unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2014
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Jugendliche Handynutzung in der Heimerziehung und ihre Bedeutung für pädagogisches Handeln
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2014
Michael Behnisch
Carina Gerner
Nahezu alle Jugendlichen verfügen über ein Handy (MPFS 2011, 57). Dieses bietet den Jugendlichen heute verschiedene Möglichkeiten, die weit über den kommunikativen Nutzen eines Mobiltelefons hinausreichen. Wie allerdings Jugendliche aus Heim-Wohngruppen das Handy nutzen und wie sich dieses Medium im Heimalltag auswirkt, diese Fragen wurden bei bisherigen Untersuchungen zur Handynutzung weitgehend außer Acht gelassen (Ansätze dazu bei Breithecker/Freesemann 2001; 2003; Tully/Stockhausen 2006).
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2 unsere jugend, 66. Jg., S. 2 - 7 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art02d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Jugendliche Handynutzung in der Heimerziehung und ihre Bedeutung für pädagogisches Handeln Nahezu alle Jugendlichen verfügen über ein Handy (MPFS 2011, 57). Dieses bietet den Jugendlichen heute verschiedene Möglichkeiten, die weit über den kommunikativen Nutzen eines Mobiltelefons hinausreichen. Wie allerdings Jugendliche aus Heim-Wohngruppen das Handy nutzen und wie sich dieses Medium im Heimalltag auswirkt, diese Fragen wurden bei bisherigen Untersuchungen zur Handynutzung weitgehend außer Acht gelassen (Ansätze dazu bei Breithecker/ Freesemann 2001; 2003; Tully/ Stockhausen 2006). von Dr. Michael Behnisch Jg. 1972; Professor für Konzepte und Methoden Sozialer Arbeit an der Fachhochschule Frankfurt am Main Das genannte Desiderat war für die Fachhochschule Frankfurt/ Main und die IGfH (Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen) der Anlass, ein Forschungsprojekt zur jugendlichen Handynutzung in der Heimerziehung durchzuführen. Es wurde untersucht, wie Nutzung und Umgang mit diesem Medium den Alltag in Wohngruppen verändern. Zudem sollte herausgefunden werden, welche subjektive Bedeutung das Handy für die Jugendlichen einnimmt - und wie Fachkräfte dies im gemeinsam gestalteten pädagogischen Alltag berücksichtigen. Dabei zeigen die Ergebnisse insbesondere, dass sich der Umgang mit dem Handy oftmals im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch jugendlicher Selbstständigkeit einerseits und dem Wunsch pädagogischer Kontrolle andererseits vollzieht. Daher soll dieser Aspekt im Folgenden genauer dargestellt und hinsichtlich der Relevanz für pädagogisches Handeln kurz skizziert werden. Zunächst jedoch werden das Forschungsprojekt und seine zentralen Ergebnisse in Kürze vorgestellt. Projektüberblick und zentrale Ergebnisse Das Projekt wurde zwischen September 2010 und März 2012 gemeinsam von der FH Frankfurt am Main und der IGfH (Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen, Frankfurt) durchgeführt. Bei der Umsetzung des For- Carina Gerner Jg. 1988; Sozialpädagogin (B. A.), Mitarbeiterin beim Oberlin e. V. in Ulm - evangelische Einrichtung für Jugendhilfe 3 uj 1 | 2014 Handynutzung in der Heimerziehung schungsvorhabens kamen quantitative und qualitative Methoden zum Einsatz. Um vorhandene Hypothesen zu überprüfen und neue Fragestellungen in diesem noch wenig erforschten Themenbereich zu gewinnen, wurde zu Beginn des Forschungsprozesses eine Fokusgruppe als moderierte Expertendiskussion durchgeführt. Darauf folgte eine quantitative Befragung von Fachkräften aus Jugend-Wohngruppen, wobei 150 Fragebögen aus 25 verschiedenen Einrichtungen in die Untersuchung einflossen. Des Weiteren erhielten 21 Jugendliche (aus fünf verschiedenen Einrichtungen) Beobachtungsprotokolle, in die sie über einen Zeitraum von drei Wochen täglich ihre individuelle Handynutzung für den jeweiligen Tag protokollierten. Aufgrund der sehr hohen Rücklaufquote (93 Prozent mit insgesamt 412 Protokollen) beruhen die Forschungsergebnisse auf einer fundierten empirischen Grundlage. Der Fokus des Forschungsprojekts richtete sich weniger auf die technischen Funktionen des Handys, sondern auf das Medium in seiner Bedeutung für Beziehungsgestaltungen. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse des Projekts zusammengefasst (vgl. Behnisch/ Henseler 2012). ➤ 77 Prozent der befragten Jugendlichen geben an, dass ihnen das Handy in der Wohngruppe (sehr) wichtig ist. Die Fachkräfte teilen diese große Bedeutung der Handynutzung nicht nur, sondern schätzen diese sogar noch höher ein. ➤ Am häufigsten werden Freunde und Familienangehörige außerhalb der Wohngruppe kontaktiert, weshalb die Außenkommunikation eine zentrale Funktion der Handynutzung einnimmt. Bei 80 Prozent der Jugendlichen zeigt sich dabei die Anzahl der kontaktierten Personen (ein bis fünf am Tag) als vergleichsweise kleine, überschaubare soziale Gruppe. ➤ Das Handy dient den Jugendlichen nicht nur zur Kommunikation, sondern auch zur Unterhaltung und zur Alltagsstrukturierung (v. a. durch Musikhören und Weckerfunktion). Die insgesamt große Bandbreite der genutzten Funktionen zeigt die Differenziertheit der jugendlichen Kommunikation und lässt einen kompetenten Umgang der Jugendlichen mit ihrem Handy vermuten. ➤ Eine Diskrepanz ergibt sich bei der Frage nach der Bedeutung der technischen Ausstattung des Handys. Die Fachkräfte bewerten diese höher (44 Prozent) als die Jugendlichen (28 Prozent), die der technischen Funktion eine geringere Bedeutung beimessen. ➤ Aus den 21 Tagesprotokollen kann entnommen werden, dass die monatlichen Handykosten zumeist zwischen 11 und 30 Euro betragen. Lediglich ein Jugendlicher gibt an, dass die Aufwendung sich auf über 50 Euro beläuft. Bei der Befragung der Fachkräfte teilen mehr als 50 Prozent mit, nicht zu wissen, wie viel Geld die Jugendlichen für ihr Handy ausgeben. 44 Prozent hingegen können die tatsächlichen Kosten richtig einschätzen. ➤ Die Fachkräfte geben an, dass sie eine Veränderung im Wohngruppenalltag sowie den (negativen) Einfluss auf Gruppenaktivitäten als eher gering einschätzen. Dies lässt vermuten, dass Regeln bezüglich der Handynutzung bestehen, die von den Jugendlichen eingehalten werden. Denkbar wäre auch, dass das Handy deshalb nicht als Störung von Gruppenaktivitäten bewertet wird, da dieses mittlerweile ein selbstverständlicher Bestandteil des Alltags geworden ist. ➤ Mit Blick auf die Frage nach häufigeren Elternkontakten durch das Handy ergeben sich sehr heterogene Ergebnisse: 46 Prozent der Fachkräfte geben an, dass durch die Handynutzung häufiger Kontakte zwischen Eltern und Kind stattfinden - 50 Prozent wiederum bewerten dies als nicht oder kaum zutreffend. Dieses Ergebnis lässt darauf schließen, dass der Zusammenhang von Handynutzung und Elternarbeit in der Praxis sehr unterschiedlich gehandhabt und wahrgenommen wird. 4 uj 1 | 2014 Handynutzung in der Heimerziehung ➤ Bei der Frage nach Fortbildungsbedarfen sehen über die Hälfte der Fachkräfte einen besonderen Bedarf an rechtlichen Informationen (v. a. Jugendschutz). An zweiter Stelle folgen Fortbildungswünsche hinsichtlich der technischen Funktionen, erst in dritter Reihe werden konzeptionelle und methodische Themen genannt. Dieses Ergebnis verdeutlicht, dass die Fachkräfte vor allem an Fortbildungen interessiert sind, die rechtliche oder technische Unsicherheiten und Wissenslücken zu schließen helfen sollen. Die bis hierher skizzierten Projektergebnisse zeigen, dass die Bedeutung der jugendlichen Handynutzung in Wohngruppen deutlich über die Frage der technischen Nutzung hinausreicht. Das Handy ist zu einem den pädagogischen Alltag strukturierenden Gegenstand geworden - dieser berührt verschiedenste Bereiche einer Wohngruppe wie etwa die Elternarbeit, Gruppenaktivitäten oder die Regelaushandlung. Gleichwohl werden Alltagsgegenstände wie das Handy im täglichen Handeln der Wohngruppen oftmals unterschätzt und wird deren pädagogische Relevanz leicht übersehen; dies gilt etwa auch für das gemeinsame Essen (vgl. Behnisch/ Zörner 2011). Die Heimerziehung hat diese Alltagsgegenstände in den Blick zu nehmen, differenziert zu betrachten, zu reflektieren und als pädagogisches Aneignungsobjekt ernst zu nehmen. Dass dies in der Praxis bisher eher unzureichend geschieht, verdeutlichen exemplarisch unsere Projektergebnisse. Der Klärungs- und Verständigungsbedarf, die vorhandenen Unsicherheiten und offenen Fragen beziehen sich dabei auffällig häufig auf den Umgang mit dem Handy „zwischen Selbstständigkeit und Kontrolle“. Wie unter einem Brennglas zeigt sich dieses klassische pädagogische Thema am Beispiel der Handynutzung. Diese These wird im Folgenden anhand der Projektergebnisse näher erläutert und hinsichtlich ihrer pädagogischen Handlungsaufforderung diskutiert. Dabei soll vor allem gezeigt werden, dass der Handyumgang als Aneignungshandeln genutzt werden kann, um Selbstständigkeit einzuüben sowie Medienkompetenz und Teilhabe zu fördern. Handynutzung zwischen Selbstständigkeitswunsch und pädagogischer Kontrolle - zur Sicht der Jugendlichen und der Fachkräfte auf die Handynutzung Erstens: Der Wunsch nach jugendlicher Selbstständigkeit zeigt sich zunächst in der Nutzung des Handys als Außenkommunikationsmittel: Die häufigsten Kontakte über das Handy finden zu FreundInnen außerhalb der Wohngruppe statt, gefolgt vom Kontakt zur Mutter, zur/ m LiebespartnerIn, zu Geschwistern sowie zum Vater. Handykontakte zu Personen innerhalb der Wohngruppe werden demgegenüber deutlich seltener angegeben. Die Aktivierung eines Netzwerkes stellt für die befragten Jugendlichen also eine zentrale Funktion ihres Handys dar, damit eine Möglichkeit der Autonomiegewinnung, die sich auf die Menschen und das Leben außerhalb der Wohngruppe richtet. Eine weitere - durch die Handynutzung unterstützte - Gewinnung von Selbstständigkeit zeigt sich in der Bedeutung des spontanen Verabredens: 71 Prozent der Jugendlichen nennen dies als besonders wichtigen Aspekt der Handynutzung und verweisen damit auf ihren Wunsch nach selbstbestimmter Verfügung über die eigene Zeit. Bezüglich dieser Bedeutung der Außenkommunikation zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen der Wahrnehmung der Jugendlichen und jener der Fachkräfte: Lediglich 16 Prozent der MitarbeiterInnen benennen das spontane Verabreden als besonders wichtig für die Jugendlichen (Jugendliche: 71 Prozent). Die Fachkräfte stimmen auch lediglich zu 34 Prozent der These zu, die Jugendlichen hätten durch das 5 uj 1 | 2014 Handynutzung in der Heimerziehung Handy „mehr oder andere Kontakte außerhalb der Wohngruppe“, sowie zu 32 Prozent der These, wonach sich Jugendliche aufgrund der Handynutzung häufiger spontan verabreden. Während schließlich 90 Prozent der Jugendlichen die Kontaktmöglichkeit zu Freunden außerhalb der Wohngruppe als besonders wichtig erachten, vermuten dies bei den Fachkräften nur 68 Prozent. Zweitens: In diesen Aussagen deutet sich bereits an, dass für die Fachkräfte ein anderer Aspekt als jener des Autonomiewunsches der Jugendlichen in den Vordergrund rückt: Es lässt sich stattdessen ein Umgang mit der Handynutzung erkennen, der sich im Spannungsfeld aus pädagogischer Verantwortung und Kontrolle zeigt. Eine überwiegende Mehrheit der Fachkräfte (71 Prozent) hält es demnach für (sehr) wichtig, die „Handynutzung der Jugendlichen im Blick zu behalten oder zu kontrollieren“. Dieses Ergebnis deckt sich mit der Antwort, nach der die „rechtliche Information/ Schutzfunktion“ als wichtigstes Fortbildungsthema benannt wird. Die hier erkennbare Tendenz verdichtet sich mit Blick auf die starke Bejahung der These „Die Gefahren für den Jugendschutz sind durch die Handynutzung gestiegen“: Diese Aussage erhält mit 58 Prozent die höchste Zustimmung aller den Fachkräften vorgelegten Thesen zur Handynutzung. Der Wunsch nach Kontrolle und Verantwortung zeigt sich schließlich auch in der Auskunft der MitarbeiterInnen, die zu 70 Prozent angeben, dass die Jugendlichen zu bestimmten Zeiten ihr Handy abgeben müssen und die Abgabe in rund 50 Prozent der Wohngruppen auch als Strafe eingesetzt wird. Allerdings legen unsere Ergebnisse die Vermutung nahe, dass diese Kontrollregeln zwar prinzipiell bestehen, im alltäglichen Handeln aber deutlich seltener umgesetzt werden, denn: Nur etwa 30 Prozent der Jugendlichen geben an, sie müssten ihr Handy zu bestimmten Zeiten abgeben, und lediglich 19 Prozent bestätigen, dass die Handyabgabe als Sanktion eingesetzt werde. Eine solche, relativ hohe Zustimmung zur Kontrolle jugendlicher Handynutzung erscheint einerseits nachvollziehbar angesichts der möglichen Negativfolgen jugendlicher Handynutzung (gefährdende Inhalte, Kontaktaufnahme zu schädigenden Personen, Verschuldung) sowie der besonderen erzieherischen Verantwortung der Heimerziehung als primärem Lebensort der Jugendlichen. Andererseits steht dem unser Forschungsbefund gegenüber, wonach sich diese allgemeine Kontrollnotwendigkeit aus den sonstigen Einschätzungen und Erfahrungen der Fachkräfte nicht ableitet: Die Verschuldungsgefahr wird als gering eingeschätzt; lediglich sieben Prozent vermuten „unerwünschte Inhalte“ auf dem Handy als (sehr) häufig; negative Einflüsse auf die Gruppenaktivitäten werden von 69 Prozent der befragten Fachkräfte verneint. Drittens: In den Einschätzungen von Jugendlichen und Fachkräften deuten sich also zwei unterschiedliche Perspektiven an, die gleichwohl beide ihre Berechtigung erlangen: Während Jugendliche entwicklungsbedingt nach Autonomie streben, fällt Fachkräften am „öffentlichen Lebensort Wohngruppe“ sowie in der Arbeit mit biografisch belasteten Jugendlichen eine besondere Verantwortung zu. Die MitarbeiterInnen sind sich dieser Verantwortung bewusst und entwickeln sensible Wahrnehmungen gegenüber dem Einfluss schädigender Informationen oder gegenüber dem unvorsichtigen Verschicken von Fotos oder Informationen, die Jugendliche in große Schwierigkeiten bringen oder sogar Krisen auslösen können. Die Fachkräfte müssen, allgemein gesagt, einen pädagogisch verantworteten Rahmen für die individualisierten Formen der Kommunikation ermöglichen und dabei auch dem institutionellen Schutzverständnis Rechnung tragen. Der (meist) kritische und seinerseits kontrollierende Außenblick auf die Heimerziehung verstärkt darüber hinaus die geäußerte Kontrollnotwendigkeit jugendlicher Handynutzung - wer will sich schon seitens des Jugendamtes oder der Eltern nachsagen lassen, unaufmerksam und nachlässig gewesen zu sein? 6 uj 1 | 2014 Handynutzung in der Heimerziehung Die Projektergebnisse legen also den Blick dafür frei, dass sich am Beispiel der Handynutzung der jugendliche Wunsch nach Autonomie (als Entwicklungsschritt) ebenso zeigt wie der Wunsch der Fachkräfte nach pädagogischer Verantwortung und Kontrolle (als pädagogischer Auftrag). Die pädagogisch relevante Frage ist nun, wie beide Sichtweisen und Notwendigkeiten ernst genommen und in Handeln übersetzt werden können; dazu im Folgenden einige Anmerkungen. Pädagogische Aufgaben im Umgang mit jugendlicher Handynutzung Die Handynutzung sollte als wichtiges Merkmal der Alltagsgestaltung in Wohngruppen verstärkt wahrgenommen werden, um die verschiedenen Sichtweisen auf die Handynutzung erkennen und die eigenen Annahmen kritisch überprüfen zu können. Mehr noch: Der Umgang mit dem Mobiltelefon kann bewusst als Bildungs- und Aneignungsmöglichkeit der Heimpädagogik aufgegriffen werden. Ein solcher Aneignungsprozess im Spannungsfeld aus pädagogischer Kontrolle und der Förderung jugendlicher Selbstbestimmung verweist auf ein klassisches pädagogisches Paradox: Kinder und Jugendliche sollen durch Bildungsaufforderungen (und -zumutungen) - damit immer auch durch Zwangsmomente - zur Mündigkeit und Selbstständigkeit geführt werden. Legitimation erhält ein solches Paradox, in Anlehnung an Kant, wenn der ausgeübte Zwang zur Freiheit führt. Übersetzt heißt dies: Die pädagogische Kontrolle der Handynutzung darf sich nur legitimieren, indem sie das Ziel der Mündigkeit verfolgt, also den selbstbestimmten und selbstwirksamen Umgang mit dem Medium. Dieses pädagogische Ziel vollzieht sich als Aneignungshandeln, das nach Winkler (2006, 264ff ) dadurch gekennzeichnet ist, dass aus Bildungsangeboten selbsttätiges Handeln der Jugendlichen entsteht, welches sich schließlich im praktischen, folgenreichen Handeln in gesellschaftlicher Praxis bewähren muss. Das Ziel besteht also in einer selbstbestimmten, gleichwohl auf eine Abwägung von Gefahren und Möglichkeiten bezogene Handynutzung als Teil von Medienkompetenz und gesellschaftlicher Teilhabe. Um sich dies aneignen zu können, benötigen Jugendliche Geduld und ein fehlerfreundliches Umfeld (Winkler 2006, 279ff ): Heranwachsende müssen experimentieren dürfen, bereits erworbene Regeln im Umgang mit der Handynutzung müssen erprobt und gefestigt werden; dazu braucht es initiierte Gelegenheiten und Übungsmöglichkeiten, aber auch eine Haltung, die Irrtümer erlaubt. Insbesondere mit Blick auf die Handynutzung sind Fachkräfte darauf angewiesen, das dafür notwendige Vertrauen in das Handeln der Jugendlichen zu setzen: Mediennutzung hat sich individualisiert und der Kontrolle stärker entzogen - vorbei sind die Zeiten des abschließbaren Fernsehschranks im Gruppen-Wohnzimmer oder das Telefonieren im Erzieherzimmer. Der gegenseitige Vertrauensvorschuss im Aneignungsprozess eröffnet damit auch neue Optionen. Das Handy erlangt seine soziale Funktion vor allem als Außenkommunikationsmittel (s. o.), wodurch v. a. die Pädagogik der Heimerziehung stärker als früher in die sozialen und kulturellen Netzwerke von Jugendlichen hineinreicht. Daher müssen Aneignungsprozesse berücksichtigen, dass digitale Kommunikation neue Formen der sozialen Beziehungsgestaltung hervorbringt, wobei insbesondere die Peergroup eine wichtige Orientierungsfunktion einnimmt. Diese Entwicklung ist mit erhöhten Informations- und Beteiligungschancen von Jugendlichen in den Heim-Wohngruppen verbunden, bringt jedoch auch mehr Verantwortung mit sich. Anders gesagt, sind Jugendliche für ihre Einbettung in soziale Netzwerke, für die Gestaltung und Folgen 7 uj 1 | 2014 Handynutzung in der Heimerziehung der dortigen Beziehungen stärker selbst verantwortlich. Die Handynutzung kann daher gut genutzt werden, um die Bedeutung sozialer Beziehungen mit Jugendlichen zu besprechen und Gruppenprozesse zu unterstützen (allg. Behnisch/ Lotz/ Maierhof 2013; Hartwig/ Kanz/ Schone 2010). Ähnliches gilt für die Beziehungsgestaltung zu den Eltern sowie für die Aneignung von Orten durch Jugendliche: Die Handynutzung erhöht die räumliche Mobilität, Jugendliche eignen sich Orte schneller an und wechseln diese häufiger (Tully/ Zerle 2005). In unserem Forschungsprojekt hat sich die Frage, inwieweit gelingende, „lebbare“ Beziehungen durch die Handynutzung eher behindert (Flüchtigkeit der Kontakte, Problematik der spontanen Verabredungen) oder gefördert werden (Außenkontakte, Einbettung in soziale Netzwerke), mehrfach angedeutet. Ein unterstützter Lernprozess benötigt daher auch Erwachsene, die Zusammenhänge deutlich machen, kritisch bleiben, über die gesellschaftliche Bedeutung und Problematiken von Medien aufklären können und dadurch„Differenzen zwischen Wertvollem und weniger Wertvollem“ (Winkler 2006, 279) zur Diskussion stellen - auch um Aneignung durch Widerspruch zu provozieren. Die Projektergebnisse verdeutlichen also einige Anknüpfungspunkte, um den Umgang mit jugendlicher Handynutzung als relevanten, bewussten Lernprozess zwischen Kontrolle und Mündigkeit für die Wohngruppenpädagogik aufzugreifen. Das Ziel besteht in einer selbst bestimmten Urteilsfähigkeit im Umgang mit dem Handy. Bei diesem Prozess benötigen Jugendliche Unterstützung durch die Fachkräfte - die dazu Bedeutung und Nutzung digitaler Medien durch die Jugendlichen aber erst einmal erkennen, wertschätzen und als Bildungsaufforderung in die Konzepte der Heimerziehung einbeziehen müssen. Dr. Michael Behnisch Fachhochschule Frankfurt am Main Nibelungenplatz 1 60318 Frankfurt am Main behnisch@fb4.fh-frankfurt.de Carina Gerner Oberlin e. V. Virchowstraße 6 89075 Ulm carina.gerner@gmx.de Literatur Behnisch, M./ Henseler, C., 2012: Handynutzung in der Heimerziehung - zwischen Kompetenzgewinn und Kontrolle. In: Forum Erziehungshilfen, 19. Jg., H. 4, S. 240 - 245 Behnisch, M./ Lotz, W./ Maierhof, G., 2013: Soziale Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Theoretische Grundlage, methodische Konzeption, empirische Analyse. Weinheim/ München Behnisch, M./ Zörner, S., 2010: „Zum Abendbrot bist du wieder da.“ Funktion und Bedeutung von Essenssituationen in der Heimerziehung. In: Evangelische Jugendhilfe, 87. Jg., H. 5, S. 287 - 294 Breithecker, R./ Freesemann, O., 2001: Handys in der Jugendhilfe. In: Unsere Jugend, 53. Jg., H. 7 - 8, S. 326 - 333 Breithecker, R./ Freesemann, O., 2003: Die Generation der Handy Kids - worauf muss sich die Jugendhilfe einstellen? In: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, 54. Jg., H. 1, S. 18 - 24 Hartwig, L/ Kanz, C./ Schone, R., 2010: Gruppenpädagogik in der Heimerziehung. Frankfurt am Main MPFS (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest), 2011: JIM-Studie 2011. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12bis 19-Jähriger. www.mpfs.de/ fileadmin/ JIM-pdf11/ JIM2011.pdf, 24. 9. 2013, 72 Seiten Tully, C. J./ Zerle, C., 2005: Handys und jugendliche Alltagswelt. In: Merz. Medien und Erziehung, 49. Jg., H. 3, S. 11 - 16 Tully, C. J./ Stockhausen, T., 2006: Das Handy. Ein Objekt im Jugendalltag und ein Thema der Jugendarbeit. In: Deutsche Jugend, 54. Jg., H. 3, S. 105 - 113 Winkler, M., 2006: Kritik der Pädagogik. Der Sinn der Erziehung. Stuttgart
