unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2014
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Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe
31
2014
Robert Lehmann
Wolfgang Klug
Jennifer Burghardt
Die Bedeutung anwendungsorientierter Forschung für die Weiterentwicklung der Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit wird heutzutage kaum mehr bestritten (Oelerich/Otto 2011). Insbesondere die Evaluation von Angeboten der Sozialen Arbeit ist dabei ein Fokus einer großen Zahl von Studien und Forschungsberichten (Haubrich 2009).
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125 unsere jugend, 66. Jg., S. 125 - 137 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art14d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Robert Lehmann Jg. 1978, Dipl.-Soz.päd. (FH), Dr. phil., Akademischer Rat für empirische Forschungsmethoden in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Universität Eichstätt- Ingolstadt Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe Ein Methodenbericht Die Bedeutung anwendungsorientierter Forschung für die Weiterentwicklung der Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit wird heutzutage kaum mehr bestritten (Oelerich/ Otto 2011). Insbesondere die Evaluation von Angeboten der Sozialen Arbeit ist dabei ein Fokus einer großen Zahl von Studien und Forschungsberichten (Haubrich 2009). Die meisten Evaluationsprojekte stehen vor dem forschungsmethodischen Problem, wie sie das Denken und Handeln der SozialarbeiterInnen angemessen erfassen können, um es anschließend wissenschaftlich analysieren zu können. Dabei sind klassische Erhebungsmethoden wie die unterschiedlichen Formen der Befragung oder auch die teilnehmende Beobachtung oft problematisch. Befragungsmethoden führen zwangsläufig dazu, dass die AkteurInnen ihre Einschätzung in einer reflektierten Form und im organisatorischen Rahmen einer offiziellen Befragung darlegen. Dadurch sind jedoch Verzerrungseffekte wie sozial erwünschte Antwortgabe nie auszuschließen. Auch bei teilnehmenden Beobachtungen muss immer davon ausgegangen werden, dass die Anwesenheit beobachtender Personen die Validität der Ergebnisse verringert. Sowohl aus diesen methodischen Argumenten als auch aus finanziellen Erwägungen erscheinen non-reaktive Verfahren zur Beurteilung sozialarbeiterischen Handelns sehr gut geeignet zu sein. Insbesondere in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, die z. B. aus gesetzlichen Gründen eine nachvollziehbare Dokumentation ihres Handelns in Akten vorhalten, erscheint der Zugang, das Handeln über Aktenanalysen untersuchen und bewerten zu können, vielversprechend. In den einschlägigen Methodenlehrbüchern wird dieser Zugang meist im Kontext qualitativer Dr. Wolfgang Klug Jg.1960, Dipl.-Soz.päd. (FH), M. A. Philosophie, Dr. phil., Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Jennifer Burghardt Jg. 1985, Dipl.-Soz.päd. (FH), Fachsteuerung Jugendgerichtshilfe 126 uj 3 | 2014 Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe Forschung behandelt (z. B. Mayring 2002, 46ff ), häufig als Spezialfall der Inhaltsanalyse (Lamnek 2005, 478ff ). Doch auch dort wird meist hervorgehoben, dass die Aktenanalyse „…in den Einzelwissenschaften selten zum Einsatz …“ kommt (Mayring 2002, 46). In den verschiedenen Publikationen aus dem Bereich der Sozialarbeitswissenschaft wird sie eher zum Verständnis von Gesetzestexten (Müller de Menezes 2012) verwendet oder um historische Zusammenhänge zu erforschen (Hoffmann 2012). Wenn Akten im Rahmen sozialarbeitsrelevanter Studien doch zum Erfassen des professionellen Handelns herangezogen werden, werden sie meist mit klassischen qualitativen Verfahren analysiert (Fröhlich-Gildhoff 2003) und eher für Vorstudien (Fischer/ Ziegenspeck 2009) oder als relativ geringer Anteil eines komplexen Forschungsdesigns verwendet (Albus u. a. 2010). Zwar bestehen auch quantitative Zugänge, meist bilden diese jedoch nur einfache Aspekte wie die Nennungsfrequenz einzelner Inhalte ab. Es wäre sehr wünschenswert, eine Methodik zu entwickeln, die einerseits mit einer möglichst großen inhaltlichen Tiefe das professionelle Handeln, das in den Akten dokumentiert ist, erfasst, andererseits mit möglichst wenig zeitlichem und inhaltlichem Aufwand bei der Analyse der einzelnen Akten durchführbar ist. In einer Studie zu Fallverläufen in einem Jugendamt (Klug/ Lehmann/ Burghardt 2012) wurde dazu die Systematik der Aktenanalyse mit Methoden aus dem Geschäftsprozessmanagement verbunden. Forschende Praxis oder praxisorientierte Forschung: Zur Voraussetzung für Forschung in der Praxis Sozialer Arbeit Wenn von „Entwicklung einer Methodik“ die Rede ist, bedarf es einer Klärung des Wissenschafts- und Praxisverständnisses. Bekanntlich ist das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit nicht ungetrübt und jeder, der einmal in der Praxis geforscht hat, wird das bestätigen. So gibt es in der Praxis durchaus die Position eines „totalen methodischen Nihilismus, der behauptet, dass jeder Fall einzigartig und anders sei, so dass auch die Intervention immer anders sein müsse“ (Göppner/ Hämäläinen 2004, 129). In dieser Sichtweise stellt sich Soziale Arbeit als individualisierte Praxis dar, die im Grunde einer wissenschaftlichen Betrachtung kaum zugänglich ist. Umgekehrt gibt es TheoretikerInnen, die bezweifeln, ob Sozialer Arbeit eine Wissenschaft zugrunde liegen kann (z. B. Lüssi 1998, zit. in Göppner/ Hämäläinen 2004, 46). Ohne das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis hier systematisch analysieren zu können, sollen an dieser Stelle zumindest einige Missverständnisse ausgeräumt werden: (a) Missverständnis 1: Wissenschaft dominiert Praxis Die Vorstellung eines hierarchischen Modells, wonach die Praxis das anzuwenden habe, was die Wissenschaft vorschreibt, scheitert nicht nur in der Sozialen Arbeit an der Realität. Wissenschaft kann immer nur Modelle entwickeln, die niemals vollständig die Realität abbilden, sondern immer nur als Analyse- und Reflexionswerkzeug, als Ausgangspunkt und Reflexionspunkt der Praxis dienen können (Klug 2003). (b) Missverständnis 2: Wissenschaft und Praxis haben nichts miteinander zu tun, sie sind zwei völlig getrennte Systeme In einer strikt positivistisch verstandenen Wissenschaftstheorie mag man die Vorstellung aufrechterhalten können, dass Wissenschaft für sich forscht und Praxis für sich handelt und beide jeweils dann voneinander Kenntnis nehmen, wenn sie (zufällig? ) anschlussfähige Ergebnisse produzieren. Für eine Handlungswissenschaft, als solche sich die Sozialarbeitswissenschaft selbst versteht, ist ein solches Modell undenk- 127 uj 3 | 2014 Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe bar. Eine Handlungswissenschaft bearbeitet Handlungsprobleme professioneller Praxis, die sich in den realen Kontexten tatsächlich ergeben (Sommerfeld 2004). Insofern sind Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit (wie auch der Medizin oder der Betriebswirtschaft) zwar in zwei verschiedenen Bezugssystemen, aber immer aufeinander bezogen. (c) Missverständnis 3: Wissenschaft fordert von der Praxis praxisferne Standardisierungen Wissenschaft befasst sich mit verallgemeinerbarem Wissen. Dazu setzt sie Methoden ein, die ihre Vorgehensweise nachprüfbar und reproduzierbar macht. Dies ist notwendigerweise nur mit standardisierten Verfahren möglich. Dies stößt auf Widerspruch in der Praxis. Wer Soziale Arbeit ausschließlich als individuelle Arbeit„mit der Person“ versteht und Dokumentation mit einer „mächtigen Bürokratie“ assoziiert, die zwangsläufig zur „Ermüdung“ führt und die „Spontaneität verloren gehen lässt“ (Tappen 2008, 184f ), wird sich auf eine streng regelgeleitete wissenschaftliche Vorgehensweise zur Analyse der Praxis kaum einlassen. Für diese SozialarbeiterInnen ist ihre Tätigkeit Interaktion, deren Wesen mit Mitteln der von außen kommenden Wissenschaft nicht zugänglich ist. Die Folgen für die Wissenschaft und Praxis sind allerdings erheblich: Eine individualistische und nicht auswertbare Praxis ist für die Wissenschaft kaum zugänglich, ohne Wissenschaft wird aus einem Beruf keine Profession (Kruse 2010). Einige Folgerungen für unsere Forschung seien genannt: ➤ Wir gehen von einem heterarchischen Wissenschaftsmodell aus, in dem Wissenschaft und Praxis zu beiderseitigem Nutzen ihren jeweiligen Regeln getreu Praxis erforschen, ohne Praxis zu dominieren. Vielmehr wollen wir zeigen, dass es im wohlverstandenen Interesse der Praxis selbst liegt, ihre Prozesse zu dokumentieren und mittels wissenschaftlicher Analyse zu evaluieren. Dies dient nach Überzeugung der AutorInnen einer vertieften Einsicht in stattfindende Prozesse der Praxis, die dieser helfen, sich selbst besser zu verstehen und damit letztlich für ihre KlientInnen Verbesserungen bewirken. ➤ Das von uns vorgeschlagene Verfahren beruht auf der Auswertung von Falldokumentationen, die in der Praxis bereits vorliegen und nicht eigens für wissenschaftliche Zwecke erstellt werden müssen. Insofern bedeutet unser Vorgehen nicht eine praxisferne Anforderung zur Dokumentation, die diese widerwillig und ohne eigenen Nutzen abliefern sollte. ➤ Allerdings setzt eine Kooperation von Wissenschaft und Praxis auf beiden Seiten voraus, dass die „Regeln“ des jeweiligen Partners beachtet werden müssen. So kann die Wissenschaft nur als „tatsächlich geschehen“ attestieren, was dokumentiert ist, während sie umgekehrt zur Kenntnis nehmen muss, dass nicht alles, was nicht dokumentiert ist, gleich unfachlich ist. Insofern lag es methodisch nahe, zusätzlich zu den Dokumenten qualitative Interviews zu führen. Deren Auswertung ist allerdings nicht Teil dieses Artikels. Die Prozessmodellierung zur Vorbereitung der Aktenanalyse Im Bereich der Betriebswirtschaftslehre ist das Prozessmanagement seit Langem ein zentrales Thema. Die Orientierung wirtschaftlichen Handelns an der Prozesslogik kann ohne größere Anstrengungen bis in die Phasen des Taylorismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Das Ziel des Prozessmanagements liegt einerseits darin, Produktivität und Qualität der jeweiligen Organisationen zu erhöhen und andererseits ihre Innovationsfähigkeit zu stärken. Eine bessere Steuerbarkeit der Abläufe durch das Management ist ein weiterer Nutzen, den sich Unternehmen von Prozessma- 128 uj 3 | 2014 Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe nagement erhoffen (Stöger 2011). In den Bereichen der Sozialen Arbeit ist Prozessmanagement spätestens seit der Einführung der neuen Steuerungsmodelle von Bedeutung. Allerdings wird mindestens seit den 1960er Jahren die Problembearbeitung in der Sozialen Arbeit als Prozess verstanden (Perlman 1969). Die Frage also, welche Prozesse in welcher Form zur Lösung Sozialer Probleme beitragen, scheint jenseits eventueller Managementmoden für die Soziale Arbeit von Interesse zu sein. Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch die neuen Managementmethoden des Prozessmanagements für die Soziale Arbeit adaptiert werden (Preis 2010). Ein essenzieller Bestandteil des Prozessmanagements ist die Methodik der Prozessmodellierung. Dazu werden bestehende betriebliche Abläufe mithilfe grafischer Modelle abgebildet und so einer Analyse hinsichtlich ihrer Effizienz und Effektivität unterzogen. Eine beliebte und relativ einfache Form dieser Abbildung basiert auf einem Programmablaufplan, der bereits als DIN-Norm (DIN 66001) vom deutschen Institut für Normung fixiert ist. In dieser Norm ist festgelegt, wie ein bestehender Prozess abgebildet werden soll. Dabei werden für verschiedene Arten von Prozessschritten vorgegebene Symbole verwendet, um eine übersichtliche und allgemein verständliche Darstellung zu erreichen. Diese grafischen Darstellungen sind Teil eines Qualitätsmanagementprozesses, in dem verbindlich definiert wird, in welchen Schritten einzelne Wertschöpfungsprozesse bearbeitet werden. Damit erscheinen Organisationen, die ihre Prozesse bereits in diesem Sinne beschrieben haben, als sehr interessant für weitergehende Analysen. Gerade in Ämtern ist allerdings nicht immer vom Vorliegen solcher Prozessbeschreibungen auszugehen. Allerdings sind in diesen Bereichen der sozialarbeiterischen Praxis Dienst- und Handlungsanweisungen weit verbreitet. Da auch diese Anweisungen sehr genaue Angaben darüber enthalten, was wann zu erfolgen hat, erscheint es möglich, diese in eine Prozesslogik zu überführen. Interpretiert man nun basierend auf dieser Logik die vorliegenden Dienst- und Handlungsanweisungen in einer Organisation, ist es relativ einfach, auf der Basis des Prozessmodells zu beurteilen, inwiefern das in der Akte dokumentierte Handeln den Vorgaben der Institution entspricht. Modellierte Prozesse als Grundlage der Aktenanalyse In der Studie zu Fallverläufen eines Jugendamts (Klug/ Lehmann/ Burghardt 2012) war die Umsetzung der Dienstanweisungen unter anderem in Bezug auf Kindeswohlgefährdung von besonderem Interesse. Eine zentrale Frage war, inwieweit die Vorgaben der Dienstanweisungen von den handelnden SozialarbeiterInnen umgesetzt werden. Für die Analyse war zunächst entscheidend, dass Dienstanweisungen als Ausdruck des Weisungsrechts des Arbeitgebers interpretiert werden können. Insofern kann zunächst davon ausgegangen werden, dass alle Prozesselemente die in der Dienstanweisung explizit genannt sind, auch zu erfolgen haben und insbesondere alle Vorgaben zur Dokumentation erfüllt sein müssen. Im Umkehrschluss kann davon ausgegangen werden, dass das Handeln den Anforderungen der Dienstanweisung nicht genügt, wenn mindestens ein Prozessschritt nicht stattgefunden hat. Dadurch war die Aktenanalyse deutlich vereinfacht. Basierend auf diesen Annahmen konnte die Analyse der Akten zunächst darauf ausgelegt werden, die Auslöser für einen Prozess zu identifizieren, die in den Dienstanweisungen definiert sind. Daran anschließend konnte in den Akten gezielt nach den jeweiligen Dokumentationen als Dokument fachlichen Handelns gesucht werden. Sobald ein vorgegebener Prozessschritt nicht dokumentiert war, konnte von einer (im Sinne der Dienstanweisung) fehlerhaften Bearbei- 129 uj 3 | 2014 Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe tung des Falles ausgegangen werden. Die Analyse umfangreichen Aktenmaterials konnte so mit relativ wenig Aufwand erfolgen. Neben der einfachen Beurteilung, ob nach Dienstanweisung gearbeitet wurde oder nicht, bietet dieses Vorgehen weitere entscheidende Vorteile: Notiert man im Rahmen der Analyse die fehlenden Prozessschritte und Nachweisdokumente, kann quantitativ auf besonders anfällige Elemente der Prozessstruktur geschlossen werden. Diese Information ist für eine Weiterentwicklung der untersuchten Organisationsstruktur von großer Bedeutung. Außerdem besteht die Möglichkeit, mit Fachkräften der untersuchten Einrichtung zu klären, welche Prozessschritte sie für entscheidend halten, und dies in der Auswertung entsprechend zu berücksichtigen. In der oben bereits angesprochenen Studie wurde ein weiterer Nutzen dieses Vorgehens erkennbar. Aktuelle Dienstanweisungen, insbesondere im Bereich der Kindeswohlgefährdung, bilden das Handeln ab, das aktuell als optimaler Verlauf bei der Bearbeitung der jeweiligen Probleme gesehen wird. Analysiert man nun Akten, die Handeln vor Inkrafttreten der Dienstanweisungen dokumentieren, kann festgestellt werden, welche Elemente der Dienstanweisungen schon immer und daher eventuell genuin aus der Fachlichkeit der Handelnden stattfanden und wo eine Umstellung der Handlungsroutinen nötig wurde. Andererseits kann durch dieses Verfahren sehr schnell verdeutlich werden, welche Schritte bei einer neuen Dienstanweisung bereits flächendeckend umgesetzt werden und bei welchen eventuell noch Akzeptanzprobleme bei den ausführenden SozialarbeiterInnen bestehen. In der oben zitierten Studie war eine weitere Fragestellung, wie die Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderen Stellen gestaltet ist. Durch die Analyse von Akten der KooperationspartnerInnen konnten so schnell Daten erhoben werden, die unterschiedliche Wahrnehmungen der Kooperation belegten. So konnten teilweise überraschend hohe Differenzen bei der Anzahl der dokumentierten Treffen oder Telefonate der beteiligten Stellen aufgezeigt werden. Da jedoch davon ausgegangen werden kann, dass es eine objektiv Größe der tatsächlichen Treffen und Telefonate gibt, bieten solche Differenzen einen ersten Anknüpfungspunkt für weitergehende Analysen. In der weiteren Untersuchung kann auf der Basis dieser Daten eruiert werden, worauf diese Differenz in der Wahrnehmung objektiv vorhandener Sachverhalte begründet ist und wie zukünftig zu einer vergleichbareren Wahrnehmung der zu dokumentierenden Fakten gefunden werden kann. Die vorgestellte Studie konnte des Weiteren zeigen, dass sich Denk- und Vorgehensweisen unterschiedlicher Fachdienste in der Dokumentation abbilden und damit nachvollziehbar werden lassen. Dies kann z. B. an der Teilnahme an einer Hilfeplankonferenz deutlich gemacht werden: Während für den oder die MitarbeiterIn des Jugendamts, der oder die diese Konferenz einberuft, dies in jedem Fall ein dokumentationswürdiges - weil fachlich wichtiges - Ereignis ist, kann die gleiche Konferenz für MitarbeiterInnen aus kooperierenden Einrichtungen, die nur an einem Spezialaspekt arbeiten, von so geringer Bedeutung sein, dass sie glauben diese nicht dokumentieren zu müssen. Findet in diesem Kontext nun ein kurzes Gespräch zu einem anderen Fall statt, das für den einen Beteiligten eine wichtige und damit dokumentationswürdige Information enthält, für den anderen jedoch nicht, entsteht schon die zweite Abweichung innerhalb der Dokumentationen. Beide Dienste halten den gleichen, gemeinsam durchgeführten Prozessschritt also für unterschiedlich wichtig, gehen aber implizit davon aus, ein gemeinsames Fallverständnis entwickelt zu haben. Es ist also sehr wichtig, diese auftretenden Bewertungsunterschiede als Indikatoren für Wahrnehmungsdifferenzen zu identifizieren, statt generell von einer gemeinsamen Falldefi- 130 uj 3 | 2014 Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe nition auszugehen. Das Bewusstsein der Differenz kann und sollte der Auslöser sein, sich auch konzeptionell (und nicht nur fallbezogen) mit den legitimen unterschiedlichen Perspektiven der NetzwerkpartnerInnen auseinanderzusetzen. Auch dazu kann eine prozessorientierte Aktenanalyse mit Gewinn für die Praxis durchgeführt werden. Umsetzung der prozessorientierten Aktenanalyse Im Folgenden soll kurz skizziert werden, wie mittels der prozessorientierten Aktenanalyse der Grad der Implementierung von Dienstanweisungen bzw. Standards im professionellen Handeln von Fachkräften ermittelt werden kann. Grundlage für eine solche Aktenanalyse sind detaillierte Kenntnisse über die bestehenden Geschäftsprozesse der zu untersuchenden Einrichtungen. Liegt der Einrichtung bereits ein QM-Handbuch vor, so können die darin beschriebenen Geschäftsprozesse verwendet werden. Ist dies nicht der Fall, so ist es erforderlich, die Standards und Dienstanweisungen einer Einrichtung, die das fachliche Handeln der Fachkräfte in einer Einrichtung definieren, in Geschäftsprozesse zu übersetzen und diese grafisch in Flussdiagrammen abzubilden. Diese Übersetzung sollte unter Einbeziehung der Fachkräfte erfolgen, die die Dienstanweisungen umsetzen. So kann einerseits sichergestellt werden, dass das jeweilige Verständnis der Dienstanweisungen möglichst deckungsgleich ist, andererseits werden in diesen Gesprächen bereits Prozesselemente deutlich, die aus Sicht der Praxis von besonderer Bedeutung sind. Die Reduzierung der Inhalte auf einen entscheidenden Kernprozess ist im Unterschied zu einem Geschäftsprozessmanagement-Prozess aus der Logik der Organisationsentwicklung für die Aktenanalyse nicht notwendig. Vielmehr können verschiedene Geschäftsprozesse definiert werden, die innerhalb der einzelnen Prozesse aufeinander Bezug nehmen. Dies ermöglicht ein tieferes Verständnis des fachlichen Handelns von Fachkräften und kann zudem Schwachstellen in den Übergängen oder Schnittstellen der einzelnen Geschäftsprozesse aufdecken. In der obengenannten Studie konnten beispielsweise die bestehenden Dienstanweisungen und Standards für das Arbeitsfeld „Jugendhilfe im Strafverfahren“ in insgesamt fünf verschiedene Geschäftsprozesse untergliedert werden. Neben dem Kernprozess zur Mitwirkung im jugendrichterlichen Verfahren konnten beispielsweise weitere Geschäftsprozesse zu Verfahrensstandards im Diversionsverfahren, Hilfeplanverfahren oder im Umgang mit Kindeswohlgefährdung beschrieben werden. Für die prozessorientierte Aktenanalyse sind alle Prozessschritte innerhalb eines Geschäftsprozesses von Bedeutung, die durch Dokumentation in einer Fallakte abgebildet werden können. Zu beachten ist, dass bereits in dieser ersten Annahme Fehlerquellen liegen können. Die tatsächliche Aktendokumentation von Fachkräften und die in der Dienstanweisung beschriebenen Vorgaben zur Aktendokumentation können abweichend sein. Um das zur Verfügung stehende Aktenmaterial bestmöglich auszuschöpfen, ist daher zusätzlich zur oben beschriebenen Abstimmung mit den Fachkräften eine qualitative Vorstudie zur Erfassung der tatsächlichen Akteninhalte empfehlenswert. Im Folgenden soll nun die konkrete Durchführung einer prozessorientierten Aktenanalyse am Beispiel eines Geschäftsprozesses - Mitwirkung im jugendrichterlichen Verfahren - verdeutlicht werden (Tabelle 1). Der Prozess beschreibt die Standards und Dienstanweisungen, die regeln, wie und an welchen Stellen das Jugendamt in ein jugendrichterliches Verfahren eingebunden wird, gem. § 52 SGB VIII (achtes Sozialgesetzbuch) in Verbindung mit § 38 JGG (Jugendgerichtsgesetz). 131 uj 3 | 2014 Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe Aktivität Bearbeitung Beschreibung Dokumentation Datenabfrage Fachkraft Erhält die Fachkraft Kenntnis von der Einleitung eines Jugendstrafverfahrens in Form einer Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, so ist zu prüfen, ob der Fall innerhalb des Jugendamtes bereits bekannt ist. Ist der Fall bereits im Jugendamt bekannt, so hat ein persönlicher Austausch mit der entsprechenden fallverantwortlichen Fachkraft stattzufinden. Handelt es sich um einen laufenden Fall, so ist auch der Ausgang des Verfahrens der fallverantwortlichen Fachkraft rückzumelden. Standardisierte Datenabfrage (edv- Ausdruck), Aktennotiz über persönliche oder schriftliche Kontaktaufnahme bzw. Rückmeldung des Verfahrensausgangs Beratungsangebot Fachkraft Erhält die Fachkraft eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, ist dem/ der betroffenen Jugendlichen und ihren/ seinen Personensorgeberechtigten oder dem/ der Heranwachsenden ein Beratungsangebot zu unterbreiten. Ist der/ die Jugendliche oder Heranwachsende in Untersuchungs- oder Strafhaft, so hat ein Haftbesuch zu erfolgen. Standardisiertes Einladungsschreiben an Jugendliche und ihre Personensorgeberechtigten bzw. an den/ die Heranwachsende/ n Aktennotiz über Haftbesuch Kooperationspartner Fachkraft Ergibt sich während der Fallbearbeitung Kenntnis über relevante KooperationspartnerInnen, so ist zum Zwecke der umfassenden Erforschung der Persönlichkeit und des Umfeldes des/ der Jugendlichen oder Heranwachsenden unter Berücksichtigung der Datenschutzbestimmungen Kontakt zu diesen aufzunehmen. Aktennotiz über persönliche oder schriftliche Kontaktaufnahme Gerichtliche Stellungnahme Fachkraft Auf Grundlage des persönlichen Beratungsgespräches sowie unter Heranziehung weiterer Informationsquellen ist eine schriftliche gerichtliche Stellungnahme zu formulieren, welche an die Staatsanwaltschaft und an das Jugendgericht zu übermitteln ist. Konnten keine relevanten Informationen zu den persönlichen Verhältnissen des/ der Jugendlichen bzw. des/ der Heranwachsenden ermittelt werden, so ist dies der Staatsanwaltschaft und dem Jugendgericht mitzuteilen. Jugendgerichtshilfebericht bzw. Stellungnahme an die Justiz Hauptverhandlung Fachkraft Die Fachkraft hat an der Hauptverhandlung des Jugendgerichts teilzunehmen und in dieser mündlich über die persönlichen Verhältnisse des/ der Jugendlichen oder des/ der Heranwachsenden zu berichten. Zudem soll ein Ahndungsvorschlag formuliert werden. Hauptverhandlungsprotokoll Einleitung von Auflagen/ Weisungen Fachkraft Nach der Hauptverhandlung leitet die Fachkraft die Maßnahmen zur Erfüllung der gerichtlichen Auflagen und Weisungen ein. Anmeldeformular Tab. 1: Beispiel Geschäftsprozess „Mitwirkung im jugendrichterlichen Verfahren“ 132 uj 3 | 2014 Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe Da nicht alle Prozessschritte, die einer Dokumentationspflicht unterliegen, zwangsläufig entscheidend für erfolgreiches fachliches Handeln sind, sollte in Kommunikation mit Fachkräften der Einrichtung bzw. den Mitgliedern der Projektgruppe eine Bewertung der Prozessschritte hinsichtlich ihrer Relevanz vorgenommen werden. Im folgenden Flussdiagramm wurden daher alle Prozessschritte hervorgehoben, die als „besonders relevant“ gelten und in der späteren Auswertung der Ergebnisse eine besondere Gewichtung erhalten werden (Abb. 1). Für die Durchführung der Aktenanalyse können nun die einzelnen Flussdiagramme als Auswertungsmatrix dienen. Bei der chronologischen Durchsicht des Aktenmaterials wird nach „Auslösern“ für die jeweiligen Geschäftsprozesse gesucht. Im oben genannten Beispiel wäre ein Auslöser der Erhalt einer Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft. Es hat sich als zweckmäßig erwiesen, für die weitere Analyse ein entsprechendes Flussdiagramm des betreffenden Prozesses zur Hand zu nehmen und dort zu vermerken, welche Schritte und Dokumentationen in der Akte abgebildet sind. Zudem können schriftliche Zusatzvermerke neben den entsprechenden Prozessschritten zu einer detaillierten und individuellen Beantwortung der Forschungsfrage dienen (z. B. Datumsangaben, Delikte, Angaben zum/ zur KooperationspartnerIn, Art der jugendrichterlichen Auflagen/ Weisungen). Ist ein Prozessschritt nicht in der Akte dokumentiert, kann dieser als „fehlend“ im Flussdiagramm vermerkt werden, wenn sich aus dem Geschäftsprozess ergibt, dass dieser Prozessschritt erfolgen hätte müssen. Jeder weitere Auslöser eines Geschäftsprozesses in der Fallakte hat die Heranziehung eines erneuten Flussdiagramms des entsprechenden Geschäftsprozesses zur Folge. Bei der vollständigen chronologischen Durchsicht des Aktenmaterials können so verschiedene und auch mehrmals wiederholte Geschäftsprozesse abgebildet werden. Jeder einzelne Prozess lässt sich anschließend je nach Gewichtung der einzelnen Prozessschritte als „erfolgreich“ oder „nicht erfolgreich“ im Sinne der Verfahrensstandards einer Einrichtung bewerten. Wendet man dieses Verfahren in aufwendigeren Forschungsdesigns an, kann es zweckmäßig sein, die jeweiligen Prozesse in einer Datendatei eines Statistikprogrammes abzubilden. Dabei geht zwar die Übersichtlichkeit eines Diagramms verloren, statistische Auswertungen sind aber deutlich einfacher umzusetzen. Es hat sich hierbei als zweckmäßig erwiesen, für jeden Prozessschritt eine dichotome Variable anzulegen, die mit dem Standardwert „erfüllt“ belegt ist. Eine zusätzliche Variable zum Gesamtprozess („erfolgreich“ bzw. „nicht erfolgreich“) erleichtert in der späteren Auswertung die schnelle Übersicht über die Verteilung der erfolgreich bearbeiteten Prozesse. Eine solche Datendatei ist zwar sehr umfangreich, durch die feinkörnig vorliegenden Informationen besteht allerdings die Möglichkeit, neben Erkenntnissen zur Qualität auch Aussagen zur Quantität von Prozessen und statistischen Zusammenhängen mit individuellen Fallverläufen treffen zu können. Einige Ergebnisse und deren Praxisrelevanz Beispielsweise konnten in der Studie zu Fallverläufen eines Jugendamts (Klug/ Lehmann/ Burghardt 2012) unter anderem folgende Ergebnisse zum Kernprozess „Mitwirkung im jugendrichterlichen Verfahren“ ermittelt werden: Die zu untersuchende Stichprobe umfasste Fallakten von 30 Jugendlichen/ Heranwachsenden. Die 30 Jugendlichen/ Heranwachsenden begingen im Laufe ihres Leben 180 Straftaten; davon 34 Gruppendelikte. In den zu untersu- 133 uj 3 | 2014 Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe Datenabfrage Standardisierte Datenabfrage Fall bekannt? Aktennotiz Ende Persönlicher Austausch Ende nein ja Anklageschrift Beratungsangebot Einladungsschreiben Beratungsgespräch Gespräch bei Kooperationspartner nein nein ja Aktennotiz Gerichtliche Stellungnahme Hauptverhandlung Ende Ende Gerichtl. Auflagen/ Weisungen Einleitung gerichtlicher Auflagen/ Weisungen Anmeldeformular ja nein ja Legende Dokument Verzweigung/ Entscheidung Prozessbeginn/ Prozessende Prozessschritt Abb. 1: Beispiel Flussdiagramm für Geschäftsprozess„Mitwirkung im jugendrichterlichen Verfahren“ 134 uj 3 | 2014 Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe chenden Fallakten konnten 169 Anklageschriften ermittelt werden, was 169 Auslösern für den Kernprozess„Mitwirkung im jugendrichterlichen Verfahren“ entspricht. Die Staatsanwaltschaft stellte jedoch 50 Anklageschriften noch vor der Hauptverhandlung wieder ein. Durchschnittlich erhielten die Fachkräfte die Anklageschriften 185 Tage nach Tatzeitpunkt. Es konnte eine signifikante Korrelation zwischen der Dauer von Tatzeitpunkt bis Kenntnis der Tat durch die Fachkraft mit dem gesamten Erfolgsverlauf eines Falles ermittelt werden. Es konnte also empirisch belegt werden, dass der Erfolg im Sinne einer nicht erneut auftretenden Straffälligkeit mit der möglichst schnellen Kontaktaufnahme zur Jugendgerichtshilfe zusammenhängt. Dieser Befund ist allerdings etwas zurückhaltend zu werten, da einerseits weitere Faktoren die erfolgreiche Bearbeitung eines Falls bedingen, andererseits nur die Fälle beachtet werden konnten, bei denen die Straftaten zur Anzeige kamen. Straftaten, die entweder nicht entdeckt wurden, oder z. B. wegen Geringfügigkeit nicht zur Anzeige kamen, konnten für diese Analyse nicht berücksichtigt werden. Ein Vergleich der Anzahl „erfolgreich“ umgesetzter Kernprozesse vor und nach Inkrafttreten der Dienstanweisung zeigte keine nennenswerten Unterschiede auf. Diese Ergebnisse werfen Fragen nach dem Erfolgsgrad der Implementierungsprozesse auf. Bei Betrachtung der unterschiedlichen Ergebnisse - je nach Gewichtung einzelner Prozessschritte als Erfolgskriterium - ließ sich eine spezifische Fehlerquelle in der Umsetzung der Verfahrensstandards eruieren. Zudem ließ sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Anzahl der erfolgreich bearbeiteten Kernprozesse im Sinne der Dienstanweisung und der allgemeinen Straftatschwere bzw. Gewaltschwere der Straftaten nachweisen. Eine mögliche Interpretation unterstützt die Annahme der Sinnhaftigkeit der Dienstanweisung hinsichtlich ihrer delinquenzpräventiven Wirkung. Denn, je häufiger die Fachkräfte in einem Fall nach Dienstanweisung gearbeitet haben, desto geringer war die Quantität und Qualität der Straftaten im gesamten Fallverlauf. Dieser kurze Exkurs in exemplarische Ergebnisse der o. g. Studie zeigt, dass die Daten aus einer prozessorientierten Aktenanalyse neben quantitativen Aspekten wichtige Aussagen zu qualitativen Elementen der fachlichen Arbeit liefern. Zunächst können sie sowohl die Grundlage für weitere Prozessoptimierungen in einer Organisation sein als auch das Verständnis der Zusammenhänge von gelingenden und nicht gelingenden Fallverläufen unterstützen. Führt man auf Basis der Daten konzeptionelle Überlegungen weiter, so unterstützen diese einen Trend, der sich im Wandeln der Begrifflichkeiten, weg von „Jugendgerichtshilfe“ hin zu „Jugendhilfe im Strafverfahren“ widerspiegelt. Das Arbeitsfeld der Jugendgerichtshilfe sollte ihren Handlungsauftrag nicht erst über die Kenntnis eines Strafverfahrens (Erhalt der Anklageschrift), sondern vielmehr über die Kenntnis von Straftaten, unabhängig von der Einleitung eines Strafverfahrens, definieren. Hierüber könnte erzielt werden, dass die Fachkräfte der Jugendgerichtshilfe neben ihrer klassischen Mitwirkung im jugendrichterlichen Verfahren auch (kriminal-)präventiv ausgerichtete Arbeit leisten, die sich an dem Grundgedanken der Jugendhilfe und des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ausrichtet. Fazit Bei der prozessorientierten Aktenanalyse handelt es sich um eine quantitative Erhebungsmethode, die die Umsetzung von Verfahrensstandards innerhalb einer Einrichtung oder eines Arbeitsfeldes erfasst. Durch die verschiedenen Möglichkeiten, mit denen Prioritäten und logische Verknüpfungen innerhalb der Analyse abgebildet werden können, ist die Leistungsfähig- 135 uj 3 | 2014 Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe keit dieses Instruments deutlich höher als bei klassischen quantitativen Analysemethoden, die auf Akten angewandt werden. Gerade für Einrichtungen, denen noch kein QM-Handbuch zugrunde liegt, können mittels dieser Erhebungsmethodik bestehende Prozesse sichtbar gemacht werden und als Grundlage zur Prozessoptimierung genutzt werden. Damit befindet sich die Methode im Schnittstellenbereich zwischen einem reinen Forschungsinstrument und einem Instrument der Qualitätsentwicklung. Diese Zwischenstellung ist an sich zunächst kritisch zu betrachten. Wird sie jedoch im gesamten Forschungsprozess bewusst wahrgenommen und auch mit allen Beteiligten offen diskutiert, kann sie ihre Stärken in beiden Bereichen entfalten. Diese Form der Aktenanalyse ist zudem besonders geeignet, Schwachstellen oder Anwendungsdefizite von Fachkonzepten zu überprüfen. Aufgrund der Erhebung und Analyse einzelner Prozessschritte ist eine detaillierte Auswertung über spezifische oder auch generalistische Fehlerquellen möglich. Durch die Quantifizierung besteht weiterhin die Möglichkeit, bewusst und gezielt die Analyse an der Organisation auszurichten und nicht an den einzelnen MitarbeiterInnen. Durch die Abbildung von Bereichen innerhalb einer Dienstanweisung, die besonders häufig nicht oder falsch dokumentiert werden, kann eine Diskussion angeregt werden, die sich mit der Suche nach Ursachen auf Organisationsebene befasst und nicht auf der Personenebene Schuld zuweist. In Kombination mit partizipativen qualitativen Verfahren, wie z. B. der Gruppendiskussion oder Fokusgruppen, können so genaue und multidimensionale Beschreibungen der kritischen Bereiche in der Organisationsstruktur erstellt werden, idealerweise sogar schon mit Ideen, wie diese zukünftig optimiert werden können. Des Weiteren können Zusammenhänge zwischen erfolgreicher Anwendung bzw. Umsetzung fachlicher Standards und Entwicklungen individueller Fallverläufe ermitteln werden. Dies kann zunächst auf der Ebene einfacher statistischer Berechnungen erfolgen. Durch die Übersetzung von jedem Schritt der Prozesse in eine dichotome Variable können Zusammenhangshypothesen zwischen den Häufigkeiten in jedem Fall mit Verfahren für rangskalierte Werte überprüft werden, eventuell sogar mit parametrischen Verfahren. Es kann also mit statistischen Methoden überprüft werden, ob z. B. ein Zusammenhang zwischen der erfolgreichen Bearbeitung der diagnostischen Prozessschritte und dem erfolgreichen Abschluss des Prozesses besteht und falls ja, wie eng dieser Zusammenhang ist und ob dieser nach den Maßgaben der Logik der Inferenzstatistik als überzufällig und damit bedeutsam anzusehen ist. Dadurch können gefühlte subjektive Wahrnehmungen innerhalb der Organisation objektiviert werden. Ein weiterer Vorteil dieser Erhebungsmethodik besteht in der Gewinnung von Erkenntnissen über Wandlungsprozesse innerhalb einer Einrichtung. Da bei chronologischer Durchsicht des Aktenmaterials sowohl Zeiträume vor als auch nach der Implementierung von Verfahrensstandards abgebildet werden, können Veränderungsprozesse im professionellen Handeln ermittelt werden. Gerade, wenn deutlich wird, dass die aktuelle Bearbeitungspraxis bestimmter Fallgruppen zu Problemen führt, kann die Praxis zu unterschiedlichen Zeiten so verglichen werden. Eine Grenze der Erkenntnis besteht hier allerdings bei den Datenschutzregeln, die die Vernichtung von Akten nach bestimmten Zeiten vorsehen. Eine Schwierigkeit bei dieser Form der Forschungsmethodik ist sicherlich die Grundannahme, dass Aktendokumentation reales Handeln der Fachkräfte wiedergibt. Diese „Fehlerquelle“ ist in der Interpretation der Forschungsergebnisse zu berücksichtigen und zu 136 uj 3 | 2014 Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe Literatur Albus, S./ Greschke, H. K./ Klingler, B./ Messmer, H./ Micheel, H.-G./ Otto, H. U./ Polutta, A., 2010: Wirkungsorientierte Jugendhilfe. Abschlussbericht der Evaluation des Bundesmodellprogramms „Qualifizierung der Hilfen zur Erziehung durch wirkungsorientierte Ausgestaltung der Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen nach §§ 78 a ff SGB VIII”. Münster u. a. Fischer, T./ Ziegenspeck, J. W., 2009: Betreuungsreport Ausland. Eine empirische Analyse zur Wirklichkeit und Wirksamkeit intensivpädagogischer Betreuungsmaßnahmen im Ausland. Wissenschaft und Praxis. Lübeck Fröhlich-Gildhoff, K., 2003: Einzelbetreuung in der Jugendhilfe. Münster Göppner, H.-J./ Hämäläinen, J., 2004: Die Debatte um Sozialarbeitswissenschaft. Auf der Suche nach Elementen für eine Programmatik. Freiburg Haubrich, K., 2009: Evaluation in der Sozialen Arbeit in Deutschland. Entwicklungslinien und Besonderheiten der Evaluationsdebatte am Beispiel der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. In: Widmer, T./ Beywl, W./ Fabian, E. (Hrsg.): Evaluation. Wiesbaden, S. 441 - 449 Hoffmann, A., 2012: Drogenkonsum und -kontrolle. Zur Etablierung eines sozialen Problems im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Wiesbaden Klug, W., 2003: Mit Konzept planen - effektiv helfen. Freiburg diskutieren. Gerade in Handlungszusammenhängen des Jugendamts wird sich immer mehr durchsetzen, dass jede juristisch relevante Handlung normgerecht dokumentiert werden muss. Dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren auch vermehrt in „gerichtsferneren“ Bereichen der Sozialen Arbeit fortsetzen, sodass perspektivisch von einem Anstieg der Passung zwischen realen Ereignissen und Ereignissen, die in Akten dokumentiert sind, zu rechnen ist. Im Anschluss dieser Betrachtungen bleibt noch ein kleiner Ausblick: Fachsoftware wird in immer mehr Einrichtungen der Sozialen Arbeit eingesetzt. Gut implementierte Fachsoftware bildet die Prozesse, die in der jeweiligen Einrichtung anfallen, ab und unterstützt die MitarbeiterInnen so bei der korrekten Durchführung der jeweiligen Prozesse. Gleichzeitig besteht hier auch die Möglichkeit, die Dokumentation und damit die Aktenführung in der Software zu speichern. Aus Sicht von uns ForscherInnen wäre es sehr wünschenswert, bereits bei der Entwicklung dieser Fachsoftware mitzubedenken, dass ein forschender Zugriff auf die so erzeugten elektronischen Akten möglich sein sollte. Dann wäre es möglich, die hier beschriebene Logik direkt in der Fachsoftware umzusetzen und so zukünftig ohne eigenen Erhebungsaufwand Erkenntnisse über die Umsetzung und Einhaltung von Dienstanweisungen und Prozessen in der eigenen Organisation zu erhalten. Das wäre einerseits ein unschätzbarer Schatz an gut auszuwertenden Akten für die Wissenschaft, der die Forschung in diesem Bereich deutlich voranbringen dürfte, andererseits wäre so eine Datenbasis für jede Organisation, die sich selbst als lernend begreift, eine optimale Basis, um die Stellschrauben zu erkennen, die für die Optimierung ihrer Organisationsabläufe am relevantesten sind. Dr. Robert Lehmann Prof. Dr. Wolfgang Klug Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Fakultät für Soziale Arbeit Kapuzinergasse 2 85072 Eichstätt robert.lehmann@ku.de wolfgang.klug@ku.de Jennifer Burghardt jennyburghardt@aol.com 137 uj 3 | 2014 Prozessorientierte Aktenanalyse in der Jugendgerichtshilfe Klug, W./ Lehmann, R./ Burghardt, J., 2012: Case Management in Diensten der Kriminalprävention im Jugendamt. Case Management, 9. Jg., H. 2, S. 73 - 82 Kruse, E., 2010: Professionalisierung durch Akademisierung? In: Hammerschmidt P./ Sagebiel J. (Hrsg.): Professionalisierung im Widerstreit. München, S. 43 - 58 Lamnek, S., 4 2005: Qualitative Sozialforschung. Weinheim, Basel Mayring, P., 5 2002: Einführung in die qualitative Sozialforschung: Eine Anleitung zu qualitativem Denken. Weinheim, Basel Müller de Menezes, R., 2012: Soziale Arbeit in der Sozialhilfe. Eine qualitative Analyse von Fallbearbeitungen. Wiesbaden Oelerich, G./ Otto, H. U., 2011: Empirische Forschung und Soziale Arbeit. Wiesbaden Perlman, H. H., 1969: Soziale Einzelhilfe als problemlösender Prozeß. Freiburg i. Br. Preis, W., 2010: Prozessmanagement in der Sozialen Arbeit - Soziale Arbeit als Prozessmanagement. Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit. Berlin Sommerfeld, P., 2004: Soziale Arbeit - Grundlagen und Perspektiven einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin. In: Mühlum, A. (Hrsg.): Sozialarbeitswissenschaft. Wissenschaft der Sozialen Arbeit. Freiburg, S. 175 - 203 Stöger, R., 3 2011: Prozessmanagement: Qualität, Produktivität, Konkurrenzfähigkeit. München Tappen, H.-M., 2008: Die Mittel verändern das Ziel: Die Problematik von Qualitätsstandards in der Bewährungshilfe. In: Bewährungshilfe, 55. Jg., H. 2, S. 180 - 190 Besuchen Sie den ERV vor Ort auf dem 15. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag! Vom 03. - 05. 06. 2014 findet die Fachmesse des DJHT, die DJHT-Com, in Berlin statt. Wir freuen uns auf Sie an unserem Verlagsstand auf dem Gelände der Messe Berlin. Weitere Informationen erhalten Sie unter: www.reinhardt-verlag.de und www.jugendhilfetag.de a www.reinhardt-verlag.de
