unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2013
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Geschlossene Unterbringung für Kinder
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Carsten Bösing
Geschlossene Unterbringung gilt manchen als Ausdruck pädagogischer Hilflosigkeit. Die Kinder- und Jugendhilfe betrachtet Freiheitsentziehende Maßnahmen als notwendiges Übel zur Durchführung intensivpädagogischer Begleitung. Für einige Jugendliche aber bedeutet Geschlossene Unterbringung mehr: Die Beschränkung ihrer individuellen Bewegungsfreiheit wird für sie zum therapeutischen Wirkfaktor.
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332 unsere jugend, 65. Jg., S. 332 - 342 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art31d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Geschlossene Unterbringung für Kinder WeitereTraumatisierung odertherapeutische Chance? Erfahrungen in zweieinhalb Jahren therapeutischer Arbeit in einer geschlossenen Wohngruppe Geschlossene Unterbringung gilt manchen als Ausdruck pädagogischer Hilflosigkeit. Die Kinder- und Jugendhilfe betrachtet Freiheitsentziehende Maßnahmen als notwendiges Übel zur Durchführung intensivpädagogischer Begleitung. Für einige Jugendliche aber bedeutet Geschlossene Unterbringung mehr: Die Beschränkung ihrer individuellen Bewegungsfreiheit wird für sie zum therapeutischen Wirkfaktor. von Carsten Bösing Jg. 1959; Dipl.-Psychologe und Psychotherapeut einer Jugendeinrichtung des Caritas-Sozialwerk St. Elisabeth Mein Hauptaufgabenbereich umfasst die Betreuung von sieben männlichen Kindern und Jugendlichen im Alter von 10 bis 14 Jahren, die in einer geschlossenen intensivtherapeutischen Wohngruppe (GITW) untergebracht sind. Als sogenannte Intensivtäter sind sie bereits vor Einsetzen der Strafmündigkeit regelmäßig straffällig geworden oder konnten aufgrund ihrer emotionalen und sozialen Verhaltensschwierigkeiten in offenen Jugendhilfeeinrichtungen nicht mehr betreut werden. Die Kinder besuchen zu dritt bzw. viert die innerhalb des Wohntrakts gelegenen Förderschulklassen für emotionale und soziale Entwicklung. Mit der Förderschule in der nahegelegenen Kreisstadt gibt es eine entsprechende Kooperationsvereinbarung. Darüber hinaus können die Jungen Projekte der beruflichen Integration nutzen, die unser Träger auf dem Gelände der Einrichtung vorhält. Für die sieben Bewohner stehen zehn Betreuungskräfte, drei Lehrkräfte (Sonderpädagoge, Lehrerin für Grund- und Hauptschule, sozialpädagogische Unterrichtsbegleitkraft), eine Hauswirtschaftskraft (Teilzeit), ein Kinder- und Jugendpsychiater (Konsil), Nachtbereitschaften (Honorar) und der Psychologe (Teilzeit) zur Verfügung. Für jeden Jungen sind zwei BezugsbetreuerInnen für die Erziehungsplanung und organisatorischen Fragen verantwortlich. Die Betreuung der Kinder wird im Rahmen eines therapeutischen Milieus in sechs aufeinan- 333 uj 7+8 | 2013 Geschlossene Unterbringung der aufbauenden Phasen (Stufen) gestaltet. Eine überschaubare räumliche Gestaltung, ein geregelter Tagesablauf und transparente erzieherische Interventionen schaffen ein Umfeld, in dem intensive und verlässliche pädagogische Begegnungen die Entwicklung und Entfaltung von Leistungs- und Persönlichkeitsressourcen ermöglichen. Politische Dimensionen Die Wohngruppe ist die einzige geschlossene Heimeinrichtung in Niedersachsen und wurde als solche von der niedersächsischen Landesregierung im Jahre 2009 ausgeschrieben. Ursprüngliches Ziel war es, im Kontext der Debatte um Jugendgewalt ein sicherheitspolitisches Zeichen zu setzen. Diese politische Zielrichtung entsprang aber durchaus keiner unreflektierten Law-and-Order-Motivation. Vielmehr sollte von Anfang an ein pädagogischer und sozialisierender Auftrag an erster Stelle stehen. Aufgrund seiner zu dieser Intention passenden Konzeption und seiner jahrelangen Erfahrung in der Kombination von stationärer Jugendhilfe und Berufsintegration wurde unserem Trägerverein, der Stiftung Caritas-Sozialwerk St. Elisabeth, die Umsetzung angetragen. Natürlich steht die Einrichtung seit ihrer Gründung im Fokus der Öffentlichkeit. In einer 25.000-Enwohner-Stadt in einer katholisch geprägten ländlichen Gegend wurden in Bezug auf die Klientel sowohl bürgerliche Angstals auch religiös motivierte Mitleidsreflexe erwartet. Es zeigte sich aber bald, dass die intensive vorbereitende und begleitende Arbeit in einem fachlich-politischen Netzwerk („Runder Tisch“) Ängste in der Bevölkerung besänftigen und mögliche Vorurteile abzubauen half. Auch die Resonanz in den örtlichen und regionalen Medien ist nach anfänglicher Skepsis und vereinzelter Kritik an Lücken im Sicherheitssystem während der Aufbauphase der Gruppe inzwischen neutral bis positiv. Die regionalen Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe zeigten sich im ersten Jahr des Bestehens zunächst zurückhaltend; belegt wurde die Einrichtung zuerst von Jugendämtern aus angrenzenden Bundesländern. Diese Zurückhaltung korrespondierte mit der politischen Auseinandersetzung über den Sinn geschlossener Einrichtungen im Allgemeinen und unserer Gruppe im Besonderen im niedersächsischen Landtag. Inzwischen kommen die Bewohner zunehmend aus der Region, was die unterstützende Familienarbeit vereinfacht. Die fachliche Debatte wurde von der Gründung der neuen Einrichtung dagegen kaum berührt, dabei gibt es auch unter Fachleuten BefürworterInnen und GegnerInnen geschlossener Heime. Möglicherweise hat die große Untersuchung von Hanna Permien (2010) vom Deutschen Jugendinstitut in München inzwischen zu einer differenzierteren Betrachtungsweise der Voraussetzungen gelingender respektive misslingender Jugendhilfeverläufe bei und nach geschlossener Unterbringung geführt. Rechtliche Aspekte Mit einer freiheitsentziehenden Jugendhilfemaßnahme werden immer auch die in der UN-Kinderrechtskonvention (Übereinkommen über die Rechte des Kindes, 1989) beschriebenen Maßgaben berührt und z. T. spürbar eingeschränkt, z. B. das Recht des Kindes zum persönlichen Umgang mit den Eltern (Artikel 9), die Meinungs- und Informationsfreiheit (Artikel 13), die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Artikel 15), der Schutz der Privatsphäre (Artikel 16) sowie der Zugang zu den Medien (Artikel 17). Es bedarf also überzeugender sozialer, psychologischer und juristischer Gründe, um diese massiven Eingriffe zu rechtfertigen. Eine 334 uj 7+8 | 2013 Geschlossene Unterbringung freiheitsentziehende Maßnahme für Kinder und Jugendliche sollte also gleichbzw. höherwertige Kinderrechte sichern. Dazu gehören das Recht auf Leben (Artikel 6), der Schutz vor Misshandlung und Verwahrlosung (Artikel 19), das Recht auf Gesundheitsvorsorge (Artikel 24), auf angemessene Lebensbedingungen (Artikel 27), Schule und Berufsausbildung (Artikel 28), die Beteiligung an Freizeit, kulturellem und künstlerischem Leben (Artikel 31), der Schutz vor Suchtstoffen (Artikel 33) und sexuellem Missbrauch (Artikel 34) und schließlich das Recht auf Wiedereingliederung (Artikel 39). Deshalb muss die Aufnahme in eine geschlossene Einrichtung von einem Familiengericht genehmigt werden. Ein Beschluss muss eine zeitliche Begrenzung beinhalten, die in der Regel bei einem Jahr liegt, aber bei Bedarf verlängert werden kann. Außerdem sind Informationsrechte und Verfahrensvorschriften zu beachten. Zu Letzteren gehören die Bestellung eines Verfahrensbeistandes, der die Rechte des Kindes im Gerichtsverfahren vertritt, und die Einholung eines kinder- und jugendpsychiatrischen Gutachtens, um nur die wichtigsten zu nennen. Trotz dieser vielen rechtlichen Sicherungen und Vorkehrungen muss in einer geschlossenen Einrichtung das Thema Machtmissbrauch offen zur Sprache gebracht und sollten präventiv wirksame Strukturelemente eingefügt werden: Neben den selbstverständlichen regelmäßigen Teamgesprächen und regelmäßiger Supervisionen sind die MitarbeiterInnen in deeskalativen Interventionsmethoden geschult worden. Die Prozessqualität unterliegt einer wissenschaftlichen Begleitforschung seitens der Universität Vechta, Fachbereich Soziale Arbeit (Oelkers/ Feldhaus/ Gaßmöller 2012). Zurzeit wird - ebenfalls unterstützt von der Universität Vechta - ein Beschwerdemanagement für die Bewohner auf den Weg gebracht. Geschlossenheit und Zwang führen zu neuen Verhaltensmöglichkeiten Auffälligster, umstrittenster und zugleich unverzichtbarer Wirkfaktor ist die gestufte Geschlossenheit. Durch die - je nach Gefährdungslage gelockerte - Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Bewohner werden selbst- und fremdschädigende Handlungsmuster unterbrochen. Aggressives Verhalten, Drogenkonsum und Delinquenz werden unterbunden und damit ihrer sich selbst verstärkenden Wirkung beraubt. Auf allen Ebenen findet eine Entwöhnung von schädlichem Konsum und gefährlichen Verhaltensgewohnheiten statt. Gegen Ende ihres Aufenthaltes bei uns bereiten die Jugendlichen so gut wie keine disziplinarischen Schwierigkeiten mehr. Diese positive Entwicklung hält auch bei den Kindern, deren Weg wir nach ihrer Entlassung in unserer Anschlusseinrichtung, dem offenen Jugendwohnhaus, begleiten konnten, weiter an: Von der Aufnahme in die GITW bis heute hat es gegen niemanden von ihnen eine Strafanzeige gegeben. Die Bewohner erleben die ersten Wochen und Monate der eingeschränkten Kontakt- und Bewegungsfreiheit als ungewohnt und belastend. Erschwerend kommt für sie hinzu, dass die gewohnte und vielfach erprobte Bewältigungsstrategie Weglaufen/ Flucht blockiert wird. Natürlich ist das für die Jungen zunächst mit großem Stress verbunden, haben sie solche zum Problem gewordenen Handlungen doch zunächst als Lösungsversuche für die Folgen belastender und oft traumatischer biografischer Erfahrungen eingesetzt: Jens (Name geändert), Jg. 1996, jüngstes von vier Kindern, wurde im Alter von zwei Jahren wegen Vernachlässigung aus seiner Familie genommen. Mit vier Jahren kam er in eine Pflegefamilie. Mit fünf erfolgte ein erster stationärer Aufenthalt in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Jens unterhielt regelmäßige Besuchskontakte zur leiblichen 335 uj 7+8 | 2013 Geschlossene Unterbringung Mutter und unregelmäßige Kontakte zum leiblichen Vater, die sich immer mehr ausdünnten und schließlich ganz zum Erliegen kamen. Mit zehn Jahren kam er erneut in stationäre Behandlung, die zunehmenden Integrationsprobleme in der Pflegefamilie konnten dadurch aber nicht behoben werden. Was nun folgte, war eine Odyssee mit häufigen Wechseln von Wohngruppen, Auffangeinrichtungen und Kliniken. Jens wurde in einer Wohngruppe Zeuge eines Messerangriffs auf eine Betreuerin und in einer anderen Einrichtung von zwei Mitbewohnern auf offener Straße zusammengeschlagen. Nach diesen Erfahrungen war der Junge in keiner Einrichtung länger als ein halbes Jahr zu halten: Bei sich anbahnenden Konflikten entfernte er sich regelmäßig und bestieg am nächstgelegenen Bahnhof einen Zug. Anschließend wurde er entweder vom Bahnpersonal aufgegriffen oder er begab sich selbst zu einer Polizeistation. Von dort aus brachte man ihn zurück in seine Einrichtung oder in eine Inobhutnahme-Stelle. Beim Aufnahmegespräch fiel uns ein massiver Ganzkörpertremor auf, den wir zunächst nicht einordnen konnten. Später stellte sich heraus, dass der Grund dafür weder in Entzugserscheinungen noch in der winterlichen Kälte bestand, sondern allein in der Angst vor dem, was auf ihn zukommen könnte: erneute Ausgrenzung und noch massivere Unterdrückung durch andere Jugendliche. Nach ihrer Aufnahme in der Wohngruppe machen die Jungen kontinuierliche und intensive Beziehungserfahrungen, denen sie ebenfalls nicht ausweichen können, etwa bei der täglichen Abendreflexion, den wöchentlichen Teerunden, in denen die Jugendlichen ein pädagogisches Feedback bekommen, bei der Nachbearbeitung von Konflikten und bei den regelmäßigen Entwicklungsgesprächen. Diesen Beziehungsangeboten begegnen die meisten anfangs ambivalent, haben sie doch vielfache Beziehungsabbrüche und enttäuschte Hoffnungen hinter sich. Zwar suchte Jens die Nähe erwachsener Bezugspersonen, aber in vielen Momenten konfrontierte er sie mit seiner Sorge vor und seiner Wut über antizipierte Ablehnung. Sicherheit vermittelte ihm anfangs die schulische Lerngruppe, in der er sich entgegen seiner sonstigen Erfahrungen endlich einmal nicht insuffizient erlebte. Da er bereits einer der älteren Bewohner war, legte sich allmählich auch seine Angst vor Ausgrenzung und Unterdrückung. Allerdings bedurfte es vieler pädagogischer und therapeutischer Hilfen, damit er seinerseits angemessenen Kontakt zu seinen Mitbewohnern aufbaute. Die fehlende Führung durch und das enttäuschte Vertrauen in verlässliche Erwachsene haben unsere Jungen oft durch einen pseudoautonomen Habitus und ein nach außen als unerschütterlich demonstriertes Bewusstsein der eigenen Stärke kompensiert. Spätestens nach drei bis sechs Monaten spüren sie, dass diese Muster im speziellen Mikroklima einer geschlossenen intensivtherapeutischen Gruppe dysfunktional sind. Jetzt sehen sie sich genötigt, auf die angebotenen alternativen Problemlösungen und Hilfen zur Konfliktbewältigung der BetreuerInnen zurückzugreifen und erste eigene „Gehversuche“ in diesem für sie ungewohnten Modus zu unternehmen. Jens schaffte es allmählich, sich nicht nur aus Konflikten Dritter herauszuhalten (sein Eingreifen rechtfertigte er vor sich selbst damit, dadurch Schlimmeres zu verhüten). Auch wenn er sich persönlich angegriffen fühlte, zog er sich nun bei Konflikten öfters zurück oder wendete erlernte imaginative Distanzierungstechniken an, indem er sich vorstellte, eine dicke Mauer zwischen sich und sein Gegenüber einzuziehen, die ihn vor aggressions- oder angstauslösenden Reizen schützte. Alte Muster erweisen sich also zunächst als kontraproduktiv - und später als überflüssig. Mit den ersten Erfolgen wachsen auch die Lust an weiteren Experimenten und die Sicherheit in der Beherrschung gewaltloser Formen der Konfliktregelung. Die Jungen beginnen, den 336 uj 7+8 | 2013 Geschlossene Unterbringung Schutz der Gruppe zu genießen, und entspannen sich. Einige sind dann auch für klassische psychotherapeutische Interventionen offen: Nach einem Jahr initiierte ich für Jens den Kontakt zu einer kooperierenden externen und in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erfahrenen Traumatherapeutin, weil Jens selbst deutlich wurde, dass viele alltägliche Konfliktsituationen bei ihm heftige körperliche und emotionale Reaktionen auslösen, deren Ursprung in seinen früheren Erfahrungen zu suchen sind. Die Sitzungen wurden in der Praxis der Therapeutin nach dem Manual PITT-KID (Krüger/ Reddemann 2009) durchgeführt und vom Psychologen begleitet. Jens berichtete im Vorfeld der ersten Behandlungseinheit erstmals von phobischen Symptomen. Bereits nach der dritten Behandlungseinheit waren diese Symptome merklich abgeschwächt und nach der vierten restlos verschwunden. Im Persönlichkeitsfragebogen Junior Temperament und Charakter Inventar (Goth/ Schmeck 2009) zeigten sich anschließend im Vergleich zum Aufnahmezeitpunkt signifikante Verbesserungen in der Charakterdimension Selbstlenkungsfähigkeit (v. a. in den Subskalen Zielorientiertheit und Selbstakzeptanz). Sie liegt nun überdurchschnittlich hoch. Die Dimension „Kooperativität“ war bereits bei der Erstuntersuchung hoch ausgeprägt und blieb es auch beim zweiten Untersuchungszeitpunkt. Nach Schmid (2007, 121f ) sind die Skalen Kooperativität und Selbstlenkungsfähigkeit Indikatoren für psychische Gesundheit: „Es zeigt sich, dass die Jugendlichen ohne psychische Störung die mit Abstand höchsten Ergebnisse im Bereich der ‚Selbstlenkungsfähigkeit’ erreichen. Die Jugendlichen ohne Diagnose erzielen ebenfalls sehr hohe Ergebnisse im Bereich der ‚Kooperativität‘ und ‚Selbsttranszendenz‘ …“. In der zweiten Hälfte der geschlossenen Unterbringung bekommen die Jungen immer öfter Ausgang, um die neu erworbenen sozialen Kompetenzen in Vereinen oder unbegleitet in der Öffentlichkeit einzusetzen. Jens hat sich einer örtlichen Jugendgruppe angeschlossen und in diesem Rahmen ein zehntägiges Sommerzeltlager mitgemacht. Er knüpfte Kontakte zu Jugendlichen aus den offenen Wohngruppen und freute sich, wenn er in freien Zeiten als Helfer in den Projekten zur Arbeitsintegration angefragt wurde. Nach anderthalb Jahren wurde er aus der GITW entlassen und lebt nun in unserem offenen Jugendwohnhaus, wo er einen intensivpädagogischen Betreuungsplatz innehat. Da sich die neue Wohngruppe in unmittelbarer Nachbarschaft der geschlossenen Wohngruppe befindet, sucht er noch häufig den Kontakt zu seinen ehemaligen BezugsbetreuerInnen. Nach einem handfesten Streit mit einem neuen Mitbewohner nahm er sich vor, mit einem von ihnen zu sprechen, da er sich für sein Verhalten „noch einen Einlauf abholen“ müsse. Den Kontakt zu mir nimmt Jens ebenfalls noch regelmäßig wahr, wenn auch in reduzierter Frequenz. Wider eigenes Erwarten hat er den Hauptschulabschluss geschafft und ist in eine externe Berufsfördermaßnahme übernommen worden. Er weiß, dass er noch einen langen Weg zur vollständigen sozialen und beruflichen Integration vor sich hat, aber er weiß auch, dass dieser Weg für ihn zu schaffen ist und nicht mehr durch seine schwierigen biografischen Erfahrungen blockiert wird. Das therapeutische Milieu der Gruppe erfüllt Grundbedürfnisse Unsere BetreuerInnen begleiten ihre Schützlinge dabei, Enttäuschung und Leere auszuhalten, etwa wenn Elternteile kurzfristig einen Besuch absagen. Sie trainieren mit ihnen die Fähigkeit, mit sich alleine zu sein, z. B. in der Zimmerzeit und durch die enge Begrenzung und vollständige Kontrolle des Medienkonsums. Sie ermutigen die Jungen zu neuem Verhalten, beispielsweise durch Verstärkerpläne, bei begleiteten und bei unbegleiteten Ausgängen. 337 uj 7+8 | 2013 Geschlossene Unterbringung Sie unterstützen die Jungen dabei, neue Verhaltensmuster zu verinnerlichen, indem sie sie erfahren lassen, was respektvolles und freundliches Verhalten im Kontakt mit anderen Jugendlichen oder Erwachsenen bringt. Darüber hinaus vermitteln sie in enger Abstimmung mit den LehrerInnen der Förderschule realistische schulische und berufliche Ziele. Schneewind (2011, 152) bezeichnet die angemessene Fokussierung auf kindliche Grundbedürfnisse als „zentrale Merkmale von Elternkompetenz“ und benennt als die fünf wichtigsten entwicklungsorientierten Bedürfnisse: Sicherheit, Bezogenheit, Anregungen, Kompetenz (Selbstwirksamkeit) und Autonomie. Diese Bedürfnisse versuchen wir sowohl konzeptionell als auch in der täglichen Praxis zu erfüllen. Sicherheit schaffen in der GITW permanente erzieherische Präsenz (mindestens drei MitarbeiterInnen im Tag- und zwei MitarbeiterInnen im Nachtdienst), ein kontinuierlicher Tagesablauf und wiederkehrende Rituale, aber auch klare Regeln, Rechte und Pflichten. Bezogenheit konstituiert sich durch regelmäßige Gespräche in der Gruppe, mit BezugserzieherInnen und dem Psychologen, aber auch durch die begleitete Erneuerung oder Wiederbelebung familiärer Beziehungen. Anregungen bekommen die Jungen u. a. in der Freizeitpädagogik, beispielsweise bei gemeinsamen Segeltörns oder Übernachtungen in einer Hütte an einem Waldteich. Kompetenzen erfahren sie z. B. in der Schule - wenn sie erstmals seit Jahren wieder gute bis sehr gute Benotungen oder sogar Abschlüsse erreichen - oder in der Arbeitstherapie, etwa bei der Montage individueller BMX-Räder in der heimeigenen Fahrradwerkstatt oder bei der Gestaltung des Gartens und des Innenhofs. Autonomie wird im Rahmen des Stufenplans zunächst stark eingeschränkt und dann dosiert gewährt. Es gibt einen allgemeingültigen Stufenplan, der den Jungen in Abhängigkeit von den erzielten Fortschritten im Sozialverhalten von Phase zu Phase mehr Freiheiten gewährt. Für jede Stufe vereinbaren die BezugsbetreuerInnen mit ihren Schützlingen darüber hinaus individuell Entwicklungsziele, deren Erreichen Voraussetzung für das Erklimmen der nächsten Stufe ist. In der Stufe II beispielsweise sind begleitete Ausgänge, telefonische und briefliche Familienkontakte sowie Elternbesuche in der Einrichtung möglich. In der Stufe IV dürfen die Jungen bereits einmal monatlich zu Hause übernachten und haben zweimal zwei Stunden freien Ausgang pro Woche. In der letzten Stufe (VI) haben sie nur noch die Verpflichtung zur Teilnahme an den Mahlzeiten, der Schule und gemeinsamen Gruppenaktivitäten. Heimfahrten sind vierzehntägig mit zwei Übernachtungen erlaubt. Die Jungen können theoretisch innerhalb eines dreiviertel Jahres in der Abschlussstufe sein. Umgekehrt sind bei Rückschritten auch Abstufungen möglich. Die Arbeit des Therapeutischen Dienstes Der Therapeutische Dienst der Gesamteinrichtung fungiert im Rahmen der geschlossenen Wohngruppe als eine Art „interner Außendienst“: Er ist weder in die Hierarchie der Wohngruppe noch in die der Gesamteinrichtung eingebunden. Vielmehr ist er Teil der Abteilung Beratungsdienste, die auch Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatungsstellen in der Region betreibt. Dieses Konstrukt sichert eine optimale Balance zwischen fachlicher Entscheidungsfreiheit und Qualitätskontrolle durch ein multidisziplinäres Team aus PädagogInnen, SozialarbeiterInnen und PsychologInnen. Als für die Wohngruppe zuständiger Psychologe des Therapeutischen Dienstes arbeite ich in enger Abstimmung mit dem Erzieherteam. Die 338 uj 7+8 | 2013 Geschlossene Unterbringung ErzieherInnen werden über den Fortgang der Psychotherapie ebenso auf dem Laufenden gehalten wie ich über den pädagogischen Alltag und die schulischen Entwicklungsschritte der Bewohner. Dies geschieht bei den regelmäßigen Dienstbesprechungen und bei Bedarf auch „zwischen Tür und Angel“. Insofern ist die Vertraulichkeit der therapeutischen Gespräche - ähnlich wie in psychiatrischen oder psychosomatischen Kliniken - weiter gefasst als in einer ambulanten Beratungs- oder Therapiesituation. Allerdings biete ich den Bewohnern an, ihre Informationen auch gegenüber ihren BetreuerInnen vertraulich zu behandeln, sofern sie sicherheitsneutral sind und keine Hinweise auf aktuelle oder künftige Gefährdungen beinhalten. Die Jugendlichen nutzen mich - entsprechend meiner Position als „interner Außendienst“ - einmal wöchentlich als„inneren Außenposten“, mit dem sie ihre Interaktionserfahrungen in der Gruppe reflektieren, ohne sich verteidigen zu müssen. Ich versuche, aus dem häufig deutlich werdenden Problemverhalten die dahinter stehende positive Absicht zu extrahieren und so das Selbstwertgefühl der Jungen und das Verständnis der BetreuerInnen für mögliches Fehlverhalten zu fördern. Zugleich kommen „durch die Hintertür“ mögliche alternative Verhaltensweisen zur Sprache und werden den Jugendlichen behutsam „schmackhaft“ gemacht. Wir benötigen in der Therapie traumatisierter Menschen viel Zeit und die Fähigkeit, warten zu können, bis eine Vertrauensbasis aufgebaut ist. Für diese Zeit, die in der Traumatherapie als Stabilisierungsphase bezeichnet wird, kombinieren wir Elemente des Zürcher Ressourcen Modells (ZRM © vgl. Storch/ Riedener 2011) mit solchen des MASTR-Manuals (Hensel 2011), um Ziele aufbauen und festigen zu helfen und mögliche Störvariablen und Unterstützungsquellen kennenzulernen. Die Eltern der Jungen dazu zu ermutigen, den für sie oft schwierigen Weg der Zustimmung zur geschlossenen Unterbringung weiterzugehen, ist das Hauptziel der begleitenden Elternarbeit. Darüber hinaus lassen sich in Elterngesprächen in der Einrichtung selbst oder bei den Elternteilen zuhause biographisch-anamnestische Details explorieren, die für ein Verständnis der Entwicklung der Jungen wichtig sind. Manchmal können auch längst verloren geglaubte Kontakte wiederbelebt werden: Es gelang Jens nach einem Dreivierteljahr, Kontakte zur väterlichen Herkunftsfamilie herzustellen. Er besuchte sie anschließend und pflegt seither telefonischen Austausch. Zur Mutter waren die Kontakte teils intensiv, teils unvermittelt unterbrochen, immer aber von hoher emotionaler Beteiligung beider Seiten geprägt. Auch hierbei waren intensive Begleitung und Nachbearbeitung durch die ErzieherInnen und den Psychologen unverzichtbar. Wenn Eltern in der Nähe der Einrichtung wohnen, können wir auch über einen längeren Zeitraum familientherapeutisch arbeiten. Dann bietet sich die Chance, in Anwesenheit des Kindes lebensgeschichtliche Mosaike zu vervollständigen und ihm zu helfen, biografische und Persönlichkeitsfragmente zu einem verstehbaren Ganzen zusammenzufügen. Dazu eignet sich nach unseren Erfahrungen besonders die symbolreiche und zugleich konkret erfahrbare Arbeit mit dem Lebensflussmodell nach Nemetschek (2011). Ein großer Bereich der psychologischen Tätigkeit ist natürlich diagnostisch orientiert: Diese reicht von der Beteiligung an den Aufnahmen über die Erstellung von Entwicklungsdiagnosen bis hin zur gezielten Beantwortung von Fragestellungen der Jungen selbst: Viele von ihnen haben psychiatrische Vorerfahrungen und aufgrund ihrer emotionalen Probleme viele Einrichtungswechsel erlebt. Jugendliche, die nach eskalierten Konflikten aus Einrichtun- 339 uj 7+8 | 2013 Geschlossene Unterbringung gen verwiesen oder unter Einsatz medikamentöser oder anderer Zwangsmittel ruhiggestellt werden mussten, sind tief verunsichert und tragen die Sorge in sich, nicht normal zu sein. Jens wies bei seinem Einzug Spuren von Selbstverletzungen auf. Er war davon überzeugt, verrückt zu sein, und zeigte einige auffällige Verhaltensweisen und Manierismen, die auch uns von diesem Selbstbild überzeugen sollten. Eine wichtige Intervention der BetreuerInnen und des Psychologen war die Versicherung an den Jungen, ein normaler Jugendlicher mit einem schwierigen Schicksal zu sein. Mit dieser Definition wurde Jens zugleich die Verweigerung altersangemessener sozialer und kognitiver Verhaltenserwartungen erschwert. Auch diagnostische Alltagsfragen werden an mich herangetragen, etwa wenn ein Junge sich wundert, dass ihm andere Jugendliche ihr Herz ausschütten, obwohl er selbst niemandem vertraue. Hier konnte ebenfalls die Durchführung, gemeinsame Auswertung und Besprechung eines Persönlichkeitstests wichtige Hinweise zum Verständnis der Interaktionsdynamik zwischen ihm und anderen Jugendlichen liefern. So hilft Diagnostik nicht nur den Professionellen, sondern auch den Jugendlichen selbst bei der Reflexion und beim Verständnis der eigenen Persönlichkeit. Bei der Verlaufs- und Erfolgskontrolle kommen psychodiagnostische Verfahren ebenfalls zum Einsatz. So können die Jungen und ihre BetreuerInnen am Ende jedes Monats mit einem auf der Basis des Inventars zur Erfassung der Lebensqualität bei Kindern und Jugendlichen (Mattejat/ Remschmidt 2006) entwickelten Fragebogen Einschätzungen zur Entwicklung der Bewohner in unterschiedlichen Lebensbereichen abgeben. Über eine statistische Auswertung kann ich den Jungen und ihren BetreuerInnen den Entwicklungsverlauf über die gesamte Aufnahmedauer hinweg dokumentieren. Therapie als Folge geglückter Zusammenarbeit im Team und zwischen unterschiedlichen Institutionen Jens‘ Kontaktaufbau zum Vater wäre nicht möglich gewesen ohne die tatkräftige Hilfe seines ersten Jugendamtsmitarbeiters, der seinen Lebensweg unabhängig von vielfach wechselnden Zuständigkeiten kontinuierlich verfolgt und begleitet hat und Anschriften und die ersten Telefonkontakte vermittelte. Auch die Bereitschaft der oben erwähnten niedergelassenen Therapeutin, sich auf eine Begrenzung von maximal fünf zusätzlichen Sitzungen Traumaexposition einzulassen, ist nicht selbstverständlich, genauso wenig wie die zusätzliche Finanzierung dieser Leistung durch das zuständige Jugendamt. Dies sind nur einige Beispiele dafür, dass die Chancen für erfolgreiche Verläufe größer werden, je besser die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Einrichtungen funktioniert. Auch zwischen den Mitgliedern des therapeutischen Teams müssen konzeptionelle Überzeugungen geteilt werden und Absprachen stimmen. Dann lassen sich auch schwierige Situationen und Phasen überwinden: Der 14-jährige Kolja lebt seit einem Dreivierteljahr in der geschlossenen Wohngruppe. Er kam zu uns buchstäblich „von der Straße“, wo er sich schon früh einer „Gang“ angeschlossen hatte, deren Freizeitgestaltung aus „Abhängen“ und gelegentlichem „Abziehen“ bestand. Über ältere Jugendliche hatte sich Kolja in kriminelle Handlungen verstricken lassen. Mehrere ambulante Jugendhilfemaßnahmen waren ebenso gescheitert wie stationäre. Obwohl Kolja ein Jahr in einer Pflegestelle sehr genossen hatte, hatte er diese Maßnahme abgebrochen und war wieder in sein gefährdendes Umfeld zurückgekehrt, sodass das Jugendamt keine Alternative mehr zu einer geschlossenen Unterbringung gesehen hatte. 340 uj 7+8 | 2013 Geschlossene Unterbringung Kolja zeigte zunächst den Habitus eines Straßenkämpfers. Dies betraf seine Sprache, seine Gestik und sein Denken: „Du musst so sein, sonst kannst du nicht überleben“, teilte er mit, als er darauf hingewiesen wurde, dass dieses Verhalten in unserer Einrichtung weder erwünscht noch notwendig sei. Es gelang dem Jungen dann aber schnell, sich neu zu orientieren. In der Schule entdeckte er seinen Ehrgeiz, und der Erfolg in Form guter bis sehr guter Noten stellte sich bald ein. Neun Monate nach der Aufnahme wurde er entsprechend seiner Fortschritte in die Autonomiestufe V eingestuft, verbunden mit vierzehntägigen Heimfahrten und mehreren unbegleiteten Wochenausgängen. Zeitgleich stellte sich immer drängender die Frage nach einer Anschlussmaßnahme, denn die geschlossene Unterbringung sollte in einigen Wochen enden, aber unsere Einrichtung konnte ihm keinen freien Platz in unserer offenen Jugendwohngruppe anbieten. In dieser Situation kam es bei Kolja nun zu einem Rückfall in die Verhaltensmuster aus der Anfangszeit und zu groben verbalen Entgleisungen sowohl gegenüber seinen Mitbewohnern als auch gegenüber den BetreuerInnen. Uns war klar, dass dieser Rückfall mit der unsicheren Perspektive und dem grobmaschigen familiären Netz des Jungen zusammenhing. Dies wurde ihm von den BetreuerInnen in mehreren Gesprächen auch mitgeteilt, um ihm zu signalisieren: Wir sehen die innere Not hinter deinem problematischen Verhalten. Die von Empathie getragenen Mitteilungen brachten aber noch nicht den erhofften Umschwung, sodass Kolja wieder in die Autonomiestufe IV absteigen musste. Auch die sich kurzfristig doch abzeichnende Anschlussmaßnahme half dem Jungen nicht, wieder auf den zuvor eingeschlagenen Weg zurückzufinden. Ich bot dem Jungen nun ein alternatives Deutungsmuster an, indem ich darauf hinwies, dass die familiäre Situation und die unsichere Perspektive Kolja eigentlich schon seit langer Zeit begleiteten, er aber dennoch wesentliche Verhaltensfortschritte habe machen können. Aus meiner Sicht handele es sich bei den zu verzeichnenden Rückschritten um eine durchaus bewusste Entscheidung Koljas, und die Erklärungen der BetreuerInnen ließ ich nicht als Entschuldigung gelten. Kolja reagierte zunächst angespannt auf diese Intervention, lächelte aber zum Schluss und bestätigte, dass es sich genau so („ meine Entscheidung“) und nicht anders verhalte. Natürlich ist uns bewusst, dass auch die vom Psychologen angebotene Erklärung nur einen Teil der Wirklichkeit abbildet. Sie betont konfrontativ den „Täter“-Anteil zuungunsten des „Opfer“-Anteils und hebt damit auf die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ab. Indirekt steckt in der Konfrontation die Botschaft: „Du kannst dich verändern.“ Nach der Therapiestunde kam Kolja mit einem spöttischen Grinsen zurück in die Gruppe und stellte fest, die BetreuerInnen seien alle „Pussies“. Damit grenzte er sich aktiv von ihren empathischen und möglicherweise diminuierend erlebten Erklärungsversuchen ab. In der Folge veränderte er schnell wieder sein Verhalten und konnte wenige Tage später wieder in die Stufe V aufsteigen. Wichtig ist uns, dass „Täter“- und „Opfer“-Anteile nicht als unvereinbar voneinander abgegrenzt, sondern von den Jungen als zwei zu ihnen gehörende Seiten integriert werden können. Auf Grundlage einer solchen Integrationsarbeit können Kinder Verhaltensfortschritte dann auch in Phasen stärkerer äußerer bzw. innerer Belastungen beibehalten. Die Aufgabe, Kolja eine integrationsanregende Erklärung anzubieten, übernahm eine Betreuerin, zu der der Junge ein besonders vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut hat: Bei einem „Bettkantengespräch“ teilte sie ihm mit, dass sie Kolja durchaus zutraue, sein Verhalten zu steuern, im Unterschied zum Psychologen aber auch sehe, dass er diese Fähigkeit je nach Tagesform und entsprechend dem Grad seiner aktuellen seelischen Belastung durch seine Lebenssituation unterschiedlich gut abrufen könne. Kolja hörte aufmerksam zu und umarmte die Betreuerin an- 341 uj 7+8 | 2013 Geschlossene Unterbringung schließend fest, was wir als Zeichen dafür werten können, dass ihn die Botschaft „sowohl als auch“ nicht nur kognitiv, sondern auch emotional erreicht hat. Fazit Alle MitarbeiterInnen wirken an der Therapie mit Aus den Fallbeispielen geht deutlich hervor, wie zentral für eine erfolgreiche Behandlung der Jugendlichen die intensive Zusammenarbeit zwischen der Wohngruppe und ihren Kooperationspartnern, in diesem Fall der Schule, den Jugendämtern, einer externen Therapeutin und örtlichen JugendsozialarbeiterInnen, ist. Auch die intrainstitutionelle Kooperation, hier vor allem die Flexibilität bei der Gestaltung der heilungsunterstützenden Rollen, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Wirksamkeit der pädagogisch-therapeutischen Konzeptelemente: Alle MitarbeiterInnen der Wohngruppe wirken an der Therapie mit. Auch die BetreuerInnen führen viele therapeutisch hoch wirksame Gespräche, und auch der Psychologe kann Jugendliche deutlich konfrontieren. Wichtig ist dabei, dass das Behandlungsteam die Übernahme der Regieführung abspricht. Diese flexible, aber immer eng aufeinander abgestimmte Rollenverteilung unterstützt bei den Jugendlichen den Prozess der Differenzierung in erlebende und beobachtende bzw. steuernde Ich-Anteile: Mit der Wahlmöglichkeit, also der Chance, sich für eine von mehreren angebotenen Perspektiven auf die eigene Biografie und das eigene Verhalten entscheiden zu können, steigt die Bereitschaft der Jungen, die gewohnte - und aus Gründen des Selbstschutzes oft eindimensionale - eigene Sichtweise zu erweitern und eine freundlichdistanzierte Position zur eigenen Lebensgeschichte einnehmen zu können. Dies funktioniert natürlich nur auf dem Boden einer von Wertschätzung und Annahme geprägten erzieherischen Grundhaltung. Mit der geschlossenen Unterbringung allein ist es nicht getan Was die langfristige Wirkung unserer Betreuungsform angeht, können bisher nur tendenzielle Aussagen getroffen werden. So lässt sich feststellen, dass am meisten diejenigen Jungen zu profitieren scheinen, für die rechtzeitig klar umrissene Anschlussmaßnahmen geplant und umgesetzt werden. Umgekehrt lautete auch einer der Zwischenbefunde der Fachtagung „Geschlossene Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe - Befunde und Forschungsperspektiven zu einem strittigen Modell am Beispiel der GITW Lohne“ am 23. 3. 2012: „Erfolgreiche Betreuungsverläufe werden durch fehlende Anschlussmaßnahmen gefährdet“ (www.univechta.de/ soziale-arbeit-aktuelles). Solche Maßnahmen sollten auch weiterhin in einem intensivpädagogischen Rahmen, also mit hoher Betreuungsdichte und psychotherapeutischem Begleitangebot durchgeführt werden, denn ein bis zwei Jahre intensivtherapeutischer Begleitung reichen nur in den seltensten Fällen aus, um den entwicklungsbezogenen Traumatisierungen (Van der Kolk 2005 b) betroffener Kinder wirkungsvoll zu begegnen. „Ich nehme mir Zeit für dich - auch wenn du sagst, dass du das nicht willst“ Geschlossene Unterbringung ist Zwang, keine Frage. Der Druck, in Beziehung zu gehen, ist dabei vielleicht als noch gravierender einzuschätzen als die Einschränkung der individuellen Bewegungsfreiheit der betroffenen Jugendlichen. 342 uj 7+8 | 2013 Geschlossene Unterbringung Hanna Permien stellt fest, dass aus dem anfänglichen Zwang, wenn es gut läuft, eine Art bedingter Freiwilligkeit werden kann: „Nur wenn die Jugendlichen auf das Paradox ‚Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug’ ihrerseits paradox reagieren, indem sie die Zwänge dieses Settings ‚freiwillig‘ akzeptierten, kann die FM (Freiheitsentziehende Maßnahme, CB) für sie von einer ‚Strafe‘ zu einer ‚Chance‘ werden“ (Permien 2011, 22). Es gibt viele Erfahrungen, aus denen heraus die Jungen unser Angebot zurückzuweisen versuchen. Die meisten tun sich zunächst leichter damit, ihre Unterbringung als „Strafe“ für ihr Fehlverhalten zu akzeptieren, als sich erneut auf etwas wie Beziehung einzulassen, prägte deren erfahrener unverbindlicher und jederzeit unsicherer Charakter doch ihr bisheriges Lebensgefühl. Insofern entspricht unser klares und konsequentes Regelwerk zunächst ihrer Erwartungshaltung. Ihr Widerstand gegen das, was unsere BetreuerInnen ihnen an Zuwendung und Nähe angedeihen lassen möchten, stellt die MitarbeiterInnen oft vor noch größere Herausforderungen als juvenile Regelverletzungen. Wer diese Zurückweisung nicht auf sich persönlich bezieht und es trotzdem immer wieder mit Beziehungsangeboten versucht, wird die Arbeit in einer geschlossenen intensivpädagogischen Wohngruppe nicht lediglich aushalten. Vielmehr wird er/ sie die behutsamen und vorsichtigen Versuche der Jugendlichen, sich „aus der Deckung zu wagen“, als besonders bereichernd und zutiefst befriedigend erleben. Carsten Bösing Caritas-Sozialwerk St. Elisabeth Von-Stauffenberg-Straße 8 49393 Lohne boesing@caritas-sozialwerk.de Literatur Caritas-Sozialwerk St. Elisabeth, 2010: Leistungsbeschreibung der Geschlossenen Intensivtherapeutischen Wohngruppe (GITW) Lohne. Lohne Goth, K./ Schmeck, K., 2009: Das Junior Temperament und Charakter Inventar. Göttingen Hensel, T., o. J.: Traumazentrierte Psychotherapie (EMDR) bei Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens - das MASTR-Manual. Skript des Kinder Trauma Instituts Offenburg (KTI). www.kindertrauma institut.de/ de/ Materialien, 3. 7. 2011, 30 Seiten Krüger, A./ Reddemann, L., 2 2009: Psychodynamisch- Imaginative Traumatherapie für Kinder und Jugendliche. PITT-KID. Das Manual. Stuttgart Mattejat, F./ Remschmidt, H., 2006: Inventar zur Erfassung der Lebensqualität bei Kindern und Jugendlichen. Göttingen Nemetschek, P., 2011: Systemische Familientherapie mit Kindern, Jugendlichen und Eltern: Lebensfluß- Modelle und analoge Methoden. Stuttgart Oelkers, N./ Feldhaus, N./ Gaßmöller, A., 2012: Präsentation der Begleitforschung und erster Ergebnisse. Fachtagung zur „Geschlossenen Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe“. unveröffentlicht Permien, H., 2010: Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug? Zentrale Ergebnisse der DJI-Studie „Effekte freiheitsentziehender Maßnahmen in der Jugendhilfe“. München Permien, H.; 2011: Freiheitsentzug in der Jugendhilfe - Chance oder (erneutes) Scheitern? In: unsere jugend, 63. Jg., H. 1, S. 17 - 25 Schmid, M., 2007: Psychische Gesundheit von Heimkindern. Eine Studie zur Prävalenz psychischer Störungen in der stationären Jugendhilfe. Weinheim/ München Schneewind, K. A./ Böhmert, B., 2011: Der interaktive Elterncoach„Freiheit in Grenzen“ für Eltern von 3bis 18-jährigen Kindern. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht, 58. Jg., H. 2, S. 152 - 154 Storch, M./ Riedener, A., 2011: Ich pack’s! Selbstmanagement für Jugendliche. 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