eJournals unsere jugend 65/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2013.art36d
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2013
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Aktuelle Tendenzen der Eltern- und Familienarbeit in der Stationären Erziehungshilfe

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2013
Richard Günder
Die Arbeit mit Familien von Heimkindern ist im SGB VIII geregelt. Mit der Umsetzung dieses Auftrages beschäftigte sich ein Lehrforschungsprojekt des Fachbereichs Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund.
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383 unsere jugend, 65. Jg., S. 383 - 390 (2013) DOI 10.2378/ uj2013.art36d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. Richard Günder Jg. 1949; Professor für Erziehungswissenschaft im FB Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund Aktuelle Tendenzen der Eltern- und Familienarbeit in der Stationären Erziehungshilfe Ergebnisse einer empirischen Studie Die Arbeit mit Familien von Heimkindern ist im SGB VIII geregelt. Mit der Umsetzung dieses Auftrages beschäftigte sich ein Lehrforschungsprojekt des Fachbereichs Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund. 1 Die Arbeit mit Familien von Heimkindern wird durch das SGB VIII verbindlich vorgeschrieben und kann somit nicht von Vorlieben oder anderen Zufälligkeiten abhängig sein. Sie wird primär begründet mit der anzustrebenden Rückkehr des Kindes oder Jugendlichen in die Herkunftsfamilie. Doch auch, wenn eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie nicht realisiert werden kann, soll mit den beteiligten Eltern beziehungsweise mit weiteren Angehörigen gemeinsam gearbeitet werden, vor allem, wenn es um wesentliche Entscheidungen und um Lebensperspektiven des jungen Menschen geht. Die vom SGB VIII als Leitnorm vorgegebene Lebensweltorientierung unterstreicht die Notwendigkeit einer permanenten und qualitätsorientierten Eltern- und Familienarbeit innerhalb der Stationären Erziehungshilfe. In der Vergangenheit beschränkte sich diese in nicht wenigen Fällen auf eine bloße „Kontaktpflege“ und entsprach dann nicht den Anforderungen einer zielgerichteten und methodisch abgesicherten Vorgehensweise (Günder 2011, 232ff ). Der Vergleich einer Studie zur Eltern- und Familienarbeit aus dem Jahr 2007 mit den Ergebnissen einer aktuellen Studie aus dem Jahr 2013 soll Modifikationen in diesem Arbeitsgebiet feststellen. Eltern- und Familienarbeit im Spiegel einer früheren Untersuchung Eine qualitative Studie aus dem Jahr 2007 untersuchte die „Eltern- und Familienarbeit in der Stationären Erziehungshilfe“. Hierzu wurden Interviews mit 35 pädagogischen Mitar- 1 Mitwirkende waren: Christian Böning, Andrea Dembeck, Gülgün Khan, Jacqueline Nakath, Jana Neuhaus, Katharina Schmitz, Andreas Skowronski, Daniela Urban, Sarah Williams und Sonia Wojcik sowie zeitweilig Margareta Nasched, M. A. (Evaluationsstelle FH Dortmund). 384 uj 9 | 2013 Familienarbeit in Heimeinrichtungen beiterInnen in verschiedenen Einrichtungen durchgeführt. Obwohl Elternarbeit als zielgerichtet und methodisch planvoll orientiert definiert wird, zeigte die Studie, dass gut die Hälfte aller Einrichtungen diese Art der Elternarbeit nicht ausreichend umsetzte. Wenn Methoden genannt werden konnten, dann waren es systemische bzw. familientherapeutische Ansätze. Bei mehr als der Hälfte der Interviewten schien sich jedoch im Jahr 2007 die Eltern- und Familienarbeit auf Gespräche und auf Kontaktpflege zu begrenzen. Drei Viertel der Befragten empfanden den Zeitaufwand für Eltern- und Familienarbeit als ausreichend. Der jeweilige Zeitaufwand erstreckte sich je nach Fall von einmal täglich bis einmal im Monat. Die Bereitschaft der Eltern zur Mitarbeit wurde sehr unterschiedlich wahrgenommen. Ein Fünftel der Fachkräfte schätzte die Bereitschaft als hoch ein. Andererseits wurden jedoch Aspekte wie Feindseligkeit gegenüber der Einrichtung, Unwilligkeit und mangelnde Motivation der Eltern genannt. Mögliche Ursachen für diese negative Haltung seitens der Eltern seien nach Angaben der MitarbeiterInnen Ängste, mangelnde Motivation und allgemeine Widerstände gegenüber den Einrichtungen (Günder/ Reidegeld 2007, 27ff ). Design und theoretische Grundlagen einer neuen Studie zur Eltern- und Familienarbeit Um die zwischenzeitlichen Veränderungen und Entwicklungen innerhalb des Praxisfeldes zu erfassen, wurde in einem entsprechenden Lehrforschungsprojekt der Fachhochschule Dortmund, Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften, eine empirische Untersuchung realisiert. Das Lehrforschungsprojekt bestand aus zehn Studierenden und einem Erziehungswissenschaftler. Die Gruppe beschäftigte sich zunächst theoretisch mit Aspekten der Eltern- und Familienarbeit. Hierzu wurde die aktuelle Fachliteratur analysiert. Grundlegende Bedeutung für das Projekt nahmen die Themenbereiche „Lebensweltorientierung“ und „Partizipation“ ein. Für systemisch orientierte Vorgehensweisen ist kennzeichnend „die Abkehr von linearen Ursache-Wirkungs-Modellen hin zu einem zirkulären Systemmodell, nach dem die Wirklichkeit eines Individuums untrennbar mit seiner Einschätzung des Kontextes verbunden ist“ (Kandziora 2011, 893). Für die spezielle Arbeit mit Eltern und mit Familien von Heimkindern bedeutet dies u. a., dass Diagnosen und Zielsetzungen nicht fremdbestimmend übergestülpt, „sondern gemeinsam aus ihren spezifischen Rahmenbedingungen heraus erarbeitet“ werden (Kandziora 2011, 894). So gesehen setzen systemisch orientierte Vorgehensweisen Partizipation voraus und verstärken sie. Lebensweltorientierung bedeutet für die Stationäre Erziehungshilfe die Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen, deren Eltern und Familien ernst zu nehmen und als Ansatz für die Entwicklung von Ressourcen zu nutzen. Die Möglichkeit der Partizipation als „ein Element der Professionalisierung sozialer Dienste“ (Wurtzbacher 2011, 634) kann jedoch in vielen Fällen weder angetroffen noch vorausgesetzt werden. Die Befähigung zur Partizipation bei den Betroffenen zu entwickeln, ist ein „Bildungsauftrag“ der Stationären Jugendhilfe, die Erfahrung zur Teilhabe wird zur „Bildungsgelegenheit“ (Treptow 2012, 133). Im Gegensatz zum alten JWG, in dem Jugendhilfemaßnahmen überwiegend als Eingriffsmaßnahmen galten, die mehr oder weniger „von oben“ angeordnet wurden, geht das SGB VIII von Leistungen aus, welche in partnerschaftlicher Kooperation mit den Betroffenen zu klären, abzuwägen und abzustimmen sind. Für die Betroffenenbeteiligung im Rahmen der Heimerziehung sind beispielsweise die 385 uj 9 | 2013 Familienarbeit in Heimeinrichtungen folgenden Aspekte wesentlich: Nach § 5 SGB VIII haben die Leistungsberechtigten, in der Regel also die Eltern, ein Wunsch- und Wahlrecht hinsichtlich der Einrichtungen und Dienste verschiedener Träger und bezüglich der Gestaltung der Hilfe. Auf dieses Recht müssen die Betroffenen ausdrücklich hingewiesen werden. Nach §36 SGB VIII sind die Personensorgeberechtigten und das Kind oder der Jugendliche vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe zu beraten, wobei auf mögliche Folgen für die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen hinzuweisen ist. Wenn Hilfe für einen voraussichtlich längeren Zeitraum zu leisten ist, soll in Zusammenarbeit mit den Personensorgeberechtigten und im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte (also im Team) über die im Einzelfall angezeigte Hilfe entschieden werden. Dies gilt insbesondere bei Erziehungshilfen, die außerhalb der eigenen Familie stattfinden, so vor allem auch bei der Heimerziehung. Jugendhilfe kann im eigentlichen Sinne nur dann lebenswelt- und ressourcenorientiert sein, wenn die aktive Beteiligung - die Partizipation - der betroffenen Menschen nicht nur gefordert, sondern innerhalb der Praxis systematisch und kontinuierlich unterstützt wird. In einem nächsten Schritt wurden Diskussionen zur Thematik „vor Ort“ in Einrichtungen der Stationären Erziehungshilfe geführt. Auf dieser Grundlage entstand der Entwurf eines Fragebogens, der wiederum in Praxiseinrichtungen zur Diskussion gestellt wurde. Kritik und Anregungen zu diesem Pretest flossen in die endgültige Fassung des Fragebogens ein. Im Januar 2013 wurden Fragebögen zur Eltern- und Familienarbeit an Institutionen in den Bundesländern Bayern, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen verschickt. Von den insgesamt 520 an stationäre Einrichtungen zustellbaren Briefen erhielten wir 128 zurück. Dies entspricht einer Rücklaufquote in Höhe von 25 %. Wer hat uns geantwortet? Verteilt auf die Bundesländer kamen 47 % der uns zurückgesandten Fragebögen aus Nordrhein-Westfalen, 41 % aus Bayern und 12 % aus Brandenburg. Insgesamt erhielten wir Antworten von 65 % weiblichen und 35 % männlichen Fachkräften im Alter zwischen 26 und 65 Jahren. Das Durchschnittsalter lag bei 46 Jahren. Überwiegend haben also Frauen den Fragebogen beantwortet. Dies entspricht in etwa der Geschlechterverteilung des pädagogischen und des Verwaltungspersonals in der Stationären Erziehungshilfe. Im Jahr 2010 waren von den insgesamt 58.187 Beschäftigten 71 % weiblich (Statistisches Bundesamt 2012, 27ff ). Wir erhielten Antworten von 29 % ErzieherInnen, 43 % SozialarbeiterInnen/ SozialpädagogInnen und von 10 % HeilpädagogInnen. Außerdem antworteten 18 % mit einem beruflichen Abschluss z. B. als Diplom-PädagogInnen oder als Systemische FamilientherapeutInnen. Wir hatten in unserem Anschreiben darum gebeten, dass möglichst eine Fachkraft aus dem gruppenpädagogischen Dienst den Fragebogen ausfüllen möge. In 59 % der Fälle traf dies zu, 4 % arbeiteten im gruppenübergreifenden oder therapeutischen Dienst, 32 % waren in der Einrichtungsleitung tätig und 5 % der Antworten kamen von Personal in anderen Funktionen wie z. B. von speziellen Fachkräften für Eltern- und Familienarbeit zurück. Die Befragten waren zwischen einem und 42 Jahren in der jetzigen Einrichtung tätig. Durchschnittlich arbeiteten sie 21 Jahre dort. 67 % der befragten Einrichtungen sind unserer Bitte nachgekommen, hier haben uns MitarbeiterInnen aus einer Regelgruppe geantwortet. Die restlichen 33 % der Antworten wurden von MitarbeiterInnen aus spezialisierten Gruppen gegeben, am häufigsten waren dies heilpädagogische Gruppen, therapeutische Wohngemeinschaften und Gruppenformen mit speziel- 386 uj 9 | 2013 Familienarbeit in Heimeinrichtungen ler Ausrichtung für die Rückführung oder die Verselbstständigung, vereinzelt auch intensivpädagogische Gruppen. Kontaktpflege oder professionelle Methoden? Von allen Befragten haben uns 98 % mitgeteilt, dass sie über berufliche Erfahrung in der Eltern- und Familienarbeit verfügen. Diese erstaunlich hohe Quote relativiert sich jedoch, wenn man bedenkt, dass in der Stationären Erziehungshilfe Eltern und andere Familienangehörige immer eine Rolle spielen und entsprechende Kontakte zum Alltag gehören. Es ging uns jedoch keineswegs nur um eine sogenannte Kontaktpflege, sondern um eine professionell ausgerichtete methodische Eltern- und Familienarbeit, also um Qualität. Die Frage nach einem besonderen pädagogischen Schwerpunkt ihrer Einrichtung verneinen 54 %. Dementsprechend geben jedoch 46 % der Befragten bestimmte Schwerpunkte an. Die meist genannten sind solche der Verselbstständigung oder Therapie. Auch der systemische Ansatz kommt als Schwerpunkt vor, er wird bei einer weiteren Fragestellung als die am meisten praktizierte professionelle Methode genannt. Als Gründe, weshalb in der eigenen Einrichtung Eltern- und Familienarbeit realisiert wird, werden folgende Antworten gegeben (Mehrfachnennungen waren möglich): ➤ Rückführung, ➤ Kommunikationsförderung zwischen Eltern und Kindern, ➤ Systemischer Ansatz, ➤ Auftrag durch SGB VIII. Der mit großem Abstand am häufigsten genannte Grund„die Rückführung“ entspricht der Prämisse im Kinder- und Jugendhilfegesetz. Heimerziehung wird oftmals als ein „Übergangsritual“ und nicht als„Endstation“ verstanden. „Sie ist eine spezifische Hilfeform, die in bestimmten Situationen eine Lösungsmöglichkeit für bestehende familiäre Schwierigkeiten darstellt, für Kinder und deren Eltern gleichermaßen“ (Hofer 2005, 4). Zu der Frage der praktischen Umsetzung der Eltern- und Familienarbeit in den Gruppen erhielten wir rund 300 Antworten. Auch hier waren Mehrfachnennungen möglich. Etwas mehr als ein Drittel dieser Antworten konnte in die Kategorie Kontaktpflege eingeordnet werden. Kontaktpflege wäre jedoch noch keine professionelle Eltern- und Familienarbeit. Insbesondere dann nicht, wenn in einer Einrichtung nur Kontaktpflege als Eltern- und Familienarbeit praktiziert wird. Eine Kontaktpflege stellt jedoch eine wichtige Basis, quasi eine Voraussetzung der Eltern- und Familienarbeit dar, die einen breiten Raum einnehmen kann und von allen MitarbeiterInnen geleistet wird. Allgemeine Elternrundbriefe, Telefonate, Feste und Feiern, Elternbesuche, Hol- und Bringsituationen, Besuchskontakte bzw. Heimfahrten betrachten wir unter anderem als Kontaktpflege. Auch Gespräche mit den Eltern stellen noch keine Elternarbeit im engeren Sinne dar.„Die GruppenerzieherInnen haben viel häufiger Gesprächskontakte ganz unterschiedlicher Art mit den Eltern, ohne dass dies als ‚Elternarbeit‘ beschrieben wird. Doch genau diese Kontakte sind eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen der Elternarbeit“ (Hofer 2005, 4). Weitergehendes zielgerichtetes Handeln kann als professionelle Elternarbeit bezeichnet werden (Taube 2000, 29ff ). Diese Kontakte und ihre Förderung bilden andererseits jedoch eine wichtige Ausgangsbasis einer methodischen Elternarbeit. Die „planvolle systematische Gestaltung von Hilfebzw. Erziehungsprozessen“ (Mühlum 2011, 775) wird als grundlegende Voraussetzung methodischen und professionellen Vorgehens verstanden. Dementsprechend erhielten wir auf unsere Fragestellung auch Antworten, die sehr sicher auf ein methodisch abgesichertes Vorgehen schließen lassen, wie beispielsweise: 387 uj 9 | 2013 Familienarbeit in Heimeinrichtungen ➤ Systemische Arbeitsweisen, ➤ Biografiearbeit, ➤ intensive Arbeit mit Eltern wie Coaching und Beratungsgespräche. Direkt nach professionellen Methoden, Ansätzen und Erklärungsmodellen gefragt, können 28 % entweder keine oder keine eindeutige Methode benennen. Demgegenüber wird von 72 % der Befragten auf professionelle Methoden hingewiesen. Diese erwähnten Methoden, Ansätze oder Erklärungsmodelle sind (in abnehmender Häufigkeit): ➤ Systemische Vorgehensweisen, ➤ Ressourcenorientierung, ➤ Eltern-Kompetenz-Training, ➤ Gesprächstechniken, ➤ Lösungsorientierung, ➤ Traumatherapie, ➤ Familienaktivierender, ganzheitlicher Ansatz, ➤ Biografiearbeit, ➤ Lernen am Modell. Andere Methoden mit wenigen Nennungen sind z. B. die Verhaltenstherapie oder das Selbstbewusstseinstraining. In der früheren Studie von 2007 wurden wesentlich weniger konkrete Methoden benannt, darunter vor allem systemische und familientherapeutische Ansätze, Elterncoaching oder Video-Home-Training. Die Hälfte der damals befragten Personen benannte ausschließlich Kontaktpflege und Gespräche mit den Eltern als Handlungsansätze.„Nach den Aussagen der Interviewten wurde nur in einigen wenigen Einrichtungen eine planmäßige und methodisch abgesicherte Arbeit mit Eltern und Familien kontinuierlich praktiziert“ (Günder/ Reidegeld 2007, 29). Systemische Ansätze bilden offensichtlich nicht nur den Schwerpunkt einer gegenwärtig praktizierten Eltern- und Familienarbeit, diese scheinen in der Mehrzahl der Institutionen der Stationären Erziehungshilfe auch konzeptionell verankert zu sein. In welchem Rahmen haben sich die Fachkräfte diese Methoden, Ansätze und Erklärungsmodelle angeeignet? Bei der Beantwortung dieser Frage waren Mehrfachnennungen möglich. Obwohl 64 % der Befragten über einen Hochschulabschluss verfügen, haben nur 37 % das Studium angegeben und nur 48 % die Ausbildung. Aber 77 % geben an, dass sie sich die notwendigen professionellen Kompetenzen durch Fortbildungen angeeignet haben. Offensichtlich können in der Mehrzahl der Fälle weder die Fachschulen und Fachakademien für Sozialpädagogik noch das Studium der Sozialen Arbeit ausreichende professionelle Kompetenzen für die Arbeit mit Eltern und Familien vermitteln. Weitere Einschätzungen zur gegenwärtigen und künftigen Eltern- und Familienarbeit Insgesamt empfinden 66 % der Befragten den Zeitaufwand für die Eltern- und Familienarbeit als angemessen, 26 % schätzen die zur Verfügung stehende Zeit als zu gering oder viel zu gering ein, 8 % finden den Zeitaufwand zu hoch. Die Personen, die professionelle Methoden angeben, schätzen den Zeitaufwand für die Eltern- und Familienarbeit höher ein als dies MitarbeiterInnen tun, die hierzu keine professionellen Methoden benennen können. Bei der Untersuchung im Jahr 2007 empfanden etwa drei Viertel aller befragten Personen die zur Verfügung stehende Zeit für Eltern- und Familienarbeit als ausreichend (Günder/ Reidegeld 2007, 28f ). Als Bemerkung zu dieser Fragestellung wird zumeist erwähnt, dass Eltern- und Familienarbeit notwendig sei, oftmals jedoch schwer zu 388 uj 9 | 2013 Familienarbeit in Heimeinrichtungen realisieren. Neben dem Zeitmanagement werden auch mangelnde finanzielle Ressourcen für die Eltern- und Familienarbeit beklagt. Der jeweilige Zeitaufwand sei auch von der individuellen Situation der Kinder und Jugendlichen und ihren Familie abhängig. Dies wurde ebenfalls im Jahr 2007 schon so gesehen. Damals konnten zum individuellen Zeitaufwand keine konkreten Aussagen getroffen werden, da fallspezifische Unterschiede von einmal täglicher bis einmal monatlicher Eltern- und Familienarbeit deutlich wurden (28f ). Fast die Hälfte (49 %) der Befragten geht davon aus, dass die Möglichkeiten bzw. die Bereitschaft der Eltern zur Mitarbeit als mittelmäßig einzustufen sind. 27 % der Befragten schätzen diese jedoch als hoch bis sehr hoch ein, aber etwa ein Viertel (24 %) empfindet die Möglichkeiten bzw. die Bereitschaft der Eltern als zu gering. Dabei handelt es sich insbesondere um Fachpersonal, welches angibt, keine professionellen Methoden zu nutzen. Gerade in solchen Fällen müssten Eltern zunächst mittels niedrigschwelliger Angebote motiviert und vor allem als wichtige Bezugspersonen für ihre Kinder von den Fachkräften akzeptiert werden. „Insbesondere Eltern, die nicht aus eigenem Antrieb Beratungs- und Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen, sind den sozialpädagogischen Fachkräften gegenüber häufig eher misstrauisch und wenig aufgeschlossen eingestellt“ (Gragert/ Seckinger, 2008, 8). In der Studie von 2007 wurden relativ große Unterschiede in der Bereitschaft der Eltern und Familien zur Zusammenarbeit festgestellt. Damals attestierten etwa ein Fünftel der befragten Personen den Eltern eine hohe Mitarbeitsbereitschaft. Es wurden allerdings auch die Unzuverlässigkeit der Eltern, mangelnde Motivation und Widerstände gegenüber der Einrichtung benannt. Nur wenige sahen bei den Eltern eine hohe Motivation zur Mitarbeit (Günder/ Reidegeld 2007, 28f ). Nun äußern 62 % der Befragten, dass Eltern- und Familienarbeit in hohem bzw. sehr hohem Maße dazu beitrage, die in der Hilfeplanung gesetzten Ziele zu erreichen. 26 % beurteilen die Möglichkeit zur Zielerreichung nur teilweise durch Eltern- und Familienarbeit begünstigt. Nur 2 % gehen hier von einem ganz geringen Maße aus. Aus den Bemerkungen zu dieser Frage geht unter anderem hervor, dass die Fachkräfte es als wichtig ansehen, die Eltern und Familien in die Erziehungsprozesse konkret mit einzubeziehen. Interessant erscheint die Tatsache, dass von den Fachkräften, welche professionelle Methoden in der Eltern- und Familienarbeit einsetzen, die Bereitschaft sowie die Möglichkeiten der Eltern zur Zusammenarbeit als positiv beurteilt werden. Dagegen schätzen die MitarbeiterInnen, die keine professionellen Methoden genannt haben, die Fähigkeiten der Eltern eher als gering ein. Mit der überaus positiven Beurteilung der Wirkung von Eltern- und Familienarbeit korrespondieren die Ergebnisse einer Studie, in der „ein gesicherter signifikanter Zusammenhang zwischen Elternarbeit und Hilfeverlauf“ festgestellt wurde. „Das heißt, bei einer regelmäßigen Elternarbeit kommt es vermehrt zu regulären Entlassungen und bei einer seltenen Elternarbeit vermehrt zu vorzeitigen Abbrüchen“ (Schmidt-Neumeyer u. a. 2002, 297). Wenn regelmäßig mit den Eltern gearbeitet wurde, dann waren 66,7 % der Entlassungen regulär. In den Fällen eines vorzeitigen Abbruchs der Stationären Erziehungshilfe ging dies in 77,8 % der Fälle mit seltener Elternarbeit einher (297). Dem entsprechen auch die Resultate des Forschungsprojekts JULE: „Findet Elternarbeit statt, so zeigen sich in fünf von sechs Hilfeverläufen positive Entwicklungen, findet keine Elternarbeit statt, so verläuft annähernd jeder dritte Fall negativ“ (Hamberger 1998, 221f ). Ähnlich äußert sich Hofer (2005, 5): „Die Erfolgschancen der Heimunterbringung erhö- 389 uj 9 | 2013 Familienarbeit in Heimeinrichtungen hen sich deutlich, wenn Aspekte wie Familienorientierung, Ressourcen- und Lösungsorientierung, Verbindlichkeit als konsequente Grundhaltung der Gesamteinrichtung, insbesondere in der Pädagogik, verankert sind und nicht ausschließlich im gruppenergänzenden Dienst als therapeutische Zusatzleistung angeboten werden.“ 58 % aller im Jahr 2013 Befragten geben an, dass seit dem Beginn ihrer Zugehörigkeit in der Einrichtung signifikante Veränderungen in der Eltern- und Familienarbeit deutlich wurden. Hauptsächlich wurden folgende Veränderungen aufgeführt: ➤ die Eltern- und Familienarbeit sei insgesamt umfänglicher geworden, ➤ ihre Methoden seien regelmäßig erweitert worden, ➤ es habe eine Haltungsänderung gegenüber der Eltern- und Familienarbeit stattgefunden. Relativ viele der Befragten glauben, dass die Eltern- und Familienarbeit insgesamt einen hohen Stellenwert in der Heimerziehung einnehme und attestieren ihr eine zunehmende Wichtigkeit. Gleichzeitig werden jedoch Umsetzungsschwierigkeiten beklagt. Es würden finanzielle und personelle Ressourcen fehlen. Eine weitere Optimierung der Eltern- und Familienarbeit wird daher als notwendig erachtet. In der Studie von 2007 wurde eine defizitorientierte Haltung gegenüber den Eltern und Familien deutlich. Eine Orientierung an ihren Ressourcen fehlte damals überwiegend. Andererseits gaben schon im Jahr 2007 etwa 50 % der befragten Personen an, dass die Eltern- und Familienarbeit im Konzept ihrer Einrichtung verankert sei, manche äußerten sogar, dass die Bereitschaft zur Mitwirkung an der Eltern- und Familienarbeit eine notwendige Aufnahmevoraussetzung sei. Dies waren Indizien für den teilweise relativ hohen Stellenwert der Eltern- und Familienarbeit (Günder/ Reidegeld 2007, 28f ). Wie sollte die Eltern- und Familienarbeit zukünftig aussehen? Die befragten Fachkräfte wünschen sich, dass Heimerziehung in Zukunft intensiver auf Eltern, Familien und deren Lebenssituationen eingehen kann. Auch die Jugendämter sollten diesen Arbeitsbereich noch wichtiger nehmen und entsprechend unterstützen. Es wird eine Vielfältigkeit professioneller Methoden erwünscht, entsprechende Aus- und Fortbildungen sowie mehr Zeit. Einige fordern mehr externes Personal für den Bereich der Eltern- und Familienarbeit. Es wird außerdem die Eigenmotivation der Eltern, deren Bereitschaft und Pflicht zur Mitarbeit angesprochen. Nur eine Minderheit geht davon aus, dass keinerlei Notwendigkeit einer Veränderung gegeben sei. Resümee ➤ Wie auch schon in den Untersuchungsergebnissen aus dem Jahr 2007 sind etwa zwei Drittel der Befragten der Meinung, dass der Zeitaufwand für die Eltern- und Familienarbeit angemessen sei. ➤ Die Mehrzahl der befragten Fachkräfte hat sich die Qualifikationen für die Eltern- und Familienarbeit nicht während der Ausbildung oder während des Studiums angeeignet, sondern erst danach. Nach wie vor scheint es so zu sein, dass „… zumindest die Berufsgruppe der ErzieherInnen - in ihrer Ausbildung fast ausschließlich auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen vorbereitet werden. Eltern- und Familienarbeit ist aber als eine Form der Erwachsenenbildung zu verstehen, für die spezielle und erprobte Gesprächsformen und Methoden benötigt werden“ (Gragert/ Seckinger 2008, 7). Entsprechend beurteilt dies auch Hofer (2005, 2): „Eltern- und Familienarbeit ist mittlerweile fester Bestandteil der Leistungsbeschreibung von Heim- 390 uj 9 | 2013 Familienarbeit in Heimeinrichtungen erziehung geworden, aber keinesfalls fester Bestandteil der Ausbildung von HeimerzieherInnen.“ ➤ Während in der früheren Studie nur eine Minderheit die Motivation der Eltern zur Zusammenarbeit als hoch ansah, beurteilen nun etwa zwei Drittel der Fachkräfte, dass die Bereitschaft und die Möglichkeiten der Eltern zur Zusammenarbeit mittelmäßig bis hoch ausprägt seien. ➤ Fast drei Viertel der Befragten geben an, dass die Realisierung der Ziele der Hilfeplanung durch die Eltern- und Familienarbeit gut unterstützt wird. Diese Gruppe gibt auch nahezu immer an, dass sie professionelle Methoden einsetzt. Die Ergebnisse der Studie zeigen auf, dass die Eltern- und Familienarbeit zwischenzeitlich einen hohen Stellenwert eingenommen hat. Die Orientierung an systemischen Ansätzen spielt bei der Begründung der Eltern- und Familienarbeit, in den Schwerpunktsetzungen einzelner Institutionen und als bevorzugte professionelle Methode eine herausragende Rolle. Prof. Richard Günder Fachhochschule Dortmund Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften Postfach 10 50 18 44047 Dortmund guender@fh-dortmund.de Literatur Gragert, N./ Seckinger, M., 2008: Herausforderungen für die Zusammenarbeit mit Eltern in den Erziehungshilfen. In: Forum Erziehungshilfen, 14. Jg., H. 1, S. 4 - 9 Günder, R., 4 2011: Praxis und Methoden der Heimerziehung. Entwicklungen, Veränderungen und Perspektiven der stationären Erziehungshilfe. Freiburg Günder R./ Reidegeld, E., 2007: Stationäre Erziehungshilfe hat ein Elternproblem. In: neue caritas, 108 Jg., H. 9, S. 27 - 29 Hamberger, M., 1998: Erzieherische Hilfen im Heim. In: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Leistungen und Grenzen von Heimerziehung. Ergebnisse einer Evaluationsstudie stationärer und teilstationärer Erziehungshilfen. Stuttgart, S. 200 - 258 Hofer, B., 2005: Qualifizierungsangebote für MitarbeiterInnen zur Elternarbeit. In: unsere Jugend, 57. Jg., H. 1, S. 2 - 9 Kandziora, E., 7 2011: Systemischer Ansatz. In: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.): Fachlexikon der sozialen Arbeit. Baden-Baden, S. 893 - 894 Mühlum, A., 7 2011: Sozialarbeit/ Sozialpädagogik. In: Fachlexikon der sozialen Arbeit. Hrsg.: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge. Baden- Baden, S. 773 - 777 Schmidt-Neumeyer, H./ Vossler, A., 2002: Der Zusammenhang von Elternarbeit und Hilfeverlauf. In: unsere Jugend, 54. Jg., H. 7/ 8, S. 291 - 300 Statistisches Bundesamt, 2012: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Einrichtungen und tätige Personen 2010. Wiesbaden Taube, K., 2000: Von der Elternarbeit zur systemischen Familienarbeit in der Heimerziehung. In Sozialpädagogisches Institut im SOS-Kinderdorf e. V. (Hrsg.): Zurück zu den Eltern. München, S. 16 - 73 Treptow, R., 2012: Bildungsprozesse im Feld der Heimerziehung. Partizipation, Transparenz, Weltbezüge. In: Forum Erziehungshilfen, 18. Jg., H. 3, S. 132-135 Wurtzbacher, J., 7 2011: Partizipation. In: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.): Fachlexikon der sozialen Arbeit. Baden-Baden, S. 634