eJournals unsere jugend 65/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2013.art23d
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2013
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Begabungsförderung im Rahmen inklusiver Bildung und Erziehung an der Schule

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2013
Sabine Behn
Aline-Sophia Hirseland
In der Schule sollte jedes Kind entsprechend seinen Begabungen und Lernmöglichkeiten gefordert und gefördert werden. Besonderer Förderung durch differenzierte Lernangebote bedürfen demzufolge nicht nur Kinder mit Lernschwierigkeiten, sondern auch Kinder mit speziellen Begabungen. Ein besonderes Augenmerk gilt Schulen in benachteiligten Quartieren, da diese Begabungen dort mitunter drohen unterzugehen. Hier setzt das Projekt "Begabungsförderung im Rahmen inklusiver Bildung und Erziehung" an.
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251 unsere jugend, 65. Jg., S. 251 - 259 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art23d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Sabine Behn Jg. 1960; M. A., Geschäftsführerin von Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH Begabungsförderung im Rahmen inklusiver Bildung und Erziehung an der Schule Ergebnisse einer Projektevaluation In der Schule sollte jedes Kind entsprechend seinen Begabungen und Lernmöglichkeiten gefordert und gefördert werden. Besonderer Förderung durch differenzierte Lernangebote bedürfen demzufolge nicht nur Kinder mit Lernschwierigkeiten, sondern auch Kinder mit speziellen Begabungen. Ein besonderes Augenmerk gilt Schulen in benachteiligten Quartieren, da diese Begabungen dort mitunter drohen unterzugehen. Hier setzt das Projekt „Begabungsförderung im Rahmen inklusiver Bildung und Erziehung“ an. Das Projekt „Begabungsförderung im Rahmen inklusiver Bildung und Erziehung“ mit dem inhaltlichen Schwerpunkt der Förderung begabter Kinder aus benachteiligten Milieus wurde an zwei Grundschulen im Berliner Bezirk Neukölln vom Träger Whizzart e. V. durchgeführt. Das Projekt, an dem ca. 65 Kinder teilnahmen, lief von September 2011 bis Juni 2012. Es wurde vom Quartiersmanagement Schillerpromenade im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ gefördert. 1 Einführung Der Bezirk Berlin-Neukölln ist von vielfältigen sozialen Problemlagen betroffen. So stammen die SchülerInnen zum Teil aus sogenannten bildungsfernen Familien mit geringen finanziellen Ressourcen und/ oder haben häufig einen (familiären) Migrationshintergrund. Oft sind sie in besonderem Maße von sprachlichen Defiziten, niedrigem Selbstbewusstsein und mangelnder Anerkennung betroffen. Das Projekt basiert auf der Annahme, dass SchülerInnen mit den genannten sozialen Hintergründen ihre kognitiven und sozio-emotionalen Potenziale nicht in vollem Maße ausschöpfen kön- Aline-Sophia Hirseland Jg. 1981, M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH 1 Die folgenden Ausführungen haben als Grundlage den Abschlussbericht der Evaluation, vgl. Hirseland 2012. 252 uj 6 | 2013 Begabungsförderung an der Schule nen, was sich in ihrer Schulausbildung niederschlägt. Hinzu kommt, dass wenn Sprache als logisches System verstanden wird, die mangelnden sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten in der Folge das Ausbilden logischer Fähigkeiten auch in anderen Bereichen (etwa Mathematik) verhindern. Wie aus verschiedenen Studien ebenso wie aus der Alltagspraxis von LehrerInnen, SozialarbeiterInnen und anderen Fachkräften hervorgeht, kann im Rahmen des klassischen Schulunterrichts auf Kinder aus benachteiligten Milieus in vielen Fällen nicht ausreichend eingegangen werden. Die in den letzten Jahren breit diskutierten Erkenntnisse über die Bedeutung kindlicher Bildungs- und Lernprozesse sowie die Ergebnisse bisheriger Studien, allen voran die PISA-Erhebungen (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001), zeigen, dass in keinem westlichen Land der Bildungserfolg eines Kindes so sehr vom sozialen Status des Elternhauses abhängt wie in Deutschland. Auch der Bildungsbericht bestätigt erneut die Einschätzung, dass es einen engen Zusammenhang zwischen sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen von Familien und dem Bildungserfolg der Kinder gibt (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006). Das Konzept von Whizzart e. V. geht davon aus, dass Hochbegabung unabhängig von der sozialen Schicht ist und bei Kindern/ Jugendlichen aus allen Schichten vorkommt. Vor diesem Hintergrund hat Whizzart e. V. ein Begabungsförderungsprogramm entwickelt, das sich gezielt an Kinder aus bildungsbenachteiligten Verhältnissen richtet. Begabungsförderung wird hier nicht als Vermitteln weiteren Fachwissens verstanden, sondern als Aufbau von Kompetenzen, als Förderung der Lernbereitschaft und Lernfähigkeit durch Training in Schlüsselkompetenzen: Denkkompetenz, Kreativität, Entscheidungskompetenz und sozio-emotionaler Kompetenz. Das Projekt hat sich in diesem Sinne zum einen das Schaffen kompensatorischen Wissens sowie zum anderen die Förderung von mit Intelligenz verbundenen Kompetenzen (Denk- und Entscheidungskompetenzen) zu seinen Aufgaben gemacht. Theoretischer Rahmen Unter dem Begriff „Begabung“ wurde in der Forschung im 20. und 21. Jahrhundert „eine besondere Befähigung“ verstanden, „die sich durch eine Vernetzung innerer und äußerer Bedingungen entfalten [kann] und günstigerweise zu außergewöhnlichen Leistungen führt. Dabei gilt es zwischenzeitlich als anerkannt, dass Begabungen aus einem wirkungsvollen Zusammenspiel von ererbten Anlagen und fördernden Umweltbedingungen im Kontext günstiger Motive und Einstellungen entstehen“ (Hahn u. a. 2007, 3). Eine einzelne Ursache - Anlage bzw. Umwelt - ist hier nicht eindeutig auszumachen, vielmehr ist die Wechselwirkung dieser Faktoren entscheidend für die Entfaltung von Begabung. In jüngerer Zeit hat sich im Zusammenhang mit einer größeren Heterogenität bei den Lernständen und Lernentwicklungen von Kindern gleicher Altersgruppen ein weiteres Verständnis von Begabung entwickelt. Dieses ist stärker auf das individuelle Begabungspotenzial fokussiert als auf die vergleichende Bewertung von Leistungen. Es geht davon aus, „dass jedes Kind auf seine Weise begabt ist. Die Stärken, die jedes Kind in sich trägt, sind Gegenstand von Diagnose und Förderung“ (Hahn u. a. 2007, 4). Eine seit 1987 laufende Längsschnittstudie, das von Detlef Rost geleitete „Marburger Hochbegabtenprojekt“, vergleicht die Entwicklung von 151 hochbegabten und 136 durchschnittlich begabten SchülerInnen miteinander, wobei insbesondere nicht-kognitive Variablen wie Persönlichkeit oder Sozialverhalten beobachtet werden. Die Ergebnisse des Projekts räumen mit einigen gängigen Vorurteilen über (Hoch-) 253 uj 6 | 2013 Begabungsförderung an der Schule Begabung auf. So verläuft die emotionale Entwicklung von Hochbegabten im Allgemeinen nicht anders als diejenige ihrer AltersgenossInnen. Sie erbringen meist hervorragende schulische Leistungen und weisen nicht häufiger als andere Kinder psychische oder soziale Defizite auf. Schwierigkeiten, denen sie sich oftmals ausgesetzt sehen, sind jedoch eine Diskrepanz zwischen intellektueller und emotionaler bzw. körperlicher Entwicklung, unzutreffende Vorstellungen von Hochbegabten - die Erwartung von Perfektion in allen Bereichen oder eines höheren Risikos für emotionale oder sonstige Störungen -, Unterforderung, die Nichtakzeptanz unkonventioneller Problemlösungen durch ihr Umfeld, vereinzelt Probleme im Umgang mit intellektuell weniger begabten AltersgenossInnen, Entscheidungsschwierigkeiten, was die ihnen offen stehenden Möglichkeiten anbelangt, sowie insbesondere für Mädchen geschlechterspezifische Rollenerwartungen. Allein die Begabung eines Kindes führt nicht automatisch zu hohen Leistungen oder schulischem Erfolg. Auch begabte Kinder können auf bestimmten Gebieten wie Lesen, Schreiben oder Rechnen Schwächen aufweisen - Teilleistungsschwächen genannt -, die von ihren Begabungen in anderen Bereichen ablenken. In der Folge bleiben diese unerkannt. Zudem können ungünstige Umweltbedingungen dazu führen, dass begabte Kinder weit unter ihrem Potenzial bleiben und zu „Underachievern“ (Minderleistern) werden. Diese Bedingungen können etwa die Repression „eigenwilliger“ SchülerInnen durch LehrerInnen aufgrund des Nichterkennens der Begabung, konträre Werte und Einstellungen im familiären Umfeld oder die Diskriminierung durch Gleichaltrige aufgrund der Begabung oder anderer auffälliger Merkmale (Geschlecht, ethnische Herkunft, körperliche Behinderungen) sein. Sie können ein negatives Selbstbild dieser hochbegabten Kinder, negative Einstellungen gegenüber der Schule und ein hohes Risiko für verschiedene Probleme zur Folge haben. Zwischen 15 bis 25 % der hochbegabten Kinder sind Underachiever oder haben eine Teilleistungsschwäche. Damit Begabung sich entfalten kann, sollte sie möglichst frühzeitig - im Vorschul- und Grundschulalter - erkannt und gefördert werden (vgl. BMBF 2009, 18ff ). Die Maßnahmen, mit denen hochbegabte SchülerInnen gefördert werden können, lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen: Akzeleration (beschleunigtes Lernen) und Enrichment (vertieftes Lernen) bzw. eine Kombination aus beiden. Die AutorInnen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung herausgegebenen Ratgebers„Begabte Kinder finden und fördern“ erheben darin die Forderung: „Eine ähnliche pädagogische Herausforderung stellt die Förderung von Kindern mit herausragender Intelligenz oder außergewöhnlich hoher Begabung dar. […] Stellt sich die Schule dieser Aufgabe, dann erfüllt sie nicht nur den grundgesetzlichen Anspruch dieser Kinder auf Entfaltung ihrer individuellen Persönlichkeit, sondern sorgt gleichzeitig für die Chancengleichheit von besonders begabten Kindern aus Familien, die ihre Söhne und Töchter nicht selbst fördern können. […] Nicht zuletzt fördert die Schule besondere Begabungen auch im Interesse der Zukunft der gesamten Gesellschaft“ (BMBF 2009, 58). Dieser Anspruch bleibt jedoch zuweilen hinter der Realität zurück. Auffällig ist eine gemessen an der Gesamtheit der SchülerInnen relativ hohe Anzahl von Kindern und Jugendlichen nicht-deutscher Herkunftssprache an Schulen mit niedrigerem Bildungsniveau. Sprachprobleme sind eine wichtige Barriere, dem Unterricht in vollem Maße folgen bzw. sich einbringen zu können. Die Begabung von Angehörigen ethnischer Minderheiten und SchülerInnen mit Migrationshintergrund wird nicht immer erkannt und optimal gefördert, da Sprachprobleme im Weg stehen. Gleichzeitig werden Hochbegabte mit weiteren auffälligen Merkmalen neben der Begabung, wie körperlichen Erkrankungen oder eben Migrationshintergrund, seltener erkannt, da die Begabung in der Wahrnehmung der Außenstehenden häufig hinter den anderen Merkmalen zurücktritt. 254 uj 6 | 2013 Begabungsförderung an der Schule Aus Untersuchungen wie den Studien im Rahmen von PISA (Programme for International Student Assessment) 2000 und 2003 und IGLU (Internationale Grundschul-Leseuntersuchungen) 2001 und 2006 geht hervor, dass das deutsche Bildungssystem im internationalen Vergleich wenig integrationsfähig ist. In Deutschland besteht eine enge Bindung zwischen Kompetenzniveau und sozialer Herkunft. Zudem ist das deutsche Schulsystem besonders selektiv, was sich etwa in einer restriktiven Versetzungspraxis oder dem Schicken von SchülerInnen mit Lernschwächen auf Sonderschulen widerspiegelt. Das Risiko von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund, auf einer Förderschule zu landen, ist doppelt so hoch wie bei anderen Kindern. Auch wirkt sich die Selektion bzw. Trennung nach Schulformen negativ auf das Lernverhalten am unteren Ende der Hierarchie aus. Festzustellen ist, dass sich die Schere zwischen unterschiedlichen Kompetenzniveaus im Verlauf der Schulzeit zunehmend öffnet. Als Ursache für diesen Effekt wird genannt, dass Lehrererwartungen in Zusammenhang mit Schülerleistungen stehen. Gleichzeitig sind Haupt- und Sonderschulen gesellschaftlich derartig abgewertet, dass das negative Image Resignation bei den SchülerInnen begünstigt. Die Mehrsprachigkeit von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird statt als Potenzial oder Leistung häufig eher als Problem definiert (vgl. Auernheimer 2009, 7ff ). Eine gezielte Förderung sozial benachteiligter Kinder, insbesondere von SchülerInnen mit Migrationshintergrund, stellt einen Beitrag zu einer stärkeren Integration in einer diversifizierten Gesellschaft über die Erschließung bisher unerschlossener Potenziale dar. Insofern erscheint eine gesonderte Förderung dieser SchülerInnen sinnvoll. Das Projekt: Konzept und Umsetzung Ziele des Projektes Als übergeordnetes Ziel des Projekts „Begabungsförderung im Rahmen inklusiver Bildung und Erziehung“ stand zum einen„Excellence and Equality“, d. h. das Schaffen einer „Chancengleichheit in der Bildung für Kinder aus allen Schichten plus auch die Möglichkeit zu schaffen, dass Kinder, die begabt sind, auch exzellente Leistungen erbringen. […] Jedes Kind soll die Chance besitzen, unabhängig vom Elternhaus die persönlich möglichst beste Bildung zu erhalten und für sein Leben nutzbar zu machen“. 2 Ein weiteres Ziel bestand in „Integration durch Bildung“, d. h. in der Integration benachteiligter, aber begabter Kinder, speziell auch mit Migrationshintergrund, in eine diversifizierte Gesellschaft: „Wie wichtig wäre es für die deutsche Gesellschaft als diversifizierte Gesellschaft, eine Gesellschaft, die […] nicht nur von weißen Protestanten geleitet wird, sondern die ein Spektrum von vielen Leuten aus unterschiedlichen kulturellen, religiösen […] Hintergründen beinhaltet, dass diese Leute […] eine Stimme in dieser Gesellschaft bekommen. Das sehe ich als Chancengleichheit. Exzellenz bedeutet auch, dass die Leute wirklich unabhängig von ihren Hintergründen sind.“ Das dritte Ziel war, einen Wandel weg vom Defizitblick der LehrerInnen hin zu den Potenzialen der SchülerInnen zu bewirken, um diese gezielter fördern zu können. Konzept Das Konzept und die praktische Arbeit stützten sich auf drei Säulen: die Förderung von begabten Kindern in speziell entwickelten Kompetenztrainingsprogrammen, Elternberatung und die Zusammenarbeit mit den LehrerInnen. Im Zentrum stand die Arbeit mit den SchülerInnen. Die Trainings der Begabtenförderung wurden 2 Alle Zitate stammen aus Interviews mit Projektbeteiligten, die im Rahmen der Evaluation geführt wurden. 255 uj 6 | 2013 Begabungsförderung an der Schule mit GrundschülerInnen von der dritten bis zur sechsten Klasse durchgeführt. Dabei lag der Schwerpunkt auf der Förderung von Lese- und Schreibkompetenzen in den Sprachen Deutsch und Englisch. Für die Viertbis SechstklässlerInnen gab es als weiteres Angebot ein Entscheidungskompetenztraining, in dessen Rahmen logisches Denken etwa in der Mathematik trainiert wurde. Die LehrerInnen waren aufgefordert, unter ihren SchülerInnen diejenigen auszuwählen, die sie als besonders begabt einschätzten. Diese nahmen dann an den Trainings teil, die als zusätzliches Angebot zum Schulunterricht über ein Schuljahr hinweg stattfanden. In die Trainingsgruppen wurden nachträglich weitere SchülerInnen aufgenommen, die von ihren Eltern oder von MitschülerInnen empfohlen wurden oder bei denen die Projektmitarbeiterinnen überdurchschnittliche Begabungen feststellten (etwa Geschwisterkinder teilnehmender SchülerInnen). Um im Umfeld die Bedingungen für eine den Fähigkeiten der SchülerInnen angemessene Förderung zu schaffen, wurde darüber hinaus in den Bereichen Schule und Familien gearbeitet. So wurden Gespräche mit den LehrerInnen der Kinder geführt, um ihnen Unterstützungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Gleichzeitig sollte in kleinem Maßstab eine Kultur der positiven Bewertung des Lernens an den Schulen geschaffen werden. Zudem fanden regelmäßige Gespräche mit den Familien der Kinder statt, in denen ihnen ebenfalls Fördermöglichkeiten sowie Besonderheiten in der Entwicklung begabter Kinder erläutert wurden. Lernmethoden und Lerninhalte Die im Rahmen des Projekts durchgeführten Trainings haben einen ganzheitlichen Ansatz und gehen über das Vermitteln fachlicher Lerninhalte hinaus. Sie sind kompetenzorientiert, multidisziplinär und werden durch außerschulische Aktivitäten ergänzt. In diesem Sinne vermitteln sie eine handlungsorientierte Bildung über die Erweiterung der persönlichen Kompetenzen und das Erfassen von Inhalten in größeren, außerfachlichen Kontexten. In Bezug auf die Lerninhalte wurden die eingangs genannten Ziele heruntergebrochen auf zwei Bereiche. Einerseits wurden fachliche Fähigkeiten vermittelt, d. h. Deutsch-, Englisch-, Lese- und Schreibkompetenzen. Die in diesen Bereichen gestellten Aufgaben trainierten die „klassischen“ Bildungsbereiche Sprechen, Lesen, Schreiben und Verstehen. Zum anderen wurden persönliche Fähigkeiten im Bereich der allgemeinen kognitiven Beweglichkeit trainiert, also die Entscheidungskompetenzen geschult und die Ausdauer der Kinder erhöht. Hier wurden allgemeine kognitive Fähigkeiten wie Kenntnisse, Verständnis, Anwendung, Analyse, Synthese und Beurteilung ausgebildet. Erreicht werden sollten die Überschreitung kognitiver Grenzen und die Bereitschaft, Herausforderungen anzunehmen. Was die allgemeinen kognitiven Kompetenzen der Kinder angeht, so sollten sie lernen, eigenständige Antworten auf Fragen zu finden, Probleme anhand gemachter Erfahrungen und die direkte Anwendung von Gelerntem aus früheren Fragestellungen zu lösen. Sie sollten die Bedeutung abstrakter Fragen aus den Trainings für das Leben verstehen lernen und die neu erworbenen Kenntnisse aktivieren, anwenden sowie durch Umsetzung erweitern und prüfen. Darüber hinaus sollten sie Verbindungen zwischen einzelnen Themen und Inhalten erkennen und thematisieren. Die Interessen und Anstöße der Kinder wurden für den Unterrichtsverlauf und die Unterrichtsentwicklung genutzt. Was die fachlichen Lerninhalte angeht, so wurden in Deutsch grundlegende sprachliche Fähigkeiten vermittelt, vor allem sprachliche Kategorien gebildet, die für das menschliche Denken Voraussetzung sind. Die Kinder sollten sich sprachliche Elemente und Strukturen bewusst machen, sie erkennen und anwenden sowie einfache Hypothesen zur Verwendung von Sprache und zu ihrer Regelbildung aufstel- 256 uj 6 | 2013 Begabungsförderung an der Schule len. Sie sollten Sprachmittel erwerben, festigen und sie in schriftlicher und mündlicher Form wiedergeben. Im Englischtraining wurde mit Originalmaterial gearbeitet. Es wurden keine Vokabeln nach Listen auswendig gelernt, vielmehr wurde der Wortschatz im Zusammenhang erschlossen, was zum Ziel hatte, ihn sehr schnell aktiv zur Verfügung zu haben. Grammatik wurde als grundlegende Struktur begriffen, die nicht als Regel auswendig gelernt und abgefragt wird, sondern die benutzt wird, um eine sichere Ausdrucksfähigkeit zu erreichen. Großen Wert wurde auf die praktische Verwendung des neuen Vokabulars und der vermittelten Inhalte gelegt: So wurden regelmäßig englische Texte vorgelesen und anschließend Fragen dazu mithilfe der neuen Vokabeln beantwortet. Die Trainings folgten dem Grundsatz: Nur anwendbares Wissen ist nutzbares und lebendiges Wissen. In Mathematik und im naturwissenschaftlichen Bereich knüpften die Themen ebenfalls an reale Lebenssituationen an. Auch hier wurde nichts auswendig gelernt (z. B. das Einmaleins), vielmehr wurde jedes Ergebnis durch Zurückgehen auf die eigene Anschauung der Kinder, durch Methoden der Überprüfung der eigenen Anschauung, durch das Suchen verschiedener Lösungsmöglichkeiten sowie schlussfolgerndes Denken selbstständig erarbeitet. Die Kinder lernten, dass auch schwierig aussehende Probleme, z. B. in Form von Textaufgaben, mit Beharrlichkeit und das Vertrauen in die eigene Kreativität und Denkfähigkeit lösbar sind. Im Denktraining und im Entscheidungskompetenztraining geschah dasselbe auf etwas abstrakterem Niveau: Die Themenbereiche wurden erweitert auf höhere sprachliche und mathematische Ebenen und auf existenzielle ethische Fragen. So wurde etwa auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung zurückgegriffen, um „Zufall“ berechenbar und die eigenen Einflussmöglichkeiten auf Ereignisse sichtbar zu machen. Zusätzlich wurden soziale Kompetenzen der Kinder durch das bewusste Verhalten in der Gruppe und das Beziehen aufeinander gefördert. Die Projektevaluation Die Evaluation des Projektes„Begabungsförderung im Rahmen inklusiver Bildung und Erziehung“ wurde von Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich - durchgeführt. Sie fand in der letzten Phase des Projektes statt und hatte von daher summativen Charakter. Für die Projektevaluation wurden ausschließlich qualitative Methoden verwendet. Im Rahmen der Untersuchung wurden mit ausgewählten TeilnehmerInnen des Projekts - Projektmitarbeiterinnen, Schulleiterinnen, LehrerInnen, ErzieherInnen, Eltern und anderen Personen aus dem engeren familiären Umfeld der SchülerInnen, SchülerInnen sowie VertreterInnen von Einrichtungen aus dem Kiez - problemzentrierte leitfadengestützte Interviews geführt. Die Interviews orientierten sich an den Zielsetzungen des Projekts und sollten Aufschlüsse über die Einschätzung sowohl des pädagogischen Fachpersonals als auch der Eltern zu den Entwicklungen der Kinder in Bezug auf Kompetenzentwicklung, Lernmotivation und Verhalten geben. Gleichzeitig sollte in Erfahrung gebracht werden, welche Wirkung die Arbeit des Projekts auf die beteiligten LehrerInnen gehabt hatte, auf ihr Unterrichtsverhalten sowie ihre Sicht auf die SchülerInnen. Auch Rolle und Verhalten der Familien sowie ihre Reaktionen auf das Projekt, respektive ihre Sensibilisierung für dessen Schwerpunkte, wurden im Rahmen der Interviews abgefragt. Insgesamt wurden 24 Einzelinterviews geführt. Um mehr Informationen zu der Mitwirkung und Kooperation der beteiligten Lehrerschaft zu erhalten, wurde weiterhin an jeder der bei- 257 uj 6 | 2013 Begabungsförderung an der Schule den Schulen je eine Fokus-Gruppendiskussion mit LehrerInnen durchgeführt. Zusätzlich wurden zwei Hospitationen bei Trainings durchgeführt, und zwar im Englischtraining mit SchülerInnen der unteren Klassen sowie im Entscheidungskompetenz-Training mit älteren SchülerInnen. Mit diesem methodischen Vorgehen wurden die Entwicklungen der Kinder, die Wirkung in der Schule und im familiären Umfeld aus Sicht der Projektmitarbeiterinnen, der LehrerInnen, der SchülerInnen sowie der Angehörigen erfasst. Diese Einschätzungen wurden miteinander in Beziehung gesetzt, sodass ein umfassendes Bild entsteht. Alle Daten wurden anonymisiert und computergestützt ausgewertet. Die qualitativen Interviews und die Fokus-Gruppendiskussionen wurden inhaltsanalytisch ausgewertet und zusammengefasst. Ergebnisse Entwicklungsverläufe der SchülerInnen Alle Befragten - Projektmitarbeiterinnen, FachlehrerInnen und Eltern - bemerkten deutliche Fortschritte im Fach Deutsch. Diese waren im mündlichen und schriftlichen Ausdrucksvermögen, in einer Erweiterung des Wortschatzes und der Lesekompetenz, in einer Reduzierung von Schreibfehlern und einer höheren Schreibgeschwindigkeit sowie in einem Interessenszuwachs am Lesen erkennbar. Im Fach Englisch wurden von der Mehrheit der Befragten große Fortschritte beobachtet, die sich ebenfalls in einem gewachsenen Interesse am praktischen Sprachgebrauch, einem größeren Wortschatz sowie neuen Fähigkeiten - Lesen und Verfassen von Texten bei den DrittklässlerInnen - widerspiegelten. „Meine Tochter redet seit dem Kurs fast nur noch auf Englisch. Zu Hause fängt sie dann an, Fragen zu stellen auf Englisch. Manchmal fragt sie mich - wo ich dann nicht weiterkomme -, was das heißt auf Englisch. Dann sage ich ihr: ‚Guck mal im Wörterbuch! ’ Bei Englisch hat sie auch gemerkt, dass ihr das total liegt, seit dem Begabtenkurs.“ Von einigen Befragten wurde jedoch der hohe Anspruch des Englischunterrichts kritisiert, der bei manchen SchülerInnen zu einem streckenweisen oder bleibenden Motivationsabfall führte. In Bezug auf das Verhalten wurde von nahezu allen Beteiligten eine höhere Entscheidungskompetenz vieler teilnehmender SchülerInnen registriert. Ihr Selbstvertrauen in ihre Fähigkeiten sei deutlich gestiegen, was sich positiv auf ihre Unterrichtsbeiträge, übernommene Aufgaben und schulische Ziele (Übergang aufs Gymnasium) auswirkte. Dies war besonders bei den Mädchen bemerkbar. Auch die Motivation, Ausdauer und Leistungsbereitschaft der SchülerInnen sind erkennbar gewachsen. „Wenn sie jetzt wirklich mal ein schwierigeres Arbeitsblatt bekommen - wir differenzieren ja auch -, dann ist es nicht mehr so, dass sie angerannt kommen und das erklärt haben wollen vom Lehrer, sondern dass sie versuchen, sich das selber zu erschließen. Das ist mir bei ein, zwei Schülern aufgefallen. Also man geht nicht mehr den bequemeren Weg, sondern man versucht dann auch, selber mal die Dinge für sich zu regeln.“ Wirkungen in der Schule Die Projektmitarbeiterinnen tauschten sich regelmäßig mit den LehrerInnen über den Entwicklungsstand der SchülerInnen und Möglichkeiten der Förderung aus. Diese waren überwiegend sowohl mit der Erreichbarkeit der Projektmitarbeiterinnen als auch mit den gegebenen Anregungen sehr zufrieden. Ein kleiner Teil der LehrerInnen konnte allerdings nicht in 258 uj 6 | 2013 Begabungsförderung an der Schule das Projekt eingebunden werden. Einige von ihnen äußerten den Wunsch nach einem stärkeren Austausch mit den Projektmitarbeiterinnen. Eine noch intensivere Beteiligung der LehrerInnen wäre sowohl in Bezug auf deren Kooperation mit dem Projekt als auch auf dessen Verankerung an den Schulen von Vorteil. Die Schulkultur konnte insofern positiv beeinflusst werden, als einige LehrerInnen ihre Sichtweisen auf die SchülerInnen in Hinblick auf das Erkennen von deren Potenzialen veränderten. Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen Kinder nicht von den LehrerInnen, sondern von anderer Seite ausgewählt worden waren. Zudem wurde von einer positiveren Sichtweise auf SchülerInnen mit Migrationshintergrund berichtet. Zudem verankerte sich im Verlauf des Projekts das Lernen als Wert stärker unter den teilnehmenden SchülerInnen und den MitschülerInnen der teilnehmenden Kinder. Der Austausch zwischen LehrerInnen und Familien hat sich durch das Projekt in einem Fall intensiviert, in anderen ist keine deutliche Veränderung erkennbar. Er wird ambivalent bewertet: Während die Familien ihn mehrheitlich als ausreichend bezeichnen, wünschen sich einige LehrerInnen mehr Kontakt. Bei einem Teil der Lehrerschaft konnten die Projektinhalte verankert werden. Es bestehen auch Ideen, wie diese weiter fortgetragen werden können. „Also ich hab ein, zwei Kolleginnen, die gesagt haben, und das weiß ich, dass wir auch versuchen wollen, noch mal stärker auf begabte Kinder hinzuwirken. Das werde ich auch mit einbauen. Also nicht nur fördern nach unten, sondern auch fordern nach oben, sodass ein Teil hier auch durch Kollegen abgedeckt wird.“ Um eine noch stärkere Involvierung der LehrerInnen zu ermöglichen, wäre es günstig, wenn diese hierfür von der Schulleitung gewisse zeitliche Freiräume zugesprochen bekommen. Wirkungen in den Familien Es überwiegen die Stimmen, die der Ansicht sind, dass die Eltern der teilnehmenden SchülerInnen weitgehend an einem schulischen Vorankommen ihrer Kinder interessiert waren und dass dies auch von Beginn an der Fall gewesen sei. Teilweise wussten sie jedoch nicht, wie sie ihre Unterstützung optimal gestalten sollten. Es ergibt sich insgesamt der Eindruck, dass das Projekt einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet hat, die bestehenden Potenziale und die vorhandene Bereitschaft zu nutzen und zu aktivieren. Zusätzlich wurden Kommunikationskanäle zwischen den LehrerInnen und den Familien geöffnet, die im Verlauf des Projekts den Kontakt intensivierten, begannen, offener miteinander zu sprechen, und einige Vorannahmen revidieren konnten. Die fachliche Expertise der Projektmitarbeiterinnen ist in regelmäßigen Gesprächen in die Familien eingeflossen, die die gegebenen Anregungen annahmen, umsetzten und die Unterstützung ihrer Kinder nun gezielter gestalten können. Konkrete Erfolge der Aktivierung der vorhandenen Unterstützungspotenziale der Familien zeigen sich etwa an den Entscheidungen zweier Familien, ihre Töchter bereits nach der vierten Klasse auf dem Gymnasium anzumelden. Diese Entscheidung fiel erst im Verlauf des Projekts und ist der motivierenden Einwirkung von Gesprächen zwischen Projektmitarbeiterinnen und Eltern zuzurechnen. Fazit Zusammenfassend lässt sich zunächst sagen, dass das Projekt von der Mehrzahl der Befragten positiv bewertet wurde. Von ausnahmslos allen Befragten wurde, ausgehend von den merklichen Wirkungen, die das Projekt trotz seiner relativ kurzen Laufzeit bereits erreicht hat, seine Weiterführung ausdrücklich befürwortet. Die Relevanz des Projekts liegt nicht zuletzt in der Tatsache begründet, dass es SchülerInnen fördert, deren Fähigkeiten ansonsten zumeist 259 uj 6 | 2013 Begabungsförderung an der Schule hinter den vielfältigen Problemlagen an den Grundschulen des Bezirks zurücktreten. Damit erfüllt es eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe, indem es nämlich wertvolle Potenziale erschließt und einen Beitrag zur Integration leistet, die in dem Bezirk angesichts seiner soziokulturellen Heterogenität besonders dringlich ist. Wesentliche Ziele des Projektes konnten zu einem erheblichen Teil erfüllt werden: ➤ Bei fast allen SchülerInnen führte die Teilnahme am Projekt zu einer merklichen Steigerung ihres Selbstbewusstseins, ihrer Wertschätzung für Bildung, ihrer Lernkultur, ihrer Zielsetzungen für ihren eigenen Lebensweg und dem Mut, sich für diese Ziele einzusetzen. Auch zeigte das Projekt positive Wirkung auf die schulischen Leistungen vieler teilnehmender SchülerInnen. ➤ Die überwiegende Mehrheit der Eltern der teilnehmenden Kinder wurde von den Projektmitarbeiterinnen erreicht. Viele waren sehr interessiert am schulischen Fortkommen ihrer Kinder, waren aber ratlos, was ihre diesbezüglichen Unterstützungsmöglichkeiten betraf. Diese Potenziale konnten durch das Projekt aktiviert werden. Die Eltern wurden darin bestärkt, ihre Kinder nach ihren Kräften zu fördern. Hierfür zeigten die Projektmitarbeiterinnen konkrete Möglichkeiten auf, etwa das gemeinsame Lernen mit den Kindern, das Respektieren von deren Entscheidungen, das Übernehmen bestimmter, im Projekt verwendeter Lernmethoden, die aktive Kontaktsuche zu LehrerInnen und den Blick auf die Stärken ihrer Kinder. ➤ Viele Lehrkräfte wurden in den Prozess eingebunden. Zum Teil wurde die Zusammenarbeit mit dem Projekt als Erkenntnisgewinn für die eigene Unterrichtspraxis wahrgenommen. In einigen Fällen gab es einen Wandel ihrer früheren Sichtweise auf zurückhaltende SchülerInnen, speziell auf Mädchen. Auch der Kontakt zu den Eltern wurde in manchen Fällen intensiviert. Als für die Wirkungen des Projekts hinderliche Faktoren können seine kurze Laufzeit sowie Umbruchprozesse an den Schulen und generelle Zeitknappheit in der Lehrerschaft genannt werden. Sabine Behn Aline-Sophia Hirseland Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH Scharnhorststraße 5 10115 Berlin sabinebehn@camino-werkstatt.de alinehirseland@camino-werkstatt.de Literatur Auernheimer, G., 2009: Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Schieflagen im Bildungssystem. Die Benachteiligung der Migrantenkinder. Wiesbaden, S. 7 - 20 Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hrsg.), 2009: Begabte Kinder finden und fördern. Ein Ratgeber für Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer. Bonn/ Berlin Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), 2001: Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen Hahn, H./ Möller, R./ Carle, U., 2007: Begabungsförderung in der Grundschule - eine Herausforderung für Lehrerinnen und Lehrer. In: Hahn u. a.: (Hrsg.): Entwicklungslinien in der Grundschulpädagogik: Begabungsförderung in der Grundschule. Baltmannsweiler, S. 3 - 9 Hirseland, A.-S., 2012: Evaluation des Projekts „Begabungsförderung im Rahmen inklusiver Bildung und Erziehung“. Berlin Konsortium Bildungsberichterstattung (Hrsg.), 2006: Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld