eJournals unsere jugend 65/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2013.art29d
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2013
657+8

Von der Vielfalt und neuen Geborgenheit in einer Patchworkfamilie

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2013
Peter Bünder
Der Beitrag thematisiert die Lebenswirklichkeit einer weit verbreiteten Familienform, die ein relatives Schattendasein führt. Historisch ableitbar gehören sogenannte Patchworkfamilien nicht zu den Familienformen, denen viel Sympathie oder Zutrauen zukommt. Dass hier - neben manchen Belastungen - auch viele Stärken und Chancen gefunden werden können, soll nachstehend ausgeführt werden.
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316 unsere jugend, 65. Jg., S. 316 - 323 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art29d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Von der Vielfalt und neuen Geborgenheit in einer Patchworkfamilie Der Beitrag thematisiert die Lebenswirklichkeit einer weit verbreiteten Familienform, die ein relatives Schattendasein führt. Historisch ableitbar gehören sogenannte Patchworkfamilien nicht zu den Familienformen, denen viel Sympathie oder Zutrauen zukommt. Dass hier - neben manchen Belastungen - auch viele Stärken und Chancen gefunden werden können, soll nachstehend ausgeführt werden. von Prof. Dr. Peter Bünder Jg. 1949; Dipl.-Pädagoge und Dipl.-Sozialarbeiter, Professor für Erziehungswissenschaft an der Fachhochschule Düsseldorf Der nachstehende Beitrag handelt von einer Familienform, die sehr verbreitet ist und über die dennoch relativ wenig Verlässliches bekannt ist. Die Rede ist von sogenannten Patchworkfamilien. Im deutschen Sprachraum ist diese Familienform lange bekannt unter dem Begriff Stieffamilie. Historisch kam es meistens zur Bildung einer Stieffamilie, wenn eine Mutter während der Geburt oder im Kindbett verstarb. Unter den bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen brauchte ein Witwer für die Haushaltsführung und die Versorgung der Kinder eine neue Frau an seiner Seite, die durch diese Konstellation für die Kinder zur sogenannten Stiefmutter wurde. Wie negativ diese aus einer Notlage entstandene Familienkonstellation gesehen und erlebt wurde, verdeutlichen viele Märchen wie beispielsweise das von Aschenputtel und der bösen Stiefmutter der Gebrüder Grimm (vgl. Rölleke 2012). In der tradierten negativen Konnotation der Position der neuen Frau in dieser Familienform liegt wohl ein Grund, warum in Fachkreisen mehrfach versucht wurde, eine alternative Bezeichnung einzuführen. Unglücklicherweise sind die gewählten alternativen Bezeichnungen ebenfalls ziemlich defizitorientiert ausgefallen. „Zweitfamilie“ oder „Reorganisationsfamilie“ haben sich als Alternative zu Stieffamilie nicht durchsetzen können (vgl. exemplarisch Familienhandbuch.de 2010). Mehr Verbreitung findet dagegen inzwischen der angelsächsische Begriff Patchworkfamilie. Patchwork, englisch Flicken- oder Teilstück, wird oft für Teppiche, Decken oder bunte Kleidungsstücke verwendet. Da es sich beim Patchwork ursprünglich um die Verwendung von Stoffresten handelte, die zu etwas Neuem zusammengefügt wurden, kann in Bezug auf eine Patchworkfamilie die Bezeichnung metaphorisch als Hinweis auf den kreativen Akt, aus „alten Teilen“ etwas Neues zu gestalten, verstanden werden. Eine weitere Parallele ist, dass in der sich neu bildenden Patchworkfamilie ebenfalls 317 uj 7+8 | 2013 Familien heute einiges an Kunstfertigkeit erforderlich ist, um aus den unterschiedlich geprägten Teilen ein neues, gelungenes Ganzes zu entwickeln. Die Konnotation ist daher nicht so defizitär, sondern deutlich positiver als die des traditionellen Begriffs der Stieffamilie. Die Bildung einer Patchworkfamilie Es ist statistisch kaum möglich, verlässliche Zahlen über die Anzahl von Patchworkfamilien in Deutschland zu geben, da für diese Familienform weder durch das Statistische Bundesamt noch durch die öffentliche Jugendhilfe eine systematische Datenerhebung erfolgt. Dies führt bei Krähenbühl u. a. zur Feststellung, dass es „keine genauen Erhebungen über die Entwicklung, Anzahl und Zusammensetzung von Stieffamilien“ gibt (2011, 23). Im Hinblick auf die gegebene Häufigkeit dieser Familienform ist dies zu bedauern, da vieles dafür spricht, dass die fehlende öffentliche Beachtung mit dafür verantwortlich ist, dass die Situation und die Leistung der betreffenden Familien nicht genügend gewürdigt werden. Dieser Beitrag versucht daher, ein etwas umfassenderes Bild von Patchworkfamilien anzubieten. Dazu wird zuerst auf die Entstehungshintergründe einer Patchworkfamilie fokussiert. Ein zweiter Teil beleuchtet die unterschiedlichen Formen dieser Familien. Drittens wird herausgearbeitet, welche Bedeutung die Beziehungsgestaltung für die involvierten Menschen hat, um abschließend in einem vierten Teil einige Schlussfolgerungen bzw. Empfehlungen zu ziehen. Wenn heutzutage eine Familie durch Trennung und Scheidung der Eltern auseinanderbricht, müssen neue Formen des Zusammenlebens gefunden werden. Oft verbleiben die Kinder bei einem Elternteil, zumeist bei der Mutter. Der andere Elternteil, der einen neuen Wohnort wählt, wird für die Kinder zum Besuchselternteil. Geht der Elternteil, bei dem die Kinder dauerhaft leben, wieder eine neue Paarbeziehung ein und möchte im Laufe dieses Prozesses mit dem/ der neuen PartnerIn auch zusammenleben, entsteht eine neu zusammengesetzte, eine sogenannte Patchworkfamilie. Das soziologische Bild von Patchworkfamilien hat sich gegenüber früheren Zeiten deutlich verändert. Mehrheitlich sind Patchworkfamilien heute von Stiefvätern und seltener von Stiefmüttern geprägt. Doch die Patchworkfamilie gibt es als einheitliche Familienform gar nicht. Der Begriff ist vielmehr eine Sammelbezeichnung für durchaus unterschiedlich komplex zusammengesetzte Familien. Typisierung Ausgangspunkt für die Bildung einer Patchworkfamilie ist also in der Regel der Wegfall eines Elternteils, heute überwiegend nicht mehr durch Tod eines Elternteils, sondern infolge von Trennung und Scheidung. Geht der Elternteil, bei dem die Kinder dauerhaft verbleiben, eine neue Paarbeziehung ein, bildet sich eine Patchworkfamilie. Dabei können idealtypisch drei Typen mit jeweils zwei Ausprägungen unterschieden werden: Typ A 1 ist ein leiblicher Elternteil mit Kind und neuer Partnerschaft. Hier finden wir heute vorwiegend Stiefväter. Wir sprechen bezeichnenderweise auch noch nicht von Patchworkmüttern und -vätern, sondern immer noch von Stiefmüttern und Stiefvätern. Typ A 2 ist komplementär der Besuchselternteil, welcher auch eine neue Partnerschaft mit einer kinderlosen Person eingeht. Kommt das leibliche Kind im Rahmen der Umgangsregelung zu Besuch, entsteht temporär eine Wochenend- und Ferien-Stieffamilie. Typ B 1 zeigt eine erste Komplexitätssteigerung. Diese Form bildet sich, wenn ein leiblicher Elternteil mit Kind eine neue Partnerschaft 318 uj 7+8 | 2013 Familien heute eingeht und diese Person ebenfalls ein Kind mitbringt. Beziehungsdynamisch besteht eine Entwicklungsaufgabe für die Familie darin, eine Form zu finden, in der sich eine Balance zwischen der Beziehung zu dem jeweiligen Kind des Partners oder der Partnerin bzw. der neuen Stiefgeschwister untereinander einstellen kann. Typ B 2 zeigt wiederum komplementär einen Besuchselternteil nach Typ A 2, welcher eine neue Partnerschaft mit einer Person eingeht, die Kinder in die Beziehung mitbringt. Der Besuchselternteil wird für diese Kinder Stiefelternteil, bei den Besuchen des eigenen Kindes wird der oder die PartnerIn ebenfalls vorübergehend Stiefelternteil. Mit Typ C wird schließlich der größte Komplexitätsgrad erreicht. Ein Elternteil mit Kind geht eine neue Partnerschaft mit einer Person ein, die ebenfalls mindestens ein Kind mitbringt. Wird nun noch ein gemeinsames Kind geboren, wird aus der vormaligen B 1- Patchworkfamilie eine neue Form C 1 nach dem Motto: Deine und meine Kinder streiten mit unseren Kindern. Analog entwickelt sich aus dem Typ B 2 ein neuer Typ, wenn der vormalige Besuchselternteil aus A 2, der für die Kinder des Partners oder der Partnerin in Typ B 2 eine Stiefelternrolle ausüben kann, durch die Geburt eines gemeinsamen Kindes eine neue Familienkonstellation, die abschließend C 2 genannt werden kann. Was hier eventuell auf den ersten Blick zunächst abstrakt und theoretisch anmutet, hat in der Lebenswirklichkeit der Familien und für die Beratungspraxis von sozialen HelferInnen eine große praktische Bedeutung. Da es „die“ Patchworkfamilie nicht gibt, stellt sich grundsätzlich zu Beginn einer Beratung die Frage, um welchen Typ von Patchworkfamilie es sich gerade handelt. Welche emotionale und kommunikative Dynamik entsteht in diesem neuen Beziehungsgeflecht, und welche Entwicklungsaufgaben hat diese Familie zu bewältigen? Nur so kann bei ggf. auftretenden Schwierigkeiten und Belastungen sorgfältig und angemessen interveniert werden. Allen Typen von Patchworkfamilien ist eigen, dass es für die beteiligten Personen im System ein Vorher und Nachher gibt. Vorher bezieht sich auf die Zeit, als die ursprüngliche Kernfamilie noch zusammenlebte. Nach der Trennung und ggf. Scheidung der Eltern hat die Qualität dieses „Vorher“ häufig eine große Auswirkung auf das Nachher, d. h. auf die Art und Weise, wie die Personen vor dem Hintergrund ihrer Geschichte weiterhin miteinander umgehen. Aus einer systemischen Perspektive bietet es sich an, diesbezüglich auf die grundlegenden Ausführungen von Boszormeny-Nagy (2001) zurückzugreifen. Nach seiner Auffassung führen Menschen in nahen Beziehungen innerlich Buch über das, was sie an Gutem und Schlechtem erhalten bzw. gegeben haben. Dies führt zu einer inneren „Verrechnung“, die nicht in Euro und Cent, sondern in emotionalen Einheiten erfolgt. Das, was wir in einer Beziehung gegeben haben - so Boszormeny- Nagy -, führt zum Gefühl des Verdienstes, was wir bekommen haben, zum Gefühl der Verpflichtung und Loyalität. Die von ihm sogenannten „Beziehungskonten“ und deren Verrechnung führen im Ergebnis zu einer emotionalen Einschätzung, ob etwas unter dem Strich eher als gerecht oder ungerecht erlebt und beurteilt wird. Tritt bei einer Person ein überdauernder „Verrechnungsnotstand“ ein, zeigen sich die Folgen in schlechter Stimmung, Spannungen, Unzufriedenheit und längerfristig in einer inneren Distanzierung. Gelingt es einem Paar nicht, die belasteten Beziehungskonten gemeinsam auszugleichen, besteht die Gefahr von schwer lösbaren Konflikten, die wiederum zu Entfremdung und letztlich Trennung führen können. Kommt es bei Eltern zu einer Trennung und Auflösung der Paarbeziehung und geht der Elternteil, bei dem das Kind danach lebt, eine neue Beziehung ein, stellt sich für beide Ex- 319 uj 7+8 | 2013 Familien heute PartnerInnen nach Bildung der Patchworkfamilie die Frage, wie im Hinblick auf die Elternrolle mit den vormaligen Beziehungsbelastungen auch im Hinblick auf die Interessen des Kindes umgegangen werden kann. Aus der Tatsache der vollzogenen Trennung ist zu unterstellen, dass zumindest bei einem der Beteiligten eine große emotionale Unzufriedenheit bestand und Konflikte ungelöst blieben. Nach den vorherrschenden heutigen gesellschaftlichen Vorstellungen über Familie kann zwar die Paarebene aufgelöst werden, nicht jedoch die Elternrolle, die auch einen besonderen gesetzlichen Schutz genießt. Die alten emotionalen Verletzungen, Versagungen und ggf. „offenen Rechnungen“ in problematischen Fällen können eine erhebliche negative Auswirkung auf die Qualität der weiteren Elternbeziehung nach Trennung und damit direkt und indirekt auf die Beziehung zum Kind und in den Alltag der neuen Patchworkfamilie haben. Für eine Patchworkfamilie zeigen sich - sobald die Erwachsenen eine verbindliche Partnerschaft eingegangen sind - Anforderungen und Herausforderungen auf verschiedenen Ebenen. Auf der Ebene der Erwachsenen ist bereits die Paarfindungsphase deutlich anders als bei Paaren ohne Kind. Einer der PartnerInnen ist weder zeitlich noch emotional oder finanziell völlig frei, sondern hat immer die Belange des Kindes mit zu berücksichtigen. Kommt es zu der Entscheidung, mit dem/ der neuen PartnerIn zukünftig zusammenzuleben, fällt dieser Person die neue Rolle eines sozialen Elternteils zu. Damit ist nicht nur eine Beziehung zu einem/ einer neuen PartnerIn zu gestalten, sondern zusätzlich auch noch die zu einem oder mehreren bisher fremden Kindern. Treten die PartnerInnen miteinander in Interaktion, ist es nicht nur die Paarebene, die es zu berücksichtigen gilt, sondern auch die der Elternebene. Für den/ die neu hinzukommende/ n PartnerIn fallen die biologische und die soziale Elternrolle auseinander. Wenn das Miteinanderleben gelingen soll, müssen verlässliche und befriedigende Beziehungen aufgebaut werden. Die Übernahme einer sozialen Elternrolle erfordert Entscheidungen auf mindestens zwei Ebenen. Zum einen muss der leibliche Elternteil ein großes Interesse haben, die Erziehungsarbeit und Verantwortung mit dem/ der neuen PartnerIn zu teilen. Zum anderen muss der/ die neue PartnerIn gewillt sein, sich in dieser Weise zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen. Je nach Alter der Kinder haben diese durch ihre Kommunikation mit dem/ der neuen PartnerIn großen Einfluss darauf, wie konstruktiv sich dieser Prozess entwickeln kann. In einer Patchworkfamilie wirken daher Dynamiken auf mehreren Ebenen. Treten unter eher schwierigen Umständen vermehrt emotionale Belastungen auf, ist nicht nur die neue Paarebene tangiert, sondern auch in gleicher Weise die Ebene Stiefelternteil und Kind. Dies erfordert eine große Sensibilität bei den Erwachsenen und die Bereitschaft, immer wieder das klärende Gespräch miteinander zu suchen. Geborgenheit Wir können davon ausgehen, dass Menschen - mit und ohne Kind - eine Paarbeziehung eingehen, weil sie gegenseitige Geborgenheit suchen und sich geben möchten. Geborgenheit ist in diesem Zusammenhang ein Konstrukt, welches Aspekte von Sicherheit, Vertrauen, Rückhalt, Verständnis, Vorhersagbarkeit und Kontinuität umfasst (vgl. Stierlin 2007). Soll Geborgenheit in einer Patchworkfamilie gelingen, brauchen sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder Rollenklarheit. Alltagsbezogen heißt dies festzulegen, wer welche Rolle und Aufgaben in der neuen Patchworkfamilie hat, das heißt, wer in welchem Bereich etwas zu sagen hat und wer für was zuständig und verantwortlich ist. Die Rolle und Funktion des leiblichen Elternteils scheint vordergründig emotional meist für alle klar. Wenn hier Belastungen mit dem/ 320 uj 7+8 | 2013 Familien heute der neuen PartnerIn auftreten, kann dies unterschiedliche Ursachen haben. Oft ist es hilfreich, einen Blick zurück auf die Phase vor der neuen Beziehungsaufnahme zu richten. Nach einer Trennung der Eltern schließen sich die Kinder oft viel intensiver mit dem verbleibenden Elternteil zusammen. Eine Erklärung dafür liefert zum einen die unbewusste Angst, dass sich vielleicht auch dieser Elternteil entfernen könnte, sodass eine Zeit lang mehr „geklammert“ wird. Zum anderen ist es aber auch die Feinfühligkeit und Verbundenheit der Kinder, die sie spüren und erleben lässt, wie belastet und verletzt der zurückgebliebene Elternteil ist, sodass sie verstärkt Nähe und Trost spenden. Speziell bei Einzelkindern kommt es immer wieder zu dem Phänomen, dass das Kind beispielsweise den Schlafplatz des gegangenen Partners einnimmt. Geht dann dieser Elternteil wieder eine neue Beziehung ein, erwächst oft für die Kinder durch die vorher gelebte besondere Nähe und Bezogenheit eine Art Verlustsituation, da sie ihren vorherigen Platz für einen anderen Erwachsenen freimachen müssen. Der neu hinzukommende Stiefelternteil und das Kind brauchen daher zunächst einmal Zeit und einen möglichst unbefangenen Rahmen, um sich kennenzulernen. Ihre Beziehungsaufnahme ist - anders als auf der Erwachsenenebene - nicht durch Verliebtheit gekennzeichnet, sondern öfters durch Vorsicht, Skepsis, Sorgen und Verlustängste. Schwierig kann es für den hinzukommenden Erwachsenen werden, wenn sich das Kind - beispielsweise aus Loyalität zu dem abwesenden leiblichen Elternteil oder wegen der Sorge, die vorherige alleinige Zuwendung der Mutter zu verlieren - ablehnend bis destruktiv verhält. Hier braucht es unbedingt eine klare Intervention des leiblichen Elternteils, um dem/ der neuen PartnerIn eine faire Chance zur Kontakt- und Beziehungsaufnahme zu geben, damit auf Zeit und Dauer eine Ausfüllung der sozialen Elternrolle möglich wird. Um für das Kind Klarheit zu schaffen und auch den/ die neue/ n PartnerIn zu schützen, sollte dessen/ deren Rolle in der neuen Familienkonstellation nach Abstimmung zwischen den Erwachsenen präzise definiert und gegenüber dem Kind kommuniziert werden. In Beratungen von Patchworkfamilien ist immer wieder zu erfahren, dass vor allem Stiefväter durchaus in guter Absicht in eine „Beziehungsfalle“ geraten. In dem Versuch, bei passender Gelegenheit erzieherisch wirksam zu werden, hat mancher Stiefvater erfahren müssen, dass das Kind eine ggf. auch verletzende Ausgrenzung vornimmt: „Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist doch nicht mein Vater! “ Gerät dann zusätzlich die Mutter noch in einen Loyalitätskonflikt, weil ihr die erzieherische Intervention des Partners zu streng oder unangemessen vorkommen, wird häufig mehr oder weniger offen, direkt oder indirekt Partei für das Kind ergriffen. Sofern mit der Mutter die Vorstellung über die eigene Rolle und deren konkrete Rollenerwartungen nicht vorher klar thematisiert wurden, kann diese Erfahrung zu einer deutlichen Zurückweisung des neuen Partners und einer Beziehungsbelastung führen. Angehende Stiefväter oder Stiefmütter sind daher gut beraten, bei der Bildung einer neuen Lebensgemeinschaft in Form einer Patchworkfamilie mit dem leiblichen Elternteil unbedingt die eigene Rolle in der Familie zu thematisieren. Exemplarisch kann sich beispielsweise ein Mann fragen: Bin ich nur der geschätzte Partner der Mutter und bleibt das erzieherische Alltagsgeschäft alleine ihre Angelegenheit? Bin ich eventuell so etwas wie ein „väterlicher Freund“ des Kindes bei angenehmen Aktivitäten? Bin ich eine Art WG- Teilnehmer mit partiellem Familienanschluss? Oder darf und will ich der soziale Vater sein und nehme die neue Rolle als Stiefvater bewusst an? Möchten die Erwachsenen in einer sich bildenden Patchworkfamilie bewusst eine neue tragfähige Familienstruktur gestalten, besteht die 321 uj 7+8 | 2013 Familien heute große Chance, dass neue, positive bis sogar heilsame Beziehungserfahrungen gemacht werden können. Kinder sind für die Erfahrung von Geborgenheit darauf angewiesen, dass ihre Entwicklungsbedürfnisse wahrgenommen und respektiert, die in ihrer Sicht der Welt verankerten Bindungen und Loyalitäten zu anderen Menschen anerkannt und gewürdigt werden. Dazu zählen unter anderem das Erleben und die Einschätzung des Kindes, wer aus seiner Sicht alles zur Familie gehört. Meist gehört auch der nicht mehr im Haushalt lebende Elternteil dazu, was aus Sicht von Mutter und Stiefelternteil wahrscheinlich häufig anders gesehen wird. Dennoch ist bedeutsam, diese kindliche Sichtweise dahingehend anzuerkennen, indem nach Möglichkeit der regelmäßige Kontakt zu dem abwesenden Elternteil gefördert und unterstützt wird. Sollten aufseiten der leiblichen Eltern die weiter oben angeführten alten Beziehungskonflikte nachwirken und dadurch unlösbar erscheinende Konflikte auch im aktuellen Familienleben entstehen, ist im Interesse und zum Wohl des Kindes und der Erwachsenen eine qualifizierte Elternberatung anzuraten, um mit externer Hilfe einen möglichst frühen Ausweg aus der tendenziell zunehmenden Verschärfung der Konflikte zu finden. An dieser Stelle ist mit Nachdruck die positive Bedeutung des § 17 SGB VIII herauszustellen, der Müttern und Vätern einen Rechtsanspruch auf Beratung in Fragen der Partnerschaft, speziell bei Trennung und Scheidung, zuspricht. Es ist eine zusätzliche große Belastung für die neue Patchworkfamilie, wenn die alten Konflikte über Fragen, die das Kind tangieren, immer wieder aktualisiert und angefacht werden. Nach innen gesehen wird die Empfehlung einer klaren Rollendefinition und -handhabung auch gesellschaftlich anerkannt. Obwohl der Stiefelternteil im Allgemeinen ohne spezielle Erklärung des leiblichen Elternteils rechtlich für das Kind nicht in Erscheinung treten kann, hat der Gesetzgeber für die Alltagsangelegenheiten einen klaren Rahmen geschaffen. § 1887 b (1) BGB legt fest, dass ein Ehegatte oder eine Ehegattin, der/ die nicht (biologischer) Elternteil eines Kindes ist, im Einvernehmen mit dem sorgeberechtigten Elternteil die Befugnis zur Mitentscheidung in Angelegenheiten des täglichen Lebens des Kindes hat. Dies ist ggf. auch zum Schutz des Kindes wichtig, wenn in hochstrittigen Fällen durch den leiblichen Elternteil massiv Druck aufgebaut und das Kind beeinflusst wird, sich beispielsweise von dem „Neuen“ nichts sagen zu lassen. Von den Chancen der Vielfalt Ein möglicher Grund für das scheinbare Schattendasein von Patchworkfamilien könnte darin liegen, dass durch die häufig defizitär geprägte Betrachtung bei den Beteiligten eine Scheu besteht, offensiv für ihre Lebensweise einzutreten. Patchworkfamilien zeichnen sich im Gegensatz zu vielen Kernfamilien durch eine große Vielzahl von Beziehungen aus. Diese Beziehungen sind nicht per se problematisch, sondern können auch als positiv und unterstützend erlebt werden. Die Vorteile liegen sowohl für die Erwachsenen als auch für die Kinder auf der Hand. Obwohl die Paarfindungsphase bei diesen Erwachsenen wahrscheinlich nicht so unbelastet wie bei kinderlosen Paaren abläuft, kann die gegebene Familienkonstellation zu einem späteren Zeitpunkt auch für das Paar Erleichterungen mit sich bringen. Ist beispielsweise die Beziehung des Kindes zum abwesenden Elternteil positiv und tragfähig, bringt der Aufenthalt des Kindes beim Elternteil - sofern keine anderen eigenen Kinder zu versorgen sind - eine Auszeit der Verpflichtungen für das Paar, die für gemeinsame Interessen und Aktivitäten genutzt werden können. Findet beispielsweise sehr verbindlich alle 14 Tage ein Besuchswochenende für das Kind statt, können die Eltern in der Patchworkfamilie mit dieser geschenkten Zeit nach eigenen Bedürfnissen 322 uj 7+8 | 2013 Familien heute umgehen. Damit ist ggf. der Umfang von „Freizeit“ für das Paar deutlich größer als bei Eltern in herkömmlichen Kernfamilien, die für ihre Freiräume in der Regel die Hilfe von Großeltern oder BabysitterInnen in Anspruch nehmen müssen. Auch für ein Kind in einer Patchworkfamilie wird bei relativ stabilen Beziehungen eine große Vielzahl von Beziehungen und Erfahrungen möglich. Für viele Kinder, die in ihrer Kernfamilie massive Belastungen und Versagungen erleben mussten, weil ein Elternteil in keiner Weise seinen elterlichen Aufgaben nachkommen wollte oder konnte, kann die Erfahrung eines offenen, zuverlässigen und unterstützenden sozialen Elternteils in Form eines Stiefvaters oder Stiefmutter eine sehr wertvolle Bereicherung und Stabilisierung im Leben darstellen. Auch die Lebensqualität, die der leibliche Elternteil durch eine neue, befriedigende Paarbeziehung erreichen kann, wird sich positiv auf das Familienklima auswirken und damit atmosphärisch direkt und indirekt den Kindern zugute kommen. Da der neue soziale Elternteil ebenfalls eigene Beziehungen mit einbringen kann, vergrößert sich für das Kind potenziell die Möglichkeit, im besten Fall zusätzliche soziale Großeltern, Tanten und Onkel und ggf. auch nette Stiefgeschwister zu bekommen. Selbstverständlich geschieht dies nicht im Selbstlauf, sondern ist von günstigen Voraussetzungen und einer entsprechenden Entwicklungsarbeit abhängig. Grundvoraussetzungen sind sicherlich die Bereitschaft und Offenheit der Beteiligten, sich - wenn auch anfänglich vorsichtig - aufeinander einzulassen. Die Interaktion sollte klar und behutsam sein, damit gegenseitiges Vertrauen und Wertschätzung wachsen kann, was vor allem in der ersten Zeit durch eine bewusste Regulierung der Nähe und Distanz unterstützt werden kann. Ist es einer Patchworkfamilie möglich, alleine oder mit Unterstützung einen solchen Weg zu beschreiten, kann das Leben in der Familie für alle Beteiligten eine wunderschöne Lebensqualität bieten. Schlussfolgerungen Das Leben in einer Patchworkfamilie unterscheidet sich im Hinblick auf die Vorgeschichte, die Beziehungsgestaltung und die Aufgaben deutlich von dem in einer herkömmlichen Kernfamilie. Es ist per se nicht schlechter oder besser, sondern anders und vor allem vielfältiger. Eine zentrale Entwicklungsaufgabe der Erwachsenen in einer Patchworkfamilie besteht darin, für sich und die Kinder einen neuen Zusammenhalt und Kontinuität zu entwickeln, welche die Grundlagen für Geborgenheit bieten. Daher sollten sie möglicherweise überkommene oder neu auftretende Konflikte auf der Erwachsenenebene eigenverantwortlich und aktiv - ggf. mit beraterischer Hilfe - angehen und sie damit von den Kindern fernhalten. Sofern Konflikte mit dem anderen biologischen Elternteil oder aber in der neuen Partnerschaft auszutragen sind, sollte dies nicht vor den Kindern geschehen. Dies gilt gleichermaßen auch für Telefonkontakte, deren„teilweises Mithören“ die Kinder sehr verunsichern und belasten kann. Besonders hilfreich kann wirken, wenn der leibliche Elternteil in einer Patchworkfamilie in allen die Familie und die Kinder betreffenden Fragen eine klare und eindeutige Kommunikation mit allen Beteiligten pflegt, speziell mit den Kindern, dem/ der neuen PartnerIn, aber auch mit dem abwesenden leiblichen Elternteil. Wenn sich trotz eigener Bemühungen Konflikte verhärten und gar zu chronifizieren drohen, sollte möglichst frühzeitig professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden. Viele Eltern in Patchworkfamilien versäumen es leider - teilweise aus Unwissenheit über Hilfemöglichkeiten, teilweise aus Scham, teilweise wegen Überlastung -, in einem frühen Stadium der Schwierigkeiten um Hilfe zu bitten. Wenn die eigenen Ressourcen und die der erweiterten Familie nicht ausreichen, um die Probleme aus eigener Kraft zu bewältigen, sind Patchworkfamilien gut beraten, sich möglichst bald professionelle Hilfe zu suchen, damit das hoffnungsvolle neue Familienprojekt nicht an zermür- 323 uj 7+8 | 2013 Familien heute benden Reibereien, Enttäuschungen und Verzweiflung scheitert. In Zeiten massiver Belastungen braucht es viele Ressourcen, um sich gemeinsam auf den Weg einer guten Entwicklung zu machen. Die Jugendhilfe hält über den §28 SGB VIII für Familien ein kostenloses, in der Regel qualifiziertes, auch therapeutisches Unterstützungsangebot durch die Familien- und Erziehungsberatungsstellen vor. Hier können Patchworkfamilien, die unter Spannungen und Belastungen stehen, für alle Familienmitglieder ein entlastendes Angebot erhalten, damit die guten Wünsche und Hoffnungen, die mit der Bildung der neuen Familie verbunden waren, letztlich zum Wohle aller realisiert werden können. Prof. Dr. Peter Bünder Fachhochschule Düsseldorf Fachbereich 6 Universitätsstraße 40225 Düsseldorf peter.buender@fh-duesseldorf.de Literatur Boszormenyi-Nagy, I./ Spark, G., 2001: Unsichtbare Bindungen. Die Dynamik familiärer Systeme. Stuttgart Krähenbühl, V. u. a., 7 2011: Stieffamilien. Struktur, Entwicklung, Therapie. Freiburg Rölleke, H. (Hrsg.), 4 2012: Die Märchen der Gebrüder Grimm. Stuttgart Stierlin, H., 2 2007: Gerechtigkeit in nahen Beziehungen. Systemisch-therapeutische Perspektiven. Heidelberg Textor, M. R. (Hrsg.), 2010: Stieffamilie leben. www. familienhandbuch.de, 6. 4. 2013, 1 Seite 2011. 167 Seiten. (978-3-497-02227-4) kt Wir sind eine Familie! Dieses Buch gibt praktische Hilfestellung für brenzlige Situationen im Alltag einer Patchwork-Familie. Wie lassen sich die komplexen Familienbeziehungen gestalten, damit sie für Eltern und Kinder ein Gewinn werden? Wie kann man schwierige Verhaltensmuster im Zusammenleben erkennen und verändern? Wo findet man notfalls Unterstützung? Einfühlsam beschreiben die Autoren die besondere Situation von Patchwork-Familien. Sie zeigen, wie Eltern die anfängliche Begeisterung erhalten und in Phasen von Unsicherheit den Familienzusammenhalt stärken und neues Vertrauen schaffen können. a www.reinhardt-verlag.de