eJournals unsere jugend 65/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2013
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Welche Folgen hat sozialer Wandel für Familien?

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2013
Cornelia Mansfeld
Der soziale Wandel im 21. Jahrhundert hat Veränderungen im Leben vieler Familien ausgelöst. Im Folgenden soll vorgestellt werden, wie dieser soziale Wandel in seinen Wirkungen auf Familien strukturiert betrachtet werden kann.
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301 unsere jugend, 65. Jg., S. 301 - 305 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art27d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. Cornelia Mansfeld Soziologin und Supervisorin (DGSv), Studiengang Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt Welche Folgen hat sozialer Wandel für Familien? Einige Aspekte, um sozialen Wandel in seinen Wirkungen auf Familien zu bewerten Der soziale Wandel im 21. Jahrhundert hat Veränderungen im Leben vieler Familien ausgelöst. Im Folgenden soll vorgestellt werden, wie dieser soziale Wandel in seinen Wirkungen auf Familien strukturiert betrachtet werden kann. Eine Bekannte schilderte mir den erschreckten Anruf des Erziehers ihrer Tochter aus der Kita: Laura habe sich geweigert, zum Essen vom Spielen in das Haus zu kommen, und gesagt, wenn sie dies tun müsse, würde sie sich eine Scherbe ins Herz stechen. Die Eltern waren schon vor ihrer Geburt und sind bis heute mit existenziellen Themen beschäftigt. Die Mutter kommt aus Ostdeutschland und hat es trotz großen Engagements und vielen Initiativen schwer, sich als selbstständige Handwerksmeisterin zu etablieren. Der Vater stammt aus Nordafrika, spricht arabisch, französisch und deutsch, hat eine Universitätsausbildung und sich vielfach weitergebildet, findet jedoch in einem Mangelberuf keine Arbeitsstelle, wohl aber (unbezahlte) Praktika. Er vermutet eine fremdenfeindliche Grundhaltung bei den potenziellen Arbeitgebern. Dadurch hat er Misstrauen und Angst entwickelt, was nicht hilfreich ist, sich in einer neuen Arbeitsstelle zurechtzufinden. Die Eltern lieben ihre Tochter, thematisieren aber zwangsläufig auch in ihrer Gegenwart existenzielle Fragen. Sie holen sich Hilfe in einer Paartherapie. Die neueste UNICEF-Studie stellt fest, dass in keinem Industrieland die Differenz zwischen der Qualität der äußeren Lebensumstände von Kindern und ihrer subjektiven Einschätzung des eigenen Wohlbefindens so eklatant ist wie in Deutschland. Hans Bertram sagt dazu: „Die einseitige Konzentration auf Leistung und formalen Erfolg führt dazu, dass sich viele Kinder und Jugendliche ausgeschlossen fühlen. Unsere an Ressourcen reiche Gesellschaft versagt offensichtlich dabei, allen Mädchen und Jungen Hoffnung und Perspektiven auf gerechte Teilhabe zu geben.“ Und der Vorsitzende der deutschen UNICEF, Jürgen Heraeus, verlangt: „Wir müssen Kindern und Heranwachsenden besser zuhören und ihnen mehr Möglichkeiten zur Mitgestaltung eröffnen.“ 302 uj 7+8 | 2013 Familien heute Zuhören und mitgestalten können verlangt nach Zeiträumen dafür. Dass sich sowohl der siebte als auch der achte Familienbericht der Bundesregierung mit dem Thema „Zeit in Familien“ beschäftigen, belegt die Zeitnot in Familien, die neben der psychischen Sorge für die Kinder auch die Aufgabe der materiellen Existenzsicherung meistern müssen. Entsprechend ist die Problemzusammenfassung „Eltern unter Druck“ nicht nur der Titel einer sozialwissenschaftlichen Erhebung der Konrad-Adenauer- Stiftung, sondern auch einer resümierenden Betrachtung des erfahrenen Familienberaters Rüdiger Haar. Diese Beispiele verweisen trotz ihrer Unterschiedlichkeit auf Veränderungen im Leben von Familien, die durch einen deutlichen sozialen Wandel im 21. Jahrhundert ausgelöst wurden. Im Folgenden soll eine Möglichkeit vorgestellt werden, sozialen Wandel in seinen Wirkungen auf Familien strukturiert betrachten zu können. Dabei wird davon ausgegangen, dass - unabhängig von den jeweiligen Kulturen, den historischen Epochen und der jeweils typischen Familiengröße und Ausgestaltung der Beziehungen - Familien in vier verschiedenen Spannungsfeldern stehen, die sich gegenseitig beeinflussen. Gegenwärtig erleben wir eine Epoche, in der diese Spannungsfelder klar aus der Balance des Eingeübten früherer Generationen geraten sind. Im Einzelnen geht es um: ➤ Innen und Außen (oder privat und öffentlich): Familien müssen sich nach außen abgrenzen, damit sie ökonomische wie auch psychische Notwendigkeiten für die Familiengruppe und ihre Mitglieder umsetzen können. Solche familialen Freiräume sind auch wichtig, um einen Rahmen zu schaffen, in dem Intimität möglich ist und gesellschaftliche Normen nicht immer befolgt werden müssen. Jedoch hat das Außen, die Gesellschaft, auch die Aufgabe, darauf zu achten, dass in einer Familie nicht asoziale Verhältnisse (z. B. Gewalt) Raum greifen. Gleichzeitig müssen Familien angemessene Kontakte nach außen entwickeln, um ihre Aufgaben nach innen bewältigen zu können. Die Vermittlung und Umsetzung gesellschaftlicher, sozialer oder politischer Normen im Familienleben sind hier einzuordnen. ➤ Familien stehen in der Spannung von ökonomischen und psychischen Leistungen. Sie erwirtschaften im privaten Rahmen die Reproduktion und das Überleben ihrer Mitglieder. Dies kann im Zusammenhang eines (bäuerlichen) Familienbetriebes wie auch durch Erwerbsarbeit der mittleren Generation geschehen. Das Gebären und Erziehen von Kindern ist gleichzeitig als eine psychische Leistung zu verstehen, von der in einem größeren Rahmen die Gesellschaft wieder profitiert, denn gut sozialisierte Kinder werden in jeder Kultur fähige Mitglieder der Gemeinschaft und kompetente Arbeitskräfte. Auch hier wird die Spannung von Innen und Außen deutlich, denn Familien haben Funktionen für die umgebende Gesellschaft, weil in ihnen die nächste Generation heranwächst, die in die Gesellschaft hinein sozialisiert werden muss. Umgekehrt zeigt sich, dass Familien einen Rahmen benötigen, der sie unterstützt, diese Leistungen zu erbringen. ➤ In Familien wird im konkreten Umgang miteinander die Spannung zwischen den Generationen ausgehandelt, die auf einer psychischen Ebene mehr oder weniger gelingend aufgelöst wird. Dies wird durch Rat und Regeln sowie durch kulturell vermittelte Übergangsrituale gestützt. Hierhin gehören die ursprünglich fraglos der Familie zugeschriebenen Aufgaben der Erziehung und Bildung der nachfolgenden Generation, zu denen die Weitergabe und Aneignung von Orientierungswissen, Normen und Werten, Leit- und Weltbildern zählen. Eine besondere Herausforderung stellt die entsprechend der Lebensalter ständig neu auszutarierende Nähe, Distanz und auch Ablösung zwischen den Generationen dar. 303 uj 7+8 | 2013 Familien heute ➤ Das Zusammenleben der Geschlechter in Familien muss ebenfalls in einem Gleichgewicht gehalten werden. In fast allen Kulturen werden Frauen und Männern unterschiedliche Aufgaben zugewiesen, die sozial verschieden anerkannt werden. Hausarbeit wird in westlichen Kulturen als eher bedeutungslos angesehen, während sie in bäuerlichen Kulturen stärker wertgeschätzt wird. Deshalb sind die Beziehungen von Frauen und Männern zueinander von jeweils verschieden aufgeladenen emotionalen und instrumentellen Wertigkeiten und Einflussmöglichkeiten gekennzeichnet. Dies hat für das Zusammenleben in Familien die Folge, dass Geschlechter ein Beziehungsarrangement finden müssen, das ein gelingendes Leben in der Familie ermöglicht. Dabei können die religiösen und kulturellen Vorgaben, die von außen diese Bezogenheit aufeinander beeinflussen, hilfreich wie auch eingrenzend sein. Spannungsfelder, die von Familien heute bewältigt werden müssen Die Regulierung des Verhältnisses von Innen und Außen ist für Familien gegenwärtig eine besondere Herausforderung. Als Einwirkungen von außen müssen sich Familien mit Forderungen des Arbeitsmarktes nach flexibler Verfügbarkeit ihrer Arbeitskraft auseinandersetzen. Moderne Formen der Erwerbsarbeit sind sehr häufig nicht kompatibel mit dem, was einer Familie gut tut, nämlich insbesondere Zeit und Räume des Austausches, um Bedürfnisse von Erwachsenen und Kindern, Verwandten zu befriedigen. Dazu kommt, dass zwar Mütter zunehmend in Teilzeitarbeit in solche Erwerbsbedingungen eingebunden sind, umgekehrt jedoch Väter nicht ausreichend sozialpolitisch gestützt werden, sich stärker auf die Familie einlassen zu können. Sozialpolitisch hat sich das Verhältnis von Innen und Außen in Familien z. B. durch die Einführung des SGB II geändert. Mit der Leitlinie des Forderns und Förderns ist eine Androhung der sozialen Entkoppelung verbunden. Dies wirkt auf viele Menschen Angst auslösend. Zudem hat Erwerbsarbeit Vorrang vor der Erziehungstätigkeit der Eltern. Erwerbslosen Müttern werden Kinderbetreuungsplätze nachgewiesen, um sie „in Arbeit bringen zu können“. Eine Wahlfreiheit zwischen Erwerbstätigkeit und Familienarbeit, wie sie familienpolitisch in den 70er Jahren angestrebt wurde, wird im Kontext des SGB II nicht mehr gewährleistet und auch nicht angestrebt. Bildungspolitische Maßnahmen verstärken den äußeren, öffentlichen Einfluss auf Familien und verengen Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen des Familienlebens. Hier ist insbesondere der verkürzte Weg zum Abitur im Rahmen des „G 8“ zu nennen. Um Kinder unter Bedingungen einer immer im Hintergrund der sozialen Diskurse mitschwingenden Drohung des sozialen Abstieges zum Abitur zu bringen, ist die ganze Familie, besonders aber die Mutter gefordert. Die stark eingeschränkten Freiräume von Kindern durch das G 8 sind bereits vielfach diskutiert und als nicht förderlich beschrieben. Es lässt sich also hier beispielhaft sagen, dass sozialpolitische, bildungspolitische und arbeitsmarktstrukturelle Entwicklungen der letzten Jahre die äußeren Einflüsse auf das Familienleben im Innen deutlich verstärkt haben. Davon wurde auch das Verhältnis von psychischen und ökonomischen Leistungen in Familien stark berührt. Die Befürchtungen, sozial abzurutschen, verändern die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander: Eltern stehen unter Druck und machen ihren Kindern Druck, damit diese ihr Leben erfolgreich bestehen können. Alltagspraktisch führt dies zu Konflikten und ist eine Erklärung für das irritierende Ergebnis der neuesten UNICEF-Studie. Das Verhältnis von psychischen und ökonomischen Leistungen in Familien wird weiterhin von der gegenwärtigen Priorität alles Ökonomischen im Alltag geprägt. Der Denkstil von 304 uj 7+8 | 2013 Familien heute Effizienz, Zeitknappheit, Perfektion und Flexibilität wird von der Erwerbsarbeit auf alle Lebensbereiche, auch auf die privaten, übertragen. Betroffen sind ebenfalls die Vorstellungen von Eltern über die bio-physischen Entwicklungen von Kindern in Familien: Pädagogische Fachkräfte in der Familienbildung berichten immer wieder, dass Kinder von ihren Eltern viel zu früh dazu gebracht werden, sitzen und laufen zu sollen, oder dass übermäßig problematisiert wird, wenn Kinder in ihren Wachstumsprozessen nicht der Norm zu entsprechen scheinen. Die Abkehr vom Ideal der Ernährerfamilie verändert ebenfalls die Spannung von ökonomischen und psychischen Leistungen in Familien: Beide Geschlechter sollen beides erbringen. Faktisch geht damit eine Entwertung hauswirtschaftlicher Leistungen und des ganzen reproduktiven Bereiches einher, denn es wird davon ausgegangen, dass die Beteiligung von Frauen im Erwerbsarbeitsmarkt keine Lücken im privaten Haushalt hinterlässt. Hausarbeit und ihre Aufteilung zwischen den Familienmitgliedern wird nicht mehr wie früher diskutiert, stattdessen wird so getan, als gebe es sie nicht. Auch Pflegearbeit für die ältere Generation wird kaum in ihrer praktischen Dimension als organisatorische und psychische Herausforderung für diejenigen, die sie leisten, reflektiert. Damit aber wirkt sich der sozialpolitische Abschied von der Ernährerfamilie auf die Spannung im Geschlechterverhältnis aus. Keine Frau und kein Mann haben Vorbilder für Gestaltung eines Familienlebens, in dem beide gleichermaßen erwerbstätig sind und sich in der Familie engagieren. Obwohl der gesellschaftliche Diskurs dies inzwischen als Ideal postuliert, wird es sozialpolitisch kaum gestützt. Dies bedeutet, dass Mütter und Väter ein Geschlechterverhältnis neu erfinden müssen, während sie Familienleben gestalten und in die Elternrolle hineinwachsen. Aus sozialpädagogischer Perspektive wäre es unbedingt sinnvoll, hier Räume für Austausch und die Reflexion von Erfahrungen zur Verfügung zu stellen. Im Familienalltag sind alle beschriebenen Entwicklungen konfliktträchtig. Häufig, so ergab meine Befragung langjährig tätiger BeraterInnen in evangelischen Lebensberatungsstellen, entscheiden sich Eltern sehr schnell für eine Trennung. Die Bereitschaft, einen Konflikt durchzustehen, ist gering, weil der vorherrschende Denkstil eher von einem perfekten Zustand einer Beziehung ausgeht als von einer zu entwickelnden Situation relativen Glücks und schwankender Zufriedenheit. Die hohen Anforderungen an eine Gestaltung familialen Lebens in der Gegenwart setzen stabile Persönlichkeiten voraus. Wer da nicht über guten Selbstwert und Selbstsicherheit verfügt, kann schnell scheitern, so eine/ r der interviewten BeraterInnen. Was brauchen Mütter, Väter und Kinder? Einige resümierende Reflektionen Angesichts dieser Bestandsaufnahme, die von vielen anderen Veröffentlichungen aus verschiedenen Perspektiven belegt wird, ist es erstaunlich, dass die große Breite empirisch hervorragend belegter Forschungsergebnisse sozialpolitisch nicht oder nur begrenzt zur Kenntnis genommen wird. Eine Fülle bindungstheoretisch geleiteter empirischer Untersuchungen verweist auf die eminente Bedeutung guter, verlässlicher Bindungen für die gelingende psychische und geistige Entwicklung von Kindern. Eine authentische spiegelnde Kommunikation zwischen Eltern und Kindern ist die Basis für eine differenzierte kognitive Kompetenz bei Kindern. Zeit für diese Kommunikation, Zeit zum Spielen, zum Ausprobieren, für lehrreiche Irrwege, Zeit zum Vorlesen und Austausch zwischen Eltern und Kindern, Zeit, das Kind zu begleiten - all dies sind die besten Voraussetzungen für einen förderlichen Wachstumsprozess des Kindes. 305 uj 7+8 | 2013 Familien heute Und auch Mütter und Väter brauchen Zeit: für sich persönlich, für sich als Paar. Dies ist schon allein deshalb nötig, um aus dem alltäglichen Handlungsdruck ein Stück herauszukommen und wieder Handlungsspielräume zu entwickeln. Über solche Handlungsspielräume zu verfügen, ermöglicht Eigensinn, und dieser hilft, seelisch im Gleichgewicht zu sein, und unterstützt damit die Entfaltung von Kreativität und Problemlösungsfähigkeit sowohl im familialen Bereich als auch im Feld der Erwerbsarbeit. Das Innen der Familie muss wieder mehr Raum gegenüber dem Außen bekommen. Bessere Kalkulierbarkeit beruflicher Wege und die Einschränkung von Flexibilitätsanforderungen an die Arbeitskräfte sowie eine größere materielle Sicherheit wirken sich auf die psychische Sicherheit und das Wohlbefinden aus und damit auf die Fähigkeit der Eltern, Kinder in ihrem Entwicklungsprozess zu fördern. Eine nachhaltige Förderung der Bildung und Qualifikation von Kindern und Jugendlichen sollte also über eine familienorientierte Zeitpolitik hinausgehen: Es gehören ökonomische Sicherheit und Räume zur Reflexion von Erfahrungen mit sich verändernden Geschlechterrollen im sozialen Wandel dazu. Bindungstheoretisch geleitete empirische Untersuchungen haben noch ein weiteres wichtiges Ergebnis hervorgebracht: Menschen mit einer sicher-autonomen Bindungsrepräsentanz sind politisch in der Regel demokratisch orientiert, während unsicher-vermeidend und ambivalent gebundene Menschen eher zu (rechts-)extremen politischen Orientierungen neigen. Sozial- und bildungspolitisch ist also eine Evaluation und Revision bisheriger Maßnahmen wünschenswert. Sie würde sich nachhaltig positiv auf die Kompetenzen von Menschen auf dem Arbeitsmarkt und auf die demokratische Orientierung in unserer Gesellschaft auswirken. Prof. Dr. Cornelia Mansfeld Evangelische Hochschule Darmstadt Zweifalltorweg 12 64293 Darmstadt mansfeld@eh-darmstadt.de