ja kein Geld …“ - Soziale Ungleichheit und Armut in der Wahrnehmung von Kindern. In: Wagner, P. (Hrsg.): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance - Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. S. 137 - 147 World Vision, 2007: Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision Kinderstudie. Frankfurt am Main World Vision, 2010: Kinder in Deutschland 2010. 2. World Vision Kinderstudie. Frankfurt am Main Zander, M., 2005: Kinderarmut: Ein einführendes Handbuch für Forschung und soziale Praxis. Wiesbaden Zander, M., 2008: Armes Kind - starkes Kind? Die Chance der Resilienz. Wiesbaden