unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2013.art32d
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Frauen in sozialer Verantwortung: Martha Muchow
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Manfred Berger
Zum großen Teil waren es Frauen, die Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik maßgeblich beeinflussten. Sie haben Akzente gesetzt und Impulse gegeben, die bis heute nachwirken. Solche bahnbrechenden Frauen werden in unregelmäßiger Folge in unsere jugend vorgestellt.
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343 unsere jugend, 65. Jg., S. 343 - 346 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art32d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Manfred Berger Jg. 1944; Diplom-Pädagoge, Diplom-Sozialarbeiter, Diplom-Heilpädagoge, ehrenamtlicher Leiter des Ida-Seele-Archivs zur Geschichte der Sozialarbeit/ -pädagogik und ihrer Nachbarwissenschaften Frauen in sozialer Verantwortung: Martha Muchow Zum großen Teil waren es Frauen, die Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik maßgeblich beeinflussten. Sie haben Akzente gesetzt und Impulse gegeben, die bis heute nachwirken. Solche bahnbrechenden Frauen werden in unregelmäßiger Folge in unsere jugend vorgestellt. Martha Muchow wurde als erstes Kind des Zollinspektors Johannes Muchow und dessen Ehefrau Dorothee, geb. Korff, am 25. September 1892 in Hamburg geboren. Zu ihrem um acht Jahre jüngeren Bruder hatte sie zeitlebens ein enges Verhältnis. Sie besuchte die Volksschule, anschließend eine private „Höhere Mädchenschule“, folgend das städtische Oberlyzeum in Altona. Bereits 1913, ein Jahr nach ihrem Abitur, legte sie das Lehrerinnenexamen ab und sammelte Lehrerfahrungen u. a. an einer „Höheren Mädchenschule“ im dänischen Tondern sowie an einigen Volksschulen in Hamburg. In ihrer Heimatstadt besuchte sie nebenher noch psychologische Veranstaltungen des „Psychologischen Laboratoriums“ am „Kolonial Institut“ (Vorläufer der Universität Hamburg) und beteiligte sich ferner als ehrenamtliche Mitarbeiterin an schulpsychologischen Untersuchungen. 1919 studierte Martha Muchow Psychologie, Philosophie, deutsche Philologie und Literaturgeschichte an der neu gegründeten Universität der Hansestadt Hamburg. William Stern, Professor für Psychologie, wurde schnell auf die begabte Studentin aufmerksam und erwirkte bei der Schulbehörde ihre Beurlaubung aus dem Schuldienst, um sie als wissenschaftliche Hilfsarbeiterin (ab 1930 „Akademischer Rat“) einzustellen. Bis zum Ende ihrer Tätigkeit wird diese Freistellung immer wieder von William Stern eingefordert. 1923 promovierte Martha Muchow„summa cum laude“ mit einer Arbeit über „Studien zur Psychologie des Erziehers. Methodologische Grundlegung einer Untersuchung der erzieherischen Begabung“. Schon sehr bald begann sie mit wissenschaftlichen Studien zur „Lebensraumsituation“ von Kindern und Jugendlichen: „Hintergrund dieser Arbeiten sind sozialpädagogische Motive und Erfahrungen, wie sie insbesondere auch durch die praktische Arbeit Martha Muchows in den Hamburger Volksheimen sowie durch ihr Engagement in der Jugendbewegung mit ihrer Zugehörigkeit zur Wandervogel-Bewegung geprägt worden sind. Hierzu zählt auch ihre Beschäftigung mit TBC-gefährdeten Hamburger Arbeiterkindern, mit denen sie während der Kur auf Wyk auf Föhr Untersuchungen durchführt, deren Ergebnisse sie in ihrer Veröffentlichung über die ‚Wirkung des Seeklimas auf Schulkinder‘ (1926) präsentiert“ (Miller 1993, 192). 344 uj 7+8 | 2013 Porträt Ab 1927 lehrte Martha Muchow Kinder- und Jugendpsychologie im neu eingerichteten Jugendleiterinnen-Lehrgang des Hamburger Fröbelseminars. Dadurch setzte sie sich verstärkt mit der Kindergartenpädagogik auseinander und vertiefte die Beziehungen zur Fröbelbewegung: „Martha Muchow spricht durch die Zeitschrift Kindergarten und auf Tagungen des Fröbelverbandes zu den Kreisen, die Träger sozialpädagogischen Wirkens sind, und gehört bald zu dem engeren Kreis, der den Blankenburger Osterlehrgängen, die aus der Thüringer Fröbelarbeit erwachsen sind, das Gepräge gibt: ein Gefühl der Zusammengehörigkeit im Dienste einer Erziehungsidee, einer Gesinnungsgemeinschaft, wie sie in jenen Jahren politischer Zerrissenheit selten erlebt wurde“ (Strnad 1949, 14f ). Die Psychologin sah in Friedrich Fröbel den „modernen Kinderpsychologen“, der stets auf die Wichtigkeit des „freischöpferischen Spiels“ für die „gesunde Entwicklung“ des Kindes verwies: „Fröbel war sich wie kein anderer Pädagoge darüber klar, daß man eine Lebensstätte des kleinen Kindes nur schaffen konnte, indem man die Stätte phantasiebelebten Spieles schuf. Er wußte, daß das Spiel des Kleinkindes ‚nicht Spielerei‘ ist, sondern ‚hohen Ernst und tiefe Bedeutung‘ in sich trägt, daß es ‚das reinste geistige Erzeugnis des Menschen auf dieser Stufe’ ist“ (Muchow 1929, 81). Martha Muchow konstatierte folgerichtig, dass der Begründer des Kindergartens auch die Notwendigkeit, das Kind langsam zur Arbeit hinzuführen, erkannte: „Aber nicht durch einen öden Drill an Aufgaben, sondern durch langsames schrittweises Hinüberleiten zu gebundeneren Betätigungen, die zunächst immer noch eng dem Spiel verwandt bleiben, führt er das Kind dahin, Ziele zu setzen und zu verfolgen. Ein Teil der Betätigungen, die man mit dem unglücklichen Namen ‚Beschäftigungen‘ bezeichnet, bildet dieses Übergangsstück, das neben dem Freispiel und dem Bewegungsspiel im Kindergarten als Bildungsmittel Verwendung findet. Sie sind noch nicht regelrechte werkschaffende Arbeiten, die die Wirklichkeit dauernd umgestalten wollen. In ihren Zielen sind sie noch größtenteils aus den Bedürfnissen des Spiels bestimmt. In ihnen schafft das Kind sich Dinge, die es in seinem Spiel braucht. Es lernt so, Rücksicht auf die Verwendungsmöglichkeit zu nehmen und sich gewissen Zwecken entsprechend zu verhalten“ (ebd.). Martha Muchow beteiligte sich an der seinerzeit nicht immer gerade sachlich geführten Diskussion um die Methode Maria Montessoris einerseits und der Fröbelpädagogik andererseits. Sie versuchte, eine grundsätzliche Klärung herbeizuführen, „wie man sich bei der methodischen Ausgestaltung der Kleinkinderfürsorgeerziehung, die ja bis jetzt wesentlich an Fröbel orientiert ist, zu den Anregungen und den praktischen Vorschlägen der italienischen Ärztin Maria Montessori stellen soll“ (Muchow 1927, 59). Die kindliche Phantasie betreffend, sah sie den größten Unterschied zwischen Fröbel und Montessori. Dazu schrieb Martha Muchow: „Sieht Fröbel in ihr das Lebenselement des Kindes, an das alle Erziehung sich anpassen muß, so ist sie für Maria Montessori nur ein unerfreuliches und möglichst zu unterdrückendes Erbteil unzivilisierter Vorfahren. Im Kinderhaus wird daher jede Regung der Phantasie unterdrückt und das Kind zur Beachtung der realen Verhältnisse angeleitet. Bilderbücher und Märchen, die seine Phantasie befruchten könnten, Reigenspiele und Darstellungsspiele, die zu einer Erzeugung von Phantasiesituationen verleiten, sind vom Programm des Kinderhauses ausgeschlossen“ (Muchow 1927, 172). „Diese Unterdrückung der Phantasie“, schrieb Martha Muchow, „ist ohne Zweifel der größte und empfindlichste Fehler des [Montessori; M. B.] Systems“ (Muchow 1927, 15). Käthe Stern, Leiterin des Breslauer Kinderhauses und Vertreterin des „Erweiterten Montessori-Systems“, bescheinigte Martha Muchow, dass sie versuchte, „beiden Systemen gerecht zu werden. Da sie aber die 345 uj 7+8 | 2013 Porträt Montessori-Praxis sehr viel weniger kennt als die Theorie, wird gegen manches angekämpft, was auch in der strengeren Praxis gemildert auftritt. In vielen Punkten teilen wir ihre Kritik der ‚orthodoxen Methode‘, und zwar an allen den Stellen, in denen das „erweiterte System‘ zum Ausbau geschritten ist und damit die mit Recht gerügten Mängel abgestellt hat. Muchow weist darauf hin, daß ein - freilich unbeabsichtigtes - Verdienst der Montessori-Methode darin liege, daß mit neuem Feuereifer Fröbel studiert wird“ (Hintze 2001, 54). Martha Muchow erhielt immer wieder Angebote, in den USA zu forschen. Doch sie war zu sehr mit der Heimat verwurzelt, um dorthin zu übersiedeln. November 1930 schrieb sie aus Washington: „Wenn ich nicht so tief in meiner Arbeit verwurzelt wäre, könnten mich vielleicht einige Angebote verlocken, hierzubleiben, wenigstens für ein paar Jahre. Aber gerade hier merke ich doch, wie sehr kultur- und schicksalverwachsen ich im Grunde bin, so daß selbst ungeahnte Mittel für ungeahnte Forschungsarbeiten mir nichts sagen können“ (zit. n. Hintze 2001, 164). Wäre sie doch in den USA geblieben, dann wären ihr die Gräuel der Nazis erspart geblieben. Am 7. April 1933 wurde Prof. William Stern wegen seiner jüdischen Versippung aus der Universität Hamburg ausgesperrt. Martha Muchow musste die Übergabe des „Psychologischen Laboratoriums“ der Universität Hamburg an den von den Nazis gestellten Erziehungswissenschaftler Gustav Deuchler vornehmen. Zwei Tage nach ihrem Geburtstag beging sie einen Selbstmordversuch. Martha Muchow hatte den Gashahn aufgedreht und sich die Pulsadern aufgeschnitten. Die Ärzte konnten ihr nicht mehr helfen, und sie starb nach zwei Tagen Krankenhausaufenthalt. Bis heute konnte letztlich nicht mit der gebotenen wissenschaftlichen Gründlichkeit der Grund für ihren Freitod eruiert werden. Fest steht, dass sie sehr unter dem plötzlichen Tod ihrer „über alles geliebten Mutter“ (Hintze 2001, 196) litt, die am 9. April 1933 starb. Sie fand nicht, bedingt durch die hektischen Vorgänge an der Universität, die nötige Zeit für Trauer und Rückzug. Fest steht aber auch, dass Martha Muchow seinerzeit seitens der „braunen Administration“ schärfsten Diffamierungen ausgesetzt war. Sie wurde als „Judengenosse“ und „marxistisch eingestellte Demokratin“ desavouiert, die mit Menschen „nicht arischer Herkunft zusammenarbeitet“ und „intensive Kontakte zu jüdischen Wissenschaftlern pflegt“ (Hintze 2001, 196f ). Als sie schließlich, genau an ihrem 41. Geburtstag, ihrer wissenschaftlichen Assistentenstelle enthoben wurde und sie wieder in den Schuldienst zurückkehren sollte, hatte Martha Muchow wohl persönlich kapituliert und sich für den Freitod entschieden. Ihre sicher bedeutendste Publikation „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ hinterließ Martha Muchow unfertig. Die pädagogischsozialpädagogische Studie, eine der ersten zur schichtspezifischen Sozialisationsforschung (heute als „Qualitative Sozialforschung“ bezeichnet), wurde von ihrem Bruder Hans Heinrich Muchow fertiggestellt und postum 1935 in der Schriftenreihe „Ertrag der Hamburger Erziehungsbewegung“ veröffentlicht. Lange blieb das Werk vergessen, aus welchen Gründen auch immer. 1978 wurde es (wieder) entdeckt und blieb dann wiederum für fast 20 Jahre vergriffen. Zu ihrem 120. Geburtstag im Jahr 2012 ist das Werk neu aufgelegt und herausgegeben worden. Das Besondere an diesem Mitte der 1930er Jahre veröffentlichten Werk ist sein wissenschaftlicher Ansatz, nämlich „die Akzentuierung der aktiven Seite von Weltbewältigung und der Mittlerschaft des Forschers zwischen dem Kind und Jugendlichen, seiner Lebenswelt und der der Erwachsenen“ (Miller 1993, 191). Diese Ansicht fasste Hans Heinrich Muchow mit folgenden Worten zusammen: „Indem man das Verhältnis Person/ Welt grundsätzlich neu durchdachte, trat immer deutlicher heraus, daß in der Beziehung Kind/ Großstadt nicht die Welt der Großstadt ‚erst durch nachträgliche Konvergenz 346 uj 7+8 | 2013 Porträt mit der Person (des Kindes) in Beziehung tritt’, sondern daß es sich bei der vom Großstadtkind ‚gelebten’ wie überhaupt bei jeglicher ‚gelebten Welt’ um ein eigentümliches, zwischen Person und Welt sich realisierendes Leben handelt“ (Muchow/ Muchow 1935, 7). Demzufolge untersuchte Martha Muchow nicht, „wie eine so und so zu beschreibende Großstadtumwelt die in ihr lebenden, so und so beschaffenen Kinder beeinflußt“, vielmehr zeigte sie auf, „wie das Kind seine Umgebung ‚Großstadt’ zu seiner Umwelt umschafft und wie sich alsdann die vom Kinde ‚gelebte Welt’ Großstadt darstellt“ (ebd.). Heute erinnern in Hamburg die Martha- Muchow-Bibliothek der Universität Hamburg sowie in Berlin das Martha-Muchow-Institut an die Psychologin. In Martha Muchows Geburtsstadt trägt zudem eine Fachschule für Sozialpädagogik ihren Namen, und auf dem Ohlsdorfer Friedhof erinnert im „Garten der Frauen“ eine Erinnerungsspirale an die bedeutende und fast in Vergessenheit geratene Wissenschaftlerin. Manfred Berger Am Mittelfeld 36 89407 Dillingen Literatur Berger, M., 1995: Martha Muchow (1892 - 1933). In: Berger, M.: Frauen in der Geschichte des Kindergartens. Ein Handbuch. Frankfurt am Main, S. 146 - 150 Fries, M.: Mütterlichkeit und Kinderseele. Zum Zusammenhang von Sozialpädagogik, bürgerlicher Frauenbewegung und Kinderpsychologie. Ein Beitrag zur Würdigung Martha Muchows. Frankfurt am Main 1996 Miller, R., 1993: Martha Muchow. In: Lück, H./ Miller, R. (Hrsg.): Illustrierte Geschichte der Psychologie. München, S. 191-193 Muchow, M., 1927: Das Montessori-System und die Erziehungsgedanken Friedrich Fröbels. In: Hecke, H./ Muchow, M. (Hrsg.): Friedrich Fröbel und Maria Montessori. Leipzig Muchow, M., 1929: Psychologische Probleme der frühen Erziehung. Erfurt Muchow, M./ Muchow, H. H., 1935: Der Lebensraum des Großstadtkindes. Hamburg. Muchow, M./ Muchow, H. H., 2012: Der Lebensraum des Großstadtkindes. Neu herausgegeben von Behnken, I./ Honig, M.-S. Weinheim Strnad, E., 1949: Martha Muchow in ihrer Bedeutung für die sozialpädagogische Arbeit. In: Muchow, H. H. (Hrsg.): Aus der Welt des Kindes. Ravensburg, S. 7 - 10
