eJournals unsere jugend 65/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2013
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Familie und Gender

71
2013
Christa Krüger
In den letzten 20 Jahren hat die strikte Trennung der Geschlechter in der Familie an Bedeutung verloren: Nicht mehr die fürsorgliche Vollzeitmutter und der erwerbstätige Wochenendvater gelten als Leitbild, sondern eine gleichberechtigte, moderne Elternschaft mit egalitären Verwirklichungschancen in Familie und Beruf. Wie aber sind die familiären Lasten heute verteilt, welche Probleme bestehen in der Arbeitsteilung der Paare, und welche Lösungsstrategien können zur Annäherung zwischen Leitbild und Wirklichkeit führen? Diese Fragen sollen im folgenden Beitrag diskutiert werden.
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324 unsere jugend, 65. Jg., S. 324 - 331 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art30d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Familie und Gender Modernisierungspfade im Geschlechterverhältnis In den letzten 20 Jahren hat die strikte Trennung der Geschlechter in der Familie an Bedeutung verloren: Nicht mehr die fürsorgliche Vollzeitmutter und der erwerbstätige Wochenendvater gelten als Leitbild, sondern eine gleichberechtigte, moderne Elternschaft mit egalitären Verwirklichungschancen in Familie und Beruf. Wie aber sind die familiären Lasten heute verteilt, welche Probleme bestehen in der Arbeitsteilung der Paare, und welche Lösungsstrategien können zur Annäherung zwischen Leitbild und Wirklichkeit führen? Diese Fragen sollen im folgenden Beitrag diskutiert werden. von Dr. Dorothea Christa Krüger Jg. 1950; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim Wandel in der Gleichstellungspolitik der Geschlechter Am 25. Januar 2011 wurde der Erste Gleichstellungsbericht an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend übergeben. Als Grundlage einer Gleichstellungspolitik für Frauen und Männer sind soziale, ökonomische, institutionelle und rechtliche Bedingungen in der Lebenslaufperspektive analysiert worden. Gleichstellungsfragen rückten so ins Zentrum der Familienpolitik und sollen der veränderten Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit Rechnung tragen. Vorrangig geht es in der Gleichstellungspolitik dabei um die Unterstützung neuer Lebensentwürfe von Frauen und Männern, Müttern und Vätern mit Fürsorgeverpflichtungen (Klammer/ Motz 2011, 13ff ). Aktuelle Ergebnisse des Meinungsforschungsinstitutes Forsa belegen zahlreiche Versäumnisse der deutschen Familienpolitik: Mangel an Betreuungsangeboten für Kinder, Fehlen konkreter familienpolitischer Ziele und Kritik am Betreuungsgeld, das ab August 2013 für Kinder unter drei Jahren an Eltern gezahlt wird, die keinen Kita-Platz in Anspruch nehmen (Süddeutsche Zeitung vom 10. 4. 2013, 6). Der Zwischenbericht einer bisher unveröffentlichten Studie des Familienministeriums bezeichnet Instrumente der Familienpolitik gar als teuer, wirkungslos oder sogar kontraproduktiv (Spiegel Online vom 3. 2. 2013: „Der 200-Milliarden- Irrtum“, Zugriff 19. 4. 13; Der Spiegel 6/ 2013, 22ff: „Das Sorgenkind. Deutschlands gescheiterte Familienpolitik“). Ziel der Studie ist es, eine Kosten-Nutzen-Analyse der Förderinstrumente im Familienressort zu erstellen und lang- 325 uj 7+8 | 2013 Familien heute fristige Folgen der Instrumente und deren Wechselwirkungen mit dem Steuer- und Sozialsystem zu berücksichtigen. Am besten schneiden dabei Investitionen in Betreuungsplätze ab. 48 % der staatlichen Ausgaben im Krippen- und Kindergartenbereich fließen demnach an den Staat zurück. Dagegen erweist sich das Kindergeld als „wenig effektiv“, das Ehegattensplitting als „ziemlich unwirksam“. Die beitragsfreie Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung nennen die GutachterInnen sogar „besonders unwirksam“. Ziel des Ersten Gleichstellungsberichtes ist es dagegen, neue Wege in der Gleichstellungs- und Familienpolitik aufzuzeigen und langfristige Folgen von Entscheidungen einzelner Lebensabschnitte zu verdeutlichen. Familien sollen in ihren unterschiedlichen Lebensformen unterstützt werden. Die Sachverständigenkommission plädiert dabei für flexible und der Familienlebensphase angepasste (institutionelle) Unterstützung, um das Ungleichgewicht von „Zeitnot“ zu mindern, Benachteiligungen von Frauen in Teilzeitarbeit zu vermeiden und die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern. Wie aber gestaltet sich der Alltag von Familien heute, welche geschlechtlichen Arbeitsteilungen lassen sich beobachten? Arbeitsteilungsmuster in „modernen“ Familien Aktuelle Studien zeigen, dass weder die Verbesserungen der Bildungs- und Erwerbsnoch der Karrierechancen von Frauen in den letzten Jahrzehnten zu einem Abbau der geschlechtstypischen Arbeitsteilung in der Familie führten (Schulz-Blossfeld 2010; BMFSFJ 2011). So dominieren vielmehr Traditionalisierungsprozesse nach der Geburt des ersten Kindes. Angela Häußler und Uta Meier-Gräwe (2012) haben im Rahmen des Projektes „Familiale Ernährungsversorgung“ unterschiedliche soziale Milieus untersucht und deutliche Differenzen identifiziert. Gemeinsam ist allen Frauen, unabhängig von Bildungs- und Berufsgruppe, dass sie für die Ernährungsverantwortung zuständig sind, Aushandlungsstrategien, Begründungs- und Deutungsmuster sich aber hinsichtlich der Versorgungsrolle unterscheiden. Praktizierte Arbeitsteilungsmuster werden vor dem Hintergrund der jeweiligen Rollenkonzepte wahrgenommen und gedeutet. Interessanterweise können die Muster im traditionalen Milieu egalitärer sein als wahrgenommen, während im familialen und individualistischen Milieu die Arbeitsteilung egalitärer wahrgenommen wird, als sie faktisch ist. Vor allem im familialen Milieu hat die Wirkmächtigkeit des Leitbildes eines gemeinsamen Mittagessens oft negative Folgen für die berufliche Orientierung, während im individualistischen Milieu die hohe berufliche Einbindung der Männer keine partnerschaftliche Arbeitsteilung zulässt. Eine weitere Studie zu modernen Geschlechterarrangements stellt die Umkehrung der traditionellen Arbeitsteilung in den Mittelpunkt: die Familienernährerinnen in Ostdeutschland (Klenner/ Menke/ Pfahl 2012). Dennoch sind sie nicht als Pendant zu männlichen Familienernährern mit umgekehrten Vorzeichen zu betrachten, da es sich größtenteils um fragile und schwierige Arrangements handelt; die ungewollt aufgrund einer Erwerbslosigkeit des Mannes, seinen geringen Einkünften oder einer Trennung/ Scheidung ausgeübt werden. Hauptsächlich in Dienstleistungsberufen tätig, sind sie in der Regel im Mehrschichtsystem mit hohen physischen und psychischen Anforderungen beschäftigt, verdienen im Vergleich zu vielen männlichen Berufen mit mittlerem Qualifikationsniveau deutlich weniger und können die Fürsorgearbeit nur sehr selten an ihre Ehemänner abgeben. Sie sind demnach in besonderer Weise konfligierenden Anforderungsprofilen zwischen Beruf und familialer Lebenswelt ausgesetzt, eine Entlastung der „zweiten Schicht“ zu Hause erfolgt, wenn überhaupt, durch andere Frauen wie Großmütter, Haushaltshilfen oder Tagesmütter. Die Männer bleiben, auch bei Nicht-Erwerbstä- 326 uj 7+8 | 2013 Familien heute tigkeit, am Selbstbild einer beruflichen Karriere orientiert, bieten ihren Partnerinnen kaum Entlastung an und kommen aufgrund gesellschaftlicher Rollenbilder in Legitimationsnöte. Unabhängig davon, ob berufliche Qualifikationsprofile, Rollenumkehrungen der Geschlechter oder Milieudifferenzen erhoben werden: die Ergebnisse zu familiärer Arbeitsteilung zeigen auch in aktuellen Untersuchungen eine unerwartet gleichförmige Zuständigkeit der Frauen und Mütter für Familie und Haushalt. Wie kann diese nach wie vor zählebige Geschlechterungleichheit erklärt werden? Individualisierte und egalisierte Geschlechterordnung Die Herauslösung aus traditionalen Versorgungszusammenhängen (Vollzeithausfrau und erwerbstätiger Ernährer) verweist zum einen auf die Hoffnung auf Überwindung der Geschlechtergrenzen, zugleich belegen empirische Studien die kaum gebrochene Wirksamkeit traditioneller Geschlechterhierarchien. D. h. die Diskussion der Individualisierung thematisiert die Ambivalenz von Chancen und Risiken im Geschlechterverhältnis. Theorien der Modernisierung und Individualisierung betreffen zunächst beide Geschlechter gleichermaßen: den Wandel von normierten Lebensphasen (z. B. bei der Einmündung in das Erwerbssystem oder der Familiengründung) und die Übergänge zwischen diesen Phasen (vom Single-Dasein zur Partnerschaft, vom Paar zur Elternschaft) (Beck-Gernsheim 1989; Beck 1986). Im Spannungsfeld von individueller Lebensplanung und institutionellen Vorgaben kommen demnach entscheidende Weichenstellungen für Reproduktion oder Transformation von Geschlechterordnungen zustande. Individualisierung bedeutet für jede Einzelne, jeden Einzelnen, eigene Lebensentscheidungen zu verantworten. Bezogen auf die Hausarbeit wird eine faktisch sehr ungleiche Verteilung als Ausdruck individueller Vorlieben und Bedürfnisse erklärt und durch das Etikett „individuell“ grundsätzlich legitimiert. So erscheinen stereotype Rollenverteilungen nicht mehr hinterfragbar, und der Bruch zwischen Idealen der Individualisierung und den Paar-Aushandlungsprozessen entzieht sich dem reflexiven Zugriff. Institutionell produzierte Sachzwänge (z. B. Mangel an Kinderkrippenplätzen und Teilzeitarbeitsplätzen) verlagern sich in die Individuen hinein (vgl. Koppetsch/ Burkart 1999). Wetterer (2002) spricht in diesem Zusammenhang von „rhetorischer Modernisierung“ aufgrund der De-Thematisierung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. So geraten Frauen trotz mittlerweile besserer Schulabschlüsse nach wie vor ins Hintertreffen; sei es, weil sie sogenannte „Sackgassenberufe“ ohne Aufstiegschancen wählen, die aber im Hinblick auf bessere Vereinbarkeitsmöglichkeiten von Familie und Beruf geeigneter erscheinen, oder Berufe mit schlechterer Bezahlung in frauendominierten Arbeitsmarktsegmenten. Zur Erklärung des Berufswahlverhaltens dient ein in höchstem Maße individualisierendes Muster: Junge Frauen würden ein kurzsichtiges Berufswahlverhalten an den Tag legen, das unter Verdienst- und Karriereaspekten ungünstig sei. Trotz Widersprüchen und Ambivalenzen zwischen dem sozialen Wandel und der gewünschten/ geforderten Selbstbestimmung von Mädchen und jungen Frauen bleibt der Vorsprung der jüngeren Frauengeneration gegenüber der älteren. In der Regel können sie höhere Schul- und Studienabschlüsse sowie qualifiziertere berufliche Biografien vorweisen. Sandra Glammeier (2012) beschreibt die - vor diesem Hintergrund - einseitige Modernisierung von jungen Frauen, die beruflich erfolgreich, durchsetzungsfähig, unabhängig und „tough“ sind, sich aber in privaten Beziehungen nicht aus gewaltförmigen Verhältnissen lösen. In ihrer qualitativen Studie zeigt Glammeier auf, dass Frauen heute Subjektpositionen überneh- 327 uj 7+8 | 2013 Familien heute men, die sich zwischen Selbst- und Fremdbestimmung und zwischen Handlungsmacht und Machtlosigkeit bewegen. Missachtung und Gewalt stellen dabei einen zentralen vergeschlechtlichten Vergesellschaftungsmodus dar, welcher der Selbstbestimmung zuwider läuft. Die Scham gewaltbetroffener Frauen, in herabsetzender Weise behandelt worden zu sein, hängt zum einen mit der Zuschreibung der Verantwortung für die Gewalt zusammen, zum anderen mit der Perspektive auf Gewalt als Ergebnis des eigenen, nicht ausreichenden Handelns. Gewalt liegt somit außerhalb des denkbaren Horizontes, denn eine toughe Frau sollte erfolgreich eine Beziehung führen, sich von Problemen nicht„umhauen“ lassen und alles im Griff haben. Die weibliche Zuständigkeit für die private Beziehungsqualität verschärft den Konflikt ungleicher Geschlechterverhältnisse, in dem die Frau in eine Warteposition hinsichtlich der Aufmerksamkeit ihres Partners gerät und die Entscheidungsmacht über gemeinsame Unternehmungen bei ihrem Partner liegt. Das Konzept der toughen Powerfrau hilft ihr hier nicht weiter. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Freisetzung des Individuums aus Traditionen wird quasi geschlechtslos verhandelt. Die Geschlechterordnung wird dadurch schwerer durchschaubar. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit einer Abnahme oder gar Irrelevanz der Bedeutung von Gender, im Gegenteil! Ausgeblendet bleiben in der Debatte geschlechtsspezifische Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, ihr Konfliktpotenzial für Paarbeziehungen sowie Mutterschafts- und Vaterschaftsdiskurse. Traditionelle Mütterlichkeit und modernisierte Väterlichkeit? Seit der Jahrtausendwende gibt es einen neuen Fokus auf Modernisierungsprozesse von Elternschaft. Während verstärkt von einer„neuen Vätergeneration“ die Rede ist, die engagiert ihren Beitrag zur Familiengestaltung wahrnimmt, bleibt die Mutterrolle in (West-)Deutschland in dem Normenkonflikt„Kinder oder Karriere“ gefangen (Vinken 2011). Mutterbilder werden mit Vorstellungen wie Opferbereitschaft, Empathie und Selbstaufgabe assoziiert. Dennoch nehmen Wandlungsprozesse in der außerhäuslichen Betreuung von Kleinkindern Gestalt an: Institutionelle Angebote für Unter-Dreijährige stellen nicht - wie noch in den 1980er Jahren - eine „Gefährdungsbetreuung“ dar (Nave-Herz 1992). Dennoch sitzen junge Mütter, die ihre Familienphase ausschließlich mit privater Mutterschaft und Nicht-Erwerbstätigkeit verbinden, einer Illusion der Gleichberechtigung auf, wenn sie als Voraussetzung für die Akzeptanz ihrer Hausfrauen- und Mutterrolle eine gleichwertige gesellschaftliche Anerkennung, wie sie der erwerbstätige Vater erhält, fordern (Oechsle/ Geissler 1998). Thiessen und Villa (2008) beurteilen die Modernisierung der Mutterschaft positiver. Gesicherte ökonomische Verhältnisse und eine gute berufliche Qualifikation gelten ihrer Meinung nach als Indikatoren für eine erfolgreiche Modernisierung der Mutterschaft. Mittelschicht-Mütter haben die Chance, sich von Familienüberforderungen durch Au-Pairs und Haushaltshilfen zu entlasten. Die Autorinnen sehen traditionelle Mutterschaft vielmehr als ein Schichtproblem, das zu sozialen Ungleichheiten unter den Müttern führt, sodass geringe berufliche Qualifikation eine doppelte Marginalisierung als Mutter und Arbeitskraft bedeutet. Forschungen zu modernisierter Vaterschaft stellen Ambivalenzen von typifizierten Erwartungen und faktischem Verhalten fest, die eine fehlende Selbstverständlichkeit der „neuen Vätergeneration“ signalisieren. „Modernisierte“ Väter weisen ein Spannungsverhältnis zwischen sowohl alter Ernährerrolle und väterli- 328 uj 7+8 | 2013 Familien heute chem Engagement als auch zwischen Fürsorglichkeit und Männlichkeitsvorstellungen auf (vgl. Krüger 2013). Eine aktuelle Studie, die sich kritisch mit dem bürgerlich-patriarchalen Vaterbild und dem Wandel des Vater-Leitbildes auseinandersetzt, stellt die Orientierungen, die ein egalitäres Vaterschaftsverhältnis erschweren, in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen (Bambey/ Gumbinger 2008). Die unterschiedlichen Vatertypen belegen mehrheitlich, dass Ausgestaltungsformen von Vaterschaft (egalitär, fassadenhaft, traditionell-distanziert, randständig, unsichergereizt, partnerschaftlich-traditionell) weder allein auf Re-Traditionalisierungseffekte noch rein ökonomische Zwänge zurückgeführt werden können, sondern dass vielmehr tief verankerte Aspekte weiblicher Geschlechtsrollenidentität und/ oder sozialisationsbedingte Prägungen in der Herkunftsfamilie wirksam sind und dem höheren Engagement des Vaters entgegenstehen. Erklärungen für Be- und Verhinderungen egalitärer Aufgabenteilung in der Familie sind dementsprechend nicht ausschließlich in der Ambivalenz männlicher Identität zu suchen, sondern auch auf der Basis der Paarkonstellation und Sozialisationserfahrungen. Grundsätzlich entpuppen sich Geschlechterdifferenzen nach wie vor als handlungsleitend, wenn auch eine Familienbiografie nicht zwangsläufig als Verweisungszusammenhang von Verliebtsein, Heiraten, Zusammenleben und eine Familie Gründen mehr existiert, sondern sich eine spannungsreiche Relation zwischen enttraditionalisierten Konturen einerseits und traditionalisierten Elementen und Mustern andererseits abzeichnen. Anke Kerschkens nimmt genau diese Widersprüchlichkeit der modernisierten elterlichen Arbeitsteilung in ihren Fallrekonstruktionen in den Blick, wenn sie resümiert, „… dass Modernisierung auf Ebene der Deutungsmuster nicht im Sinne einer Ablösung alter Muster durch neue Muster erfolgt, sondern dass diese im Diskurs der Familien gleichzeitigt nebeneinander existieren und nachweisbar in Wechselwirkung zueinander treten“ (2009, 237). Demnach lösen sich Geschlechterpolaritäten nicht „wie von selbst“ auf, vielmehr weisen sie Brüche, Inkonsistenzen und innerliche individuelle Bearbeitungsprozesse auf, die weder notwendigerweise eindeutig sind noch einen gemeinsamen familialen Entwurf darstellen müssen. Und genau das macht die Herstellung von Familie (doing family) im Sinne einer gleichberechtigten Partnerschaft so schwer. Familie und Gleichstellung der Geschlechter: ein paar zukunftsweisende Gedanken Anknüpfend an den Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung sollen einige relevante Maßnahmen zu gleichen Verwirklichungschancen der Geschlechter in der Familie dargestellt werden. Anspruch der Sachverständigenkommission des Gleichstellungsberichtes ist es, dass Individuen nicht nur formale, sondern auch tatsächliche Wahlmöglichkeiten haben. Sichergestellt werden soll, dass die notwendigen individuellen Ressourcen sowie die erforderlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Anerkennungsstrukturen geschaffen werden. Für die Neuausrichtung von Zukunftsfeldern der Gleichstellungspolitik hat die Kommission ein Leitbild erarbeitet, an dem sich Institutionen langfristig orientieren sollten. Dieses Leitbild berücksichtigt die Pluralität von Lebensformen und unterschiedliche Präferenzen in den Familienphasen. Grundsätzlich gefördert werden soll die Befähigung, für den eigenen Lebensunterhalt selbst zu sorgen und eine eigene soziale Sicherung aufzubauen (Klammer/ Motz 2011, 16). 329 uj 7+8 | 2013 Familien heute Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf soll sowohl durch eine angemessene Infrastruktur der Kinderbetreuung, schulische Erziehung und Pflege sowie flexible Arbeitszeiten in den Unternehmungen gewährleistet werden. Konkret sollen Veränderungen in den Bereichen „Rollenbilder und Recht“, „Bildung“, „Erwerbsleben“, „Zeitverwendung“ sowie „Alter und Bilanzierung des Lebensverlaufs“ Berücksichtigung finden. Wesentlich erscheint dabei, dass einerseits lebenslaufbezogene Politikansätze, vergleichbar mit den Niederlanden und Belgien, einbezogen werden, andererseits der Ausbau von Dienstleistungen infrastrukturell vorangetrieben wird. So sind Interventionen und Anreize in den unterschiedlichen Lebensphasen aufeinander abzustimmen, sodass sie sich wechselseitig verstärken und nicht zu einer weiteren Individualisierung von Risiken führen. Im Bereich„Rollenbilder und Recht“ schlägt die Kommission vor, die Rollenbilder zu modernisieren und Recht am Leitbild der Gleichberechtigung konsistent zu entwickeln. „Arbeits-, Sozial- und Einkommenssteuerrecht sind am Erwerbsmodell auszurichten, das gleiche Teilhabe von Frauen und Männern am Erwerbsleben verwirklicht. Das Erfordernis der Haus- und Sorgearbeit ist im weiblichen wie auch im männlichen Erwerbsverlauf zu berücksichtigen“ (ebenda, 31). So sind im Recht der elterlichen Sorge die Potenziale nichtehelicher Väter für eine gemeinsame elterliche Sorge zu stärken. Da Regelungen des Sozial- und Einkommenssteuerrechts ein asymmetrisches Rollenmodell begünstigen, bedürfen sie einer grundsätzlichen Reform. Beitragsfreie Ehegattenmitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung sollte durch eine eigenständige soziale Sicherung ersetzt werden, wobei für Phasen der Sorgearbeit die Gemeinschaft einzustehen hätte, z. B. analog zu den Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung. Bei der Ehegattenbesteuerung schlägt die Kommission vor, auf den in Europa weit verbreiteten Modus der Individualbesteuerung umzustellen. Zum Bereich „Bildung“ ist das Ziel, Abwärtsspiralen zu verhindern sowie Frauen und Männern in gleichem Maß Wahlmöglichkeiten aus dem Spektrum der Bildung zu eröffnen. Für die Familienphase sollten Förderprogramme zur Umsetzung des rechtlich verankerten Anspruchs auf Teilzeitausbildung entwickelt werden, die Mütter in Berufsausbildung, niedrig qualifizierte Mütter mit Migrationshintergrund und Mütter im Hochschulstudium unterstützen. Um Voraussetzungen für gleiche Teilhabechancen von Frauen und Männern im Bereich „Erwerbsleben“ zu ermöglichen, ist es nach Meinung der Kommission notwendig, Fehlanreize (wie lange Erwerbsunterbrechungen und nicht nachhaltige Minijobs) zu beseitigen und Entgeltgleichheit sowie Aufstiegschancen zu schaffen. Konkret sollte der Anteil von Frauen in Führungspositionen erhöht werden, und die Betreuungsangebote für Kinder müssten eine größere Flexibilität, gemäß den Arbeitsanforderungen der Mütter und Väter, aufweisen. Hinsichtlich der Maßnahmen in Unternehmen sind Weiterbildungsangebote während der Eltern- und Pflegezeit für den Wiedereinstieg oft unabdingbar.„Auch sollten in den Unternehmen auf allen Hierarchieebenen Schulungen zur Reflexion und Veränderung des Rollenverständnisses von Frauen und Männern angeboten werden, um so zu einem dem 21. Jahrhundert angepassten Frauen-, Männer- und Familienbild beizutragen“ (ebenda, 37). Der Bereich „Zeitverwendung“ soll Flexibilität ermöglichen und unterschiedliche Formen von Arbeit stärken. Beide Geschlechter sollen neben der Erwerbsarbeit andere gesellschaftlich notwendige Formen von Arbeit (Sorgearbeit, Hausarbeit, freiwilliges Engagement, Nachbarschaftshilfe) entlang ihres Lebenslaufs und in ihren Alltag integrieren. So sollten die Tarifpartner und die Unternehmen familienfreundliche „Arbeitszeitoptionsmodelle“ entwickeln, die den Bedürfnissen der Beschäftigten und den Besonderheiten der Betriebe Rechnung tragen. Dazu gehört auch die Stärkung der Geschlech- 330 uj 7+8 | 2013 Familien heute ter, sich gegenüber zeitliche Zumutungen der Arbeitswelt zu stellen, die sich nicht mit den Erfordernissen von Fürsorgeaufgaben in bestimmten Familienphasen sowie mit der Fähigkeit zur Entwicklung von Aushandlungsstrategien mit relevanten Akteuren (LebenspartnerIn, Arbeitgeber, Kita, Schule, Behörden etc.) vereinbaren lassen. Im Bereich„Alter und Bilanzierung des Lebensverlaufs“ soll Pflegearbeit besser honoriert und Alterssicherung „armutsfest“ gemacht werden. Aufgrund der vielfältigeren Lebensformen und -entwürfe könnte auf ältere Frauen und Männer das Problem zukommen, über keine ausreichende partnerschaftliche oder familiäre Unterstützung zu verfügen und damit stärker auf eine eigenständige finanzielle Absicherung angewiesen zu sein. So dürfte eine bessere Anrechnung von Pflegezeiten auf die Rentenansprüche im demografischen Wandel dringend geboten sein. Die Beendigung der Förderung geringfügiger Beschäftigung sowie eine Stützung ertragsschwacher Erwerbsformen durch Mindestlöhne erscheint der Kommission als ein zentraler Ansatzpunkt zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung im Alter. Wenn man diese Vorschläge, die der Erste Gleichstellungsbericht enthält, resümiert, ist festzustellen, dass nicht nur geschlechterspezifische Diskriminierung abgebaut werden soll, sondern generell ein Umdenken in der Arbeitswelt, der Unternehmenskultur und der Mütter und Väter gefordert wird. Gleichstellungspolitik soll den Individuen Raum und Anerkennung geben für gesellschaftlich notwendige unbezahlte Sorgearbeit, Bildungsphasen und Eigenzeit. Um von der gegenwärtigen Nicht-Gleichstellung zu zukunftsweisenden Modernisierungspfaden zu gelangen, bedarf es neben neuer rechtlicher und institutioneller Rahmung auch der Unterstützung unterschiedlicher Lebensentwürfe von Frauen und Männern, Müttern und Vätern, damit die Diskrepanz zwischen Gleichheit der Geschlechter in der Theorie und Ungleichheit in der Praxis verschwindet. Dr. Dorothea Christa Krüger Universität Hildesheim Institut für Sozialwissenschaften Marienburger Platz 22 31141 Hildesheim Literatur Bambey, A./ Gumbinger, H.-W, 2008: Wandel des Leitbildes oder Wandel väterlicher Praxis? In: Brunner, J. (Hrsg.): Mütterliche Macht und väterliche Autorität. Elternbilder im deutschen Diskurs. Göttingen, S. 309 - 324 Beck-Gernsheim, E., 1989: Mutterwerden - der Sprung in ein anderes Leben. Frankfurt/ Main Beck., U., 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/ Main Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.), 2011: Erster Gleichstellungsbericht. Neue Wege, gleiche Chancen - Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Berlin Glammeier, S., 2012: „Sonst eine ganz toughe Frau.“ Erwartete und verhinderte Selbstbestimmung von Frauen - Paradoxien im Kontext von Geschlechterkonstruktionen im Modernisierungsprozess. In: Moser, V./ Rendtorff, B. (Hrsg.): Riskante Leben? Geschlechterordnungen in der Reflexiven Moderne. Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft. Opladen, S. 107 - 116 Häusler, A./ Meier-Gräwe, U., 2012: Arbeitsteilungsmuster bei der Ernährungsversorgung von Familien - Persistenz oder Wandel? In: GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, H. 2, S. 9 - 27 Kerschkens, A., 2009: Die widersprüchliche Modernisierung der elterlichen Arbeitsteilung. Alltagspraxis, 331 uj 7+8 | 2013 Familien heute Deutungsmuster und Familienkonstellation in Familien mit Kleinkindern. Wiesbaden Klammer, U./ Bosch, G./ Helfferich, C./ Meier-Gräwe, U./ Nolte, P./ Schuler-Harms, M./ Stangel-Meseke, M., 2011: Neue Wege - gleiche Chancen. Kurzfassung des Sachverständigengutachtens zum Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. In: Klammer, U. (Hrsg.): Neue Wege - gleiche Chancen. Expertisen zum Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Wiesbaden, S. 13 - 43 Klenner, C./ Menke, K./ Pfahl, S., 2012: Flexible Familienernährerinnen. Moderne Geschlechterarrangements oder prekäre Konstellationen? Opladen Koppetsch, C./ Burkart, G., 1999: Die Illusion der Emanzipation. Zur Wirksamkeit latenter Geschlechtsnormen im Milieuvergleich. Konstanz Krüger, D. C., 2013: Gleichstellung in der Differenz oder Differenz in der Gleichstellung? Zum Verhältnis der Geschlechter in Partnerschaft und Familie seit der Nachkriegszeit. In: Krüger, D. C./ Herma, H./ Schierbaum, A. (Hrsg.): Familie(n) heute. Entwicklungen, Kontroversen, Prognosen. Weinheim/ Basel, S. 71 - 101 Nave-Herz, R., 1992: Frauen zwischen Tradition und Moderne. Bielefeld Oechsle, M./ Geissler, B. (Hrsg.), 1998: Die ungleiche Gleichheit. Junge Frauen und der Wandel im Geschlechterverhältnis. Opladen Schulz, F./ Blossfeld, H. P., 2010: Hausarbeit im Eheverlauf. Ergebnisse einer Längsschnittanalyse. In: Böllert, K./ Oelkers, N. (Hrsg.): Frauenpolitik in Familienhand? Neue Verhältnisse in Konkurrenz, Autonomie oder Kooperation. Wiesbaden, S. 111 - 128 Thiessen, B./ Villa, P.-I., 2008: Die „Deutsche Mutter“ - ein Auslaufmodell? Überlegungen zu den Codierungen von Mutterschaft als Sozial- und Geschlechterpolitik. In: Brunner, J. (Hrsg.): Mütterliche Macht und väterliche Autorität. Elternbilder im deutschen Diskurs. Göttingen, S. 277 - 292 Vinken, B., 2011: Erkenne Dich selbst: Frauen - Mütter - Emanzipation. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament: Frauen und Europa, S. 38 - 43 Wetterer, A., 2002: Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktion: „Gender at Work“ in theoretischer und historischer Perspektive. Konstanz