eJournals unsere jugend 66/5

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2014
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Interkulturelle Erziehungshilfen aus der Sicht der soziokulturellen und der demografischen Entwicklung

51
2014
Cengiz Deniz
Die deutsche Gesellschaft ist aktuell von Diversity geprägt. In der Sozialen Arbeit konkurrieren unterschiedliche Richtungen, wer das beste Konzept für eine Integrationsmaßnahme entwickelt hat, um den Diversity-Ansatz zu bedienen.
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208 unsere jugend, 66. Jg., S. 208 - 219 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art22d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Interkulturelle Erziehungshilfen aus der Sicht der soziokulturellen und der demografischen Entwicklung Die deutsche Gesellschaft ist aktuell von Diversity geprägt. In der Sozialen Arbeit konkurrieren unterschiedliche Richtungen, wer das beste Konzept für eine Integrationsmaßnahme entwickelt hat, um den Diversity-Ansatz zu bedienen. von Dr. Cengiz Deniz Dipl. Sozialarbeiter, Dipl. Pädagoge, ehemaliger Professor für Sozialwissenschaften mit langjähriger Erfahrung in der interkulturellen Sozialen Arbeit. Pädagogischer Leiter im Bonner Institut für Migrationsforschung und interkulturelles Lernen e.V. Bundesprogramme, die die Integration fördern, haben inzwischen ein völlig unüberschaubares Volumen erreicht (www.bamf.de). Forschungsschwerpunkte der Stiftungen und Ministerien haben sich etabliert und ernst zu nehmende sozialwissenschaftliche Studien werden kontinuierlich veröffentlicht. Öffentliche Kompetenzzentren zur Förderung der Integration sind entstanden, um die Mittel zu verwalten und die Integration zu organisieren. Trotz dieser blühenden Landschaften gibt es auch andere Sichtweisen. Sie wollen die Integration nicht über sich ergehen lassen und Objekt derselben sein, sondern sie inhaltlich mitgestalten. An dieser Stelle gehen die Wege nicht selten auseinander. Sobald der bislang gelebte Paternalismus ins Wanken gerät, werden andere Kriterien erkundet, die versuchen, das Rad völlig neu zu erfinden. Manchmal gelingt das auch. Manchmal endet das Konzept in diffusen Auseinandersetzungen, sodass Entscheidungsbefugte als „GewinnerInnen“ aus dem Diskurs hervorgehen; nicht weil sie die besseren Integrationsargumente haben, sondern weil sie an den Schaltstellen der Macht sitzen. Dieser Status ermöglicht es ihnen, das Integrationsthema so zu besetzen, dass ihre ideellen und materiellen Interessen nicht verletzt werden. Was hat das mit Hilfen zur Erziehung (HzE) zu tun? Dieser kritische Blick soll die Sensibilität in der praktischen HzE-Arbeit für eine konstruktive Haltung schärfen und erstens wertschätzende, zweitens ressourcenorientierte Zugänge zulassen, damit die Integration von Minderheiten in Deutschland gelingen kann. Verortung von Hilfen zur Erziehung Nach Christian Schrapper (2008) hat Hilfe zur Erziehung sich an folgenden erreichten Zielen zu messen. Es geht darum, ob die geleistete pädagogische Hilfe bei den AdressatInnen ankommt bzw. wie die Hilfe gestaltet und praktiziert werden kann, damit sie angenommen wird. Es geht also um nachhaltige und wirkungsprä- 209 uj 5 | 2014 Interkulturelle Erziehungshilfen gende Faktoren, die im Positionspapier des Landesjugendamtes Westfalen (2011, 8) zusammengefasst werden: ➤ „Die Hilfeleistung muss für Eltern, Kinder und Jugendliche einen Gebrauchsnutzen aufweisen; (…) ➤ die Hilfe muss biografisch anschlussfähig sein, (…) ➤ Die Rat und Hilfesuchenden müssen sich als selbstwirksam erleben, (…) ➤ Die Eltern-Kind-Beziehung muss möglichst geklärt und reflektiert sein, (…) ➤ Die Hilfe muss in soziale Netze (vorhandene und/ oder neu geschaffene) eingebunden sein. ➤ Alle an der Hilfe Beteiligten sollten in ihren Sichtweisen eine größtmögliche Übereinstimmung haben. Das setzt eine gute Kommunikation und Kooperation (…) voraus (…).“ Eine Nachhaltigkeit wird wahrgenommen, wenn die AdressatInnen positive Veränderungen im familiären aber auch insbesondere im schulischen und sozialen Leben ihrer Kinder erkennen. Gelebt wird diese Nachhaltigkeit im Alltag dadurch, dass vielfältige problematische Entwicklungen zur Zufriedenheit von allen Beteiligten beendet werden. Dass die Jugendhilfe nachhaltig wirkt, wird im Rahmen der Evaluation des Modellprogramms „Wirkungsorientierte Jugendhilfe“ belegt: „Jugendhilfe wirkt, wenn sie Befähigungs- und Verwirklichungschancen für junge Menschen eröffnet. Nach einem dem Auftrag der Jugendhilfe angemessenen Bewertungsmaßstab können Hilfen zur Erziehung nur dann als wirksam bezeichnet werden, wenn sie die Befähigungs- und Verwirklichungschancen (Capabilities) junger Menschen erhöhen. Dazu gehören die Gewährung von Schutz und Sicherheit sowie die Erweiterung von Kompetenzen, Fähigkeiten und Lebensmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen.“ (Albus u. a. 2009, 6) Es stehen noch Berichte und Ergebnisse von Studien aus, die belegen, dass Hilfen zur Erziehung „die Befähigungs- und Verwirklichungschancen für junge Menschen eröffnet“ haben. Dazu bedarf es eines gezielten Umgangs mit den Erfahrungen im Praxisfeld, die in ihrer Gesamtheit dargelegt werden. Dabei sind sowohl Entscheidungen in der Sozialverwaltung als auch die praktische HzE-Tätigkeit mit den Zielgruppen zu eruieren. Merkmale migrantischer Zielgruppen in den Hilfen zur Erziehung Es ist nicht möglich, von der migrantischen Zielgruppe zu sprechen, sondern die Zielgruppen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht voneinander, so wie der Rest der Bevölkerung auch (www.sinus-institut.de). Insofern kann bei der Gestaltung der HzE nicht pauschal von der migrantischen Familie oder Zielgruppe ausgegangen werden. Der Bedarf an HzE ist demnach nicht ausschließlich darauf zurückzuführen, dass Zielgruppen einen Migrationshintergrund haben, sondern der soziokulturelle Wandel in der Gesellschaft ist ein wichtiger Faktor, um die Bedürfnisse der Menschen zu erfassen und ihnen entsprechend fachlich zur Seite zu stehen. In der folgenden Aufstellung (Tab. 1) werden Bedingungen zusammengestellt, die einen erschwerten Zugang erstens aus der Sicht der Zielgruppen und zweitens aus der Sicht der Fachkräfte bzw. Träger darstellen. Diese Aufzählung der Merkmale aus der Sicht der Zielgruppen und der Fachkräfte bzw. der Träger der Sozialen Arbeit beruht auf Kenntnissen und Erfahrungen, die durch langjährige Zusammenarbeit mit unterschiedlichen migrantischen Zielgruppen und Fachkräften sowie mit TrägervertreterInnen erworben wurden. Es gilt sie aber durch empirische Erhebungen zu untermauern, damit in der weiteren Konzeptionierung in Lehre und Praxis nicht von selektiven Beobachtungen ausgegangen wird. Der soziokulturelle und der demografische Wandel 210 uj 5 | 2014 Interkulturelle Erziehungshilfen Erschwerte Bedingungen aus der Sicht der Zielgruppen Erschwerte Bedingungen aus der Sicht der Träger-MitarbeiterInnen ➤ Angst vor Abschiebung wegen Bezug von HzE. ➤ Befürchtungen, dass langfristig den Kindern Nachteile entstehen, wenn sie HzE bekommen, z. B. durch einen Eintrag in irgendwelche Personalakten. ➤ Konflikte auf der Paarebene bedingt durch Migrationserfahrung. Konflikte auf der Ebene des Integrationsgrades in Deutschland. Bedenken, dass ein/ e LebenspartnerIn durch Erwerb sozialer Kompetenzen sich weiterentwickeln und trennen kann. ➤ Das Krankheitsbild bzw. die Ursache und die Wirkung einer Krankheit werden nach religiösen Mustern definiert und die Genesung ist davon geprägt. ➤ Alleinerziehende ohne Rückhalt durch angeheiratete Familie/ Verwandtschaft. ➤ Wegen schwacher Deutschkenntnisse können Interessen und Bedürfnisse schwer vermittelt werden. Fehlende Kenntnisse des deutschen Bildungs- und Hilfesystems. Prekäre Arbeits- und Einkommensverhältnisse. ➤ Fehlende verwandtschaftliche/ familiäre Unterstützung bedingt durch Migration. ➤ Bestehende Kriegstrauma-Erlebnisse. ➤ Politische Verfolgung oder vermeintliche Verfolgung durch Geheimdienste des Herkunftslandes in Deutschland. ➤ Es fehlen AnsprechpartnerInnen mit eigener religiöser Orientierung. ➤ Nichteintreten der besseren erhofften und erwünschten Lebensbedingungen. ➤ Erschwerte Kommunikation mit Fachkräften mittelschichtsbzw. bildungsbürgerlicher Herkunft. ➤ Ausfall der HzE für Zielgruppen mit dem Aufenthaltsstatus „Duldung“ bzw. für „irreguläre“ Personen ohne irgendeinen Aufenthaltstitel. ➤ Fehlende Kenntnisse über die Gründe zur Migration und Flucht. ➤ Fehlender Erfahrungsumgang in Zusammenhang mit Diskriminierung auf unterschiedlicher Ebene, wie z. B. subjektive Diskriminierungserlebnisse oder strukturelle Diskriminierung. ➤ Unzureichende Kenntnisse über flucht- und post-traumageprägte Lebensbedingungen. ➤ Erschwerte Zugänge in Ausbildung und Beruf wegen fehlender Aufenthaltstitel. ➤ Überforderung in der Wahrnehmung und im Umgang mit Veränderungen im identitätsstiftenden Prozess sowie Generationenkonflikte in der Familie. ➤ Schwierigkeiten in der Einordnung des Umganges mit spezifischen Krankheiten, wenn z. B. Klienten einem Wahrsager oder kulturspezifischen Heiler mehr trauen als der Schulmedizin. ➤ Überwiegend fehlende Kenntnisse über kultur-, religions-, rollenerwartungs-, bildungs- und sozialisationsspezifische Hintergründe und Zusammenhänge. ➤ Fehlende Sprachkompetenzen, um Bedürfnisse zum Gegenstand der pädagogischen Arbeit zu machen. Übertriebene Idealisierung migrantischer Lebensmuster und damit Verzerrung der eigenen reflektierten Haltung als Fachkraft. ➤ Unreflektierte vorurteilsgeprägte Haltung und übertriebene Empathiehaltung. ➤ Verallgemeinerung der Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen migrantischer Zielgruppen. ➤ Projizierung eigener soziokultureller und religiöser Prägung in die Zielgruppe. ➤ Hilfeangebote sind nicht transparent bzw. lange anhaltende Hilfen werden als Vorbehalte gegenüber MigrantInnen bewertet. ➤ Einstellungspraxis der Tendenzbetriebe nach § 118 BetrVG. Tab. 1 211 uj 5 | 2014 Interkulturelle Erziehungshilfen erfordern eine entwicklungsgerechte Erhebung, um z. B. das Erstellen der Hilfepläne inhaltlich entsprechend so zu gestalten, dass die Hilfeberechtigten ihre Bedürfnisse darin wiedererkennen. Migrantische Familien und Hilfen zur Erziehung Was motiviert die Hilfe zur Erziehung, sich der migrantischen Familien anzunehmen? Oder umgekehrt gefragt, welche Kriterien erfüllen die migrantischen Familien, dass sie durch Hilfen zur Erziehung betreut werden? Fatma Erdem (2011, 138ff ) dokumentiert anhand ihrer empirischen Studie die Vielfalt der Problemfelder türkischer Migrantenfamilien, die durch HzE betreut wurden. Sie formuliert folgende Felder: ➤ Probleme in Bezug auf die Migration, ➤ Probleme in Bezug auf Bildung und Sprache, ➤ Probleme in Bezug auf Erziehung sowie ➤ Probleme in Bezug auf die Rollenverteilung. Im Folgenden werden Exzerpte aus den Interviews mit Fachkräften vorgestellt, die türkische Migrantenfamilien im Rahmen der HzE-Maßnahme betreuen. Probleme in Bezug auf die Migration Eine Kombination von unterschiedlichen Problemfeldern wirkt sich desaströs auf das Familienleben aus. Folgende Exzerpte der empirischen Aussagen belegen eindrucksvoll, welche Wirkungen und Nebenwirkungen diese Kombinationen verursachen können: „Den Familien fehlt es an Informationen über das Gesellschaftssystem in Deutschland. (…) Sie kommen mit bürokratischen Formularen nicht klar und haben deshalb einen Haufen von Rechnungen liegen. Wenn die Kinder zu klein sind und niemand für sie die Briefe liest, dann sammelt sich ein Haufen von Schulden. Das sind migrationsbedingte Schwierigkeiten.“ (Erdem 2011, 139) Diese Beispiele konzentrieren sich auf Migrationserfahrung bzw. die fehlende Unterstützung in der Organisation der formalen administrativen Angelegenheiten. Werden diese jedoch nicht erledigt, geraten die Familien in ein Fahrwasser der materiellen Verschuldung. Da das Sozial- und Hilfesystem ihnen nicht hinreichend bekannt ist, können sie die Anforderungen des Systems nicht erfüllen. Diese Tatsache führt dazu, dass die gesamte Familie mit vielen kausalen Zusammenhängen zu einem langfristig zu betreuenden Fall der Sozialen Arbeit werden kann. „Bei vielen türkischen Familien, besonders bei Frauen, ist mir aufgefallen, dass die ein Trauma mit sich herumschleppen, was aus ihrer eigenen Vergangenheit herrührt. Zum Bespiel sind damals die Eltern nach Deutschland gekommen und haben die Kinder dort gelassen für einige Jahre. (…) Also dieses Trauma kommt heute zutage gerade in meiner Arbeit. Die Frauen haben dieses Trauma noch nicht überwunden. Sie sind nicht in der Lage, parallel dazu alle anderen Probleme zu bewältigen. Es ist schwer.“ (Erdem 2011, 139) Bei dieser Zielgruppe handelt es sich um die sogenannten Kofferkinder. Dabei geht es um die Kinder, die in der Türkei zurückgelassen wurden, während die Eltern nach Deutschland migrierten. Es wird von etwa 700.000 Kindern ausgegangen. Gülcin Wilhelm, selbst ein Kofferkind, hat dieses Thema authentisch in ihrer Publikation „Generation Koffer. Die Zurückgelassenen Kinder“ besprochen. Diese Kinder wurden von der Verwandtschaft beaufsichtigt. Nachdem die Eltern diese Kinder nachgeholt haben, haben sie in Deutschland einen Kulturschock erlebt, da sie ohne elterliche Liebe und Zuneigung aufgewachsen sind. Wie die Familienhelferin bestätigt, handelt es sich um ein Trauma. Dieses Beispiel deutet auf eine frauenspezifische Herausforderung hin. 212 uj 5 | 2014 Interkulturelle Erziehungshilfen Hier sind gezielte frauenspezifische Beratungs- und Therapiekompetenzen gefragt, die wiederum den Migrationsprozess in diese Settings der Betreuung einbauen können. Es gilt jedoch zu bedenken, dass eine klassische HzE mit dieser Aufgabe überfordert ist. Festzuhalten ist, dass es diese spezifische Zielgruppe gibt, die durch eine empirische Erhebung sichtbar wurde. Nun sind zielgruppenorientierte HzE-Angebote gefragt. Probleme in Bezug auf Bildung und Sprache Man begegnet oft MigrantInnen, die ein Nominativdeutsch sprechen. Diese sprachlichen Defizite sind sowohl auf die bisherige Integrationspolitik zurückzuführen als auch auf die zwischenstaatlichen Vereinbarungen, die eine Migration qua Vertrag ermöglicht haben. Allerdings hilft es nicht weiter, in der Vergangenheit herumzuwühlen, denn Hilfe ist heute angesagt. „Die Familien haben in erster Linie die üblichen Sprachprobleme. Dadurch bekommen sie keine gut bezahlte Arbeit. Dadurch können sie ihre Familien nicht ernähren. Viele sind auf staatliche Leistungen angewiesen. Es sind natürlich Unterschichtfamilien. Sie haben die Schule abgebrochen, Lehre abgebrochen und viele sind arbeitslos und haben keinen Schulabschluss.“ (Erdem 2011, 140) Diese empirischen Beispiele belegen, dass der Grund, warum die Menschen durch HzE betreut werden, in einem fehlenden bildungsspezifischen Anschluss liegt. Sprachliche Defizite führen dazu, dass die Zielgruppen durch die Raster der Bildungsangebote fallen. HzE könnte mit entsprechenden interkulturell orientierten und ressourcenfokussierten Konzeptionen die Menschen gezielt an die sozialen, kulturellen und bildungsspezifischen Maßnahmen heranführen. Probleme in Bezug auf Erziehung Ist man in dieser Gesellschaft nicht mit einem bürgerlichen Lebensstil sozialisiert, so sind Kenntnisse über das Bildungs- und Erziehungssystem nicht einfach zu erwerben. Insofern konzentrieren sich die Eltern eher auf die minimale alltägliche physische Versorgung. Die Teilhabe an der Bildung und Erziehung bleibt unversorgt. Folgendes Exzerpt beschreibt diesen Familientypus: „Ich habe bei diesen Leuten den Eindruck, dass sie gar keine Erziehungsvorstellungen haben. Sie leben einfach so in den Tag hinein, ohne bestimmte Regeln. Die Eltern sind nicht in der Lage, sich um die Erziehung ihrer Kinder auseinander zu setzen.“ (Erdem 2011, 141) Das Erkennen der Bedeutung von Erziehungszielen ist für HzE-Familien ein wichtiger Aspekt, um mit HzE-Fachkräften kooperieren zu können. Dies ist nicht von vornherein gegeben. Es muss erst erarbeitet werden, was jedoch keine einfache Aufgabe ist, da die HzE-Maßnahme zeitlich eng begrenzt ist. Eine sinnvolle Ergänzung wäre es also, mit den Regeldiensten vernetzt zu arbeiten, dass die Familien eine reale Chance haben, um Erziehungsziele wertzuschätzen, d. h. das Bildungs- und Erziehungssystem kennenzulernen, um sich entsprechend zu organisieren. Probleme in Bezug auf die Rollenverteilung Ein vierter Typus, der sich durch die empirische Erhebung herausgebildet hat, ist die Rollenverteilung. „Wenn der Vater etwas sagt, dann ist es gut so. Die Mutter sagt und sagt und akzeptiert es, dass nicht viel passiert. Unter Umständen gibt es ein paar um die Ohren, was sicher auch türkisch-spezifisch ist. Das bedauere ich sehr, dass die Mutter nicht 213 uj 5 | 2014 Interkulturelle Erziehungshilfen gehoben wird in ihrer Verantwortung und in ihren vielfältigen Anstrengungen. Aber es hat sich bei meiner Arbeit mit Familien herausgestellt, dass sich das nach einer gewissen Zeit auch ändern kann. Man muss das fallspezifisch sehen. Wie der Vater ist, so ist der Sohn und wie die Mutter ist, so ist die Tochter." (Erdem 2011, 145f ) Ein wichtiger Erfolgsfaktor für das Erreichen der HzE-Ziele ist die kooperative Bereitschaft der Familie für eine Zusammenarbeit. Allerdings sind die Geschlechterverhältnisse in den Familien traditionell und soziokulturell so tief verwurzelt und geprägt, dass dies nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann. Vereinzelt können allerdings Erfolge berichtet werden und es sind Hinweise gegeben, dass die Väter nicht wissen, worum es geht. Jenseits der traditionellen Rollenverteilung tritt hier die Wahrnehmung der pädagogischen Ziele in Erscheinung. Es liegt demnach sehr nahe, dass Väter, wenn sie die pädagogischen Inhalte nicht erfasst haben, eine Zusammenarbeit ablehnen und sich - wie auch die Fachkräfte - hinter dem Deckmantel der traditionellen Rollenverteilung verstecken. Es braucht demnach eine gezielte fachliche Ansprache, wie die Inhalte der HzE vermittelt werden können, damit die Väter erstens kooperieren und zweitens die Rolle der Mutter honorieren und anerkennend damit umgehen. Interkulturelle Öffnung der Erziehungshilfen Die deutsche Gesellschaft ist hinsichtlich der Menschen, die hier leben, multikulturell geprägt. In deutschen Großstädten beträgt der Anteil von Kindern und Jugendlichen teilweise bis zu 50 % eines Jahrganges (BAMF 2013). Ausgehend von dieser demografischen Entwicklung, ist eine interkulturelle Öffnung des Dienstleistungssektors, zu dem auch die Erziehungshilfen zählen, unumgänglich. Die Frage ist nicht mehr ob, sondern wie. Die Fachliteratur (Hinz-Rommel 1994; Hamburger 2009; Fischer 2005; Militzer u. a. 2002; Straßburger/ Bestmann 2008; Kumbier/ Schulz von Thun 2006; Gogolin/ Krüger-Potratz 2006; Mecheril 2010) dokumentiert eine große Vielfalt dieses Themas für unterschiedliche Handlungsfelder in der Sozialen Arbeit. Die Vielfalt des professionellen und wissenschaftlichen Diskurses verweist auf die Komplexität des WIE der interkulturellen Öffnung. Nach Fischer (2005, 21) bedeutet interkulturelle Öffnung einen „Prozess der Organisationsentwicklung, der die Zugangsbarrieren für Migranten (…) beseitigt. (…) Interkulturelle Öffnung setzt interkulturelle Kompetenz voraus. Es bedarf Einzelner oder Gruppen, die als Pioniere den Impuls geben. Die Organisationsentwicklung erfolgt sowohl in Top-down als auch in Bottom-up-Richtung. Sie erfasst die Organisation als Ganzes und basiert auf einem Gesamtkonzept, das bestimmten Qualitätsstandards entspricht." An dieser Stelle soll nur eine Definition der interkulturellen Öffnung vorgestellt werden, um daraus Handlungsmöglichkeiten für HzE-Felder abzuleiten: Interkulturelle Öffnung ist eine fachliche Weiterentwicklung der Ausländerpädagogik, die in den 1980er Jahren entstanden ist. Insofern ist die interkulturelle Öffnung nicht plötzlich entstanden, sondern es handelt sich um einen Prozess der pädagogischen Entwicklung unter dem Gesichtspunkt der Organisationsentwicklung in einer modernen und multikulturell geprägten Gesellschaft. Dabei geht es um Erreichen eines gleichberechtigten Zuganges und der Teilhabe aller Menschen. Insofern soll dabei keine Zielgruppe bevorzugt werden, sondern einer insbesondere strukturell bedingten Ausgrenzung (Scherr 2014) entgegengewirkt werden. Denn alle jungen Menschen haben nach § 1 Abs. 1 SGB VIII Anspruch auf Förderung und Erziehung. Auf der theoretischen Ebene wird dieser Bedarf weitestgehend befürwortet. Eine bedarfsbedienende und flächendeckende interkulturelle Öffnung, wie sie z. B. in München (Handschuck/ Schröer 1997; 214 uj 5 | 2014 Interkulturelle Erziehungshilfen Schröer 2002) durchgeführt wurde, ist in der Praxis sonst nicht zu finden. Auch wenn in einigen Städten (Essen, Nürnberg) überschaubare Projekte zur interkulturellen Öffnung durchgeführt wurden (z. B. hat die Stadt Mörfelden- Waldorf den Zusatz„Stadt der Vielfalt“ zu ihrem Stadtwappen hinzugefügt), ist der Umfang der strukturellen interkulturellen Öffnung in München noch ein Einzelfall (BMFSFJ 2002, 210ff ). Insofern besteht ein erheblicher Bedarf, dieses Thema in den Fachdiskursen auf die Agenda zu nehmen. Auf der Ebene des theoretischen Diskurses ist man viel weiter als in der Durchführung der Ergebnisse. So schlussfolgert Filsinger (2006, 89): „Im Kern gibt es kein Konzeptdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit.“ Für die Umsetzung der interkulturellen Öffnung im Sinne des Qualitätsmanagements in der Sozialverwaltung werden von Handschuck/ Schröer (2000, 87) folgende Kriterien explizit genannt: „Leitbild entwerfen (…), Ziele entwickeln (…), Schlüsselprozesse benennen (…), eine Aufbau- und Ablauforganisation im Sinne einer konsequenten Kundenorientierung verändern (…), ein Qualitätshandbuch erstellen (…), ein Auswertungsverfahren entwickeln.“ Wie man sieht, handelt es sich dabei um einen umfangreichen Handlungsprozess, der das Einbeziehen von interkulturell normativen Ordnungsprinzipien voraussetzt, um eine fachlich vertretbare Fortbildung im Sinne einer Qualitätssicherung zur Gewährleistung von Nachhaltigkeit durchzuführen. Interkulturell normative Ordnungsprinzipien sind solche Wegweiser, die einen Zugang in die Lebenswirklichkeit von AdressatInnen ermöglichen, da sie allmählich das Bildungs- und Hilfesystem mitprägen. Diese werden in der Fachliteratur unterschiedlich erfasst und diskutiert. Eine eindrucksvolle Zusammenstellung der interkulturell normativen Merkmale (oder bevorzugt Ordnungsprinzipien genannt) wird wie folgt vorgestellt. Interkulturelle Kompetenz in den Hilfen zur Erziehung - interkulturell normative Ordnungsprinzipien In der Fachliteratur wird der Begriff der interkulturellen Kompetenz unterschiedlich definiert. Dabei bedient man sich sowohl theoretischer Diskurse als auch empirischer Befunde. So werden im Rahmen einer Evaluation von interkulturellen Trainings drei Dimensionen der interkulturellen Kompetenz aufgeführt: Persönlichkeitsmerkmale, kognitive Merkmale und soziale Kompetenz. „Persönlichkeitsmerkmale Motivation und Interesse an interkulturellem Kontakt, Unvoreingenommenheit, Verzicht auf negative Bewertungen, positive Einstellung zu einer fremden Kultur, Akzeptanz kultureller Unterschiede, realistische Erwartungen, Ambiguitätstoleranz, Empathie, Offenheit und Flexibilität im Umgang mit fremden Gedanken und Ideen, Initiative, Selbstbewusstsein, Ausdauer, Toleranz, Stressresistenz, Humor. Kognitive Merkmale Allgemeines Wissen und Bewusstsein für kulturelle Unterschiede, Bewusstsein der Normen und Werte sowie Kommunikationskonventionen der eigenen Kultur, Kenntnisse über die Eigenheiten einer fremden Kultur (Werte, Normen, Konventionen), Kenntnisse des Landes (Landeskunde), Fachkenntnisse. Soziale Kompetenz Sprachfertigkeit bzw. Fähigkeit zur Gesprächsführung, Fähigkeit zur Lösung von Problemen und Missverständnissen, reflektierter Umgang mit Stereotypen, Verhaltenssensibilität, Fähigkeit, Beziehungen herzustellen und aufrechtzuerhalten, Respekt gegenüber den Sitten und Gebräuchen einer anderen Kultur, Fähigkeit des Aushandelns von für beide Seiten akzeptierbaren Identitäten, Fähigkeit, aus der interkulturellen Kommunikation dynamisch zu lernen.“ (zit. n. Erdem 2011, 80; s. auch Hinz-Rommel 1994) 215 uj 5 | 2014 Interkulturelle Erziehungshilfen Bei der Entwicklung von Konzepten der Erziehungshilfen können diese interkulturellen Kompetenzen von unterschiedlichen Stellen herangezogen werden. Es handelt sich um einen Entwurf, der vielseitige Möglichkeiten anbietet, um die Zugangsbarrieren zu entschärfen. Erfahrungen aus der Praxis der HzE Anhand der Darstellung von drei Fällen aus der Praxis der HzE werden Anhaltspunkte gegeben, um die Perspektiven bei der Konzeptionierung der HzE zu erweitern und zu ermöglichen, dass Sichtweisen sowie Bedürfnisse von AdressatInnen gezielter erkannt und bedient werden. Wer ist Tatar Ramazan? Ein türkischer Junge im Alter von 16 Jahren, der im Rahmen von Erziehungshilfen betreut wird, wurde wegen mehrerer Diebstahlsdelikte zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt und er kam in die Jugendvollzugsanstalt, um seine Strafe abzusitzen. Daraufhin vertraten die Eltern die Ansicht, ihr Junge sei „Tatar Ramazan“. Doch was heißt das? Was soll man als Fachkraft mit diesem Hinweis anfangen? Was wollten die Eltern damit ausdrücken? Zunächst kann von zwei Möglichkeiten der Reaktion auf die Aussage der Eltern ausgegangen werden: Erstens, man stellt keine Empathie her und übergeht diese Aussage. Damit gewinnt dieser Hinweis keine pädagogische Relevanz und der Fall wird zunächst abgeschlossen, da der Junge anderweitig versorgt ist. So sehr verkürzt dieser Fall dargestellt ist, so nah an der Realität ist er in der Praxis. Zweitens, man geht darauf ein und macht diese Aussage zum Gegenstand der pädagogischen Arbeit. Mit dieser Art des Umganges mit interkulturellem Verstehen von Prozessen und dem Erkennen von Bedürfnissen kann sich die gängige Art der Hilfe zur Erziehung nicht rühmen. Dabei gäbe es gute Möglichkeiten, interkulturell normative Ordnungen in diesem Fall zu erkennen. Welche sind das? Wenn der Fall tatsächlich vonseiten der Fachkräfte der Erziehungshilfe abgeschlossen wird, ohne auf die Aussage der Eltern einzugehen, wird die Familie in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem richterlichen Urteil, das auf Recht und Gesetz beruht, allein gelassen. Dann fördert man das Misstrauen der Familie in die Gleichbehandlung von MigrantInnen und Deutschen durch die Justiz. So entstehen weitere Mutmaßungen und der Einblick in die Hintergründe und Zusammenhänge des Diebstahlsdeliktes wird ausgeblendet. Damit wird die eigentliche Ursache des Urteils verkannt. Wer ist Tatar Ramazan? Tatar Ramazan heißt eine Filmserie, die im türkischen Fernsehen ausgestrahlt wird. Der Hauptdarsteller erscheint in der Figur eines türkischen Robin Hood. Für die Eltern ist ihr Junge also ein Held und er wurde deswegen verurteilt, nicht weil er mehrere Diebstähle begangen hat. Mit dieser Aussage sprechen die Eltern aus, was für sie die richtige Auslegung der Verurteilung ihres Jungen ist: Danach handelt es sich um einen Justizfehler. Die Eltern blenden jedoch aus, weshalb ihr Junge so viele Diebstähle begangen hat. Sie stellen keine kausalen Zusammenhänge her oder versuchen sich nicht mit dem Inhalt des Urteils auseinanderzusetzen. Hier sind interkulturell kompetente Fachkräfte gefragt, die den Zugang in das Beleuchten des Weges hin zur kriminellen Handlung des Jungen ermöglichen und so den Eltern den Richterspruch erklären. Nach dieser pädagogischen Konzeption wurde auch mit den Eltern gearbeitet. Erst nach intensiver Beratung unter Erkennen, Wahrnehmen und Umsetzen der oben vorgestellten Ordnungsprinzipien interkultureller Merkmale (Persönlichkeitsmerkmale, kognitive 216 uj 5 | 2014 Interkulturelle Erziehungshilfen Merkmale und soziale Kompetenzen) konnten die Einstellungen der Eltern ausführlich besprochen und der Richterspruch erläutert werden. Sie haben eingesehen, dass ihr Junge doch kein Tatar Ramazan ist und dass es sich nicht um einen Justizfehler handelt, sondern die jeweiligen Ursachen der kriminellen Handlungen des Jungen vielschichtig sind. „Der iranische Geheimdienst verfolgt mich“ Eine 45-jährige alleinerziehende iranische Mutter einer 10-jährigen Tochter, die in einer HzE- Maßnahme betreut wurde, ging davon aus, dass sie vom iranischen Geheimdienst verfolgt und beobachtet wird. All ihre Aktivitäten wurden nach ihrer Auslegung von einer angeblichen geheimen Instanz, also dem iranischen Geheimdienst, kontrolliert und behindert. Sie stellte Vermutungen auf und lies sich im Alltag davon leiten. Sie hatte keine Belege, um ihre Aussagen zu dokumentieren. Eine konkrete Konfrontation mit dem iranischen Geheimdienst konnte von der Mutter auch nicht genannt werden. Warum ist es so wichtig, sich aus der Perspektive der interkulturellen Arbeit mit diesem Fallbeispiel zu befassen? Der Bedarf resultiert aus der Erfahrung, dass sie erstens mit ihrer Haltung eine lösungsorientierte Fortsetzung der pädagogischen Arbeit behindert hat und zweitens, dass daraus interkulturell pädagogische Nuancen für die Erziehungshilfe abgeleitet werden können. Die Mutter hat durch ihr Verhalten die HzE ins Leere laufen lassen, indem sie die pädagogische Arbeit (Gespräche über die Organisation und Ordnung des Kinderzimmers, für das Kind ein Kinderbett zu kaufen, damit das Kind in seinem Bett schlafen kann, Gespräche über die Bedeutung des Spielens der Tochter mit anderen Kindern im Spielpark, Kontakte zu deutschen, nicht-deutschen und iranischen NachbarInnen herstellen und diese zu pflegen usw.) zwar grundsätzlich für richtig und gut befunden, aber die vereinbarten Aktivitäten, wie etwa mit der Tochter auf den Spielplatz zu gehen, nicht umgesetzt hat. Was ist in diesem Fallbeispiel interkulturell? Interkulturell ist, dass unterschiedliche normative Ordnungsprinzipien das Verhalten der Mutter bestimmen, dass sie sich von deutschen Ordnungsbehörden nicht hinreichend geschützt fühlt, dass sie insofern auch HzE-Fachkräften gegenüber skeptisch ist und deswegen der Mitwirkungspflicht konsequent nicht nachkommt. Diese Tatsache liefert ausreichende Gründe, um sich aus der Perspektive der interkulturell normativen Ordnungsprinzipien mit dem Fall zu befassen. „Diese Geschenke sind für meine Tochter“ Ein marokkanisch-berberischer Vater, 65 Jahre alt, lebt getrennt von seiner Ex-Frau, mit der er drei Kinder im Alter von fünf, sieben und acht Jahren hat. Der Vater lebt seit 45 Jahren in Deutschland und ist seither berufstätig. Die Mutter, 45 Jahre alt, ist Analphabetin und spricht kaum Deutsch. Zwar ist sie seit etwa zehn Jahren in Deutschland, aber ihre Kenntnisse über das Bildungs-, Hilfe- und Infrastruktursystem sind ungenügend, um ihre Wünsche zu artikulieren und Hilfe anzufordern. Sie wird deswegen von einer arabisch-berberisch sprechenden Fachkraft im Rahmen der HzE betreut. Die beiden älteren Kinder sind fremd untergebracht und haben gelegentlichen Kontakt zur Mutter. Das jüngste Kind, eine Tochter, lebt bei der Mutter. Im Rahmen der HzE hat der Vater einen Umgangskontakt mit seiner jüngsten Tochter beantragt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten konnte der Umgangskontakt durchgeführt werden, an dem ein weiblich-männliches Fach- 217 uj 5 | 2014 Interkulturelle Erziehungshilfen kraft-Tandem beteiligt war. Dabei kam der Vater mit einem Kombiwagen zu Besuch, der voll beladen war mit Kleidung und Spielsachen, die teilweise verdreckt oder auch defekt waren. Er lud diverse Gegenstände aus dem Auto aus und wollte diese seiner fünfjährigen Tochter schenken. Hinzu hatte er Kleidung aus der Heimat für die Mutter der Kinder mitgebracht, die er der Mutter schenken wollte. Die Mutter wollte ihn weder sehen noch mit ihm reden noch irgendetwas von ihm haben. Er beharrte darauf, die diversen Geschenke der Tochter zu überlassen, mit der Begründung, es sei Winter, die Tochter brauche Kleider. Da die Tochter im Winter nicht draußen spielen könne, brauche sie viel Spielzeug, um zu Hause damit zu spielen. Nach Intervention des Betreuers, dass er alle diese Geschenke seiner Tochter nicht schenken könne, zitierte er aus dem Koran und sagte, es sei ein islamisches Gebot, dass der Vater für das Wohl seiner Kinder und seiner Frau sorgt. Zugleich sprach er den Betreuer an, er sei auch Muslim, er müsse das doch verstehen. Der Hinweis des Vaters in Bezug auf „das Wohl des Kindes“ wurde sodann aufgegriffen und in einfacher sprachlicher Kommunikation wurde ihm vermittelt, dass das Kinder- und Jugendhilfegesetz, das Jugendamt und die Fachkräfte auch das Wohl der Kinder fördern und den Umgangskontakt mit seiner Tochter unter fachlicher Aufsicht ermöglichen. Nach dieser intensiven Beratung wurde er vom Betreuer zu seiner Tochter begleitet, die im gleichen Raum mit der Betreuerin spielte. Beide Männer haben sich zur Tochter gesetzt und der Vater wurde angeleitet, wie er mit der Tochter spielen kann, da er dadurch das Wohl seiner Tochter fördern würde. Was ist an dem Fall interkulturell? Der Vater, der die ganze Zeit laut herumschrie und damit beschäftigt war, seiner Tochter kiloweise unnütze, zerrissene, verdreckte und defekte Gegenstände zu schenken, spielte nach einer Ansprache, die seine individuellen Ressourcen hervorlockte und seine Wert- und Normenvorstellungen wertschätzte, mit einem fröhlichen Gesicht mit seiner Tochter auf einer Spielmatte. Der entscheidende Zugang wurde dadurch erzeugt, dass er in seinen Vorstellungen, die sich auf das Wohl seines Kindes konzentrierten, respektiert, sein Angebot wahrgenommen und in pädagogische Praxis umgesetzt wurde. Diese Ressourcen zu erkennen, kennzeichnet den pädagogischen Zugang im Sinne interkulturell normativer Ordnungsprinzipien. Kritik der interkulturellen Praxis in der Sozialen Arbeit Ein grundsätzliches Problem in der interkulturellen pädagogischen Praxis besteht darin, dass zu oft geäußerte und gut gemeinte Absichten in Bezug auf interkulturelle Öffnung vor dem Tor der Entscheidung in Windeseile verblassen. Um ein Beispiel zu nennen: Inzwischen gehört es zum guten Ton, in die Ausschreibungen den Hinweis „Bewerbungen von Interessierten mit Migrationshintergrund sind erwünscht“ aufzunehmen. Was passiert eigentlich nach den Vorstellungsgesprächen? Wie transparent ist die erfolgte Entscheidung? Wird dieser gute Ton konsequent weiterverfolgt oder sind andere gewichtigere Gründe bei der Einstellung handlungsleitend? Die Frage kann an dieser Stelle nur angerissen und als ein entscheidender Kritikpunkt festgehalten werden. Das Dilemma der flexiblen Einstellungspraxis wird in einer neuen Studie von Albert Scherr differenziert dargestellt. Er untersucht die unterschiedlichen Ursachen der Diskriminierungspraktiken von Betrieben und kommt zu der Schlussfolgerung, dass demonstrative Bekenntnisse zu Diversity-Programmen nicht genügen. 218 uj 5 | 2014 Interkulturelle Erziehungshilfen „Vielmehr ist es erforderlich, diskriminierende Einstellungen und Praktiken als Problem anzuerkennen und sie auf betrieblicher Ebene genau zu analysieren.“ (Scherr 2014, 4) Diese Lesart kann auf alle privaten und öffentlichen Betriebe übertragen werden. Diskriminierung erfahren vor allem Zielgruppen „aus Nicht-EU-Ländern, insbesondere aus der Türkei und aus Afrika, aber auch Roma aus Süd- und Osteuropa.“ (Scherr 2014, 2) Danach sind von der Diskriminierung alle Bewerbertypen betroffen, d. h. sowohl gering qualifizierte als auch HochschulabsolventInnen. Diese Effekte waren und sind bereits bekannt, so dass dieses Dilemma insofern keine neue Entwicklung darstellt. Bereits Erwing Goffman (2007) hat diese Prozesse in den 60er Jahren in seiner Studie „Stigma“ intensiv analysiert. Es fehlt also nicht an Erfahrungswissen oder an Orientierungsmöglichkeiten, sondern es sind immer wieder bestimmte Personen, die gezielte eigennützige Entscheidungen im Sinne der Werteorientierung des eigenen Betriebes treffen. Dabei ist es nicht entscheidend, ob es sich um einen kleinen oder großen Träger der Sozialen Arbeit handelt, um Kommunen oder andere Betriebe. Diese Praxis insbesondere im Bereich der Einstellung und der Fort- und Weiterbildung von Fachpersonal trägt dazu bei, dass unreflektierte Haltungen in der pädagogischen Praxis sich stetig stabilisieren und sich über mehrere Generationen hinweg reproduzieren. Eine bedarfsgerechte sozialarbeiterische Versorgung der AdressatInnen, wie sie etwa im § 9 in Abs. 2 SGB VIII vertreten wird, wird durch diese Praxis gezielt und bewusst verweigert. Unter der Überschrift „Grundrichtung der Erziehung, Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen“ heißt es: „Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben sind (…) die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes oder des Jugendlichen zu selbständigem, verantwortungsbewusstem Handeln sowie die jeweiligen besonderen sozialen und kulturellen Bedürfnisse und Eigenarten junger Menschen und ihrer Familien zu berücksichtigen.“ Welche Konsequenzen hat die Diskriminierung in der Einstellungspraxis auf die interkulturelle Öffnung? Die Erfahrung zeigt, dass Sozialbetriebe, Träger und andere Arbeitgeber, die in ihrem Mitarbeiterstamm ausländische/ migrantische KollegInnen beschäftigen, wiederum von ausländischen/ migrantischen AdressatInnen aufgesucht werden bzw. dass dadurch die Zugangsbarrieren wesentlich niedriger sind als bei denen, die keine oder nur vereinzelt solche MitarbeiterInnen beschäftigen. Aus der Praxis kann abgeleitet werden, dass reflektierte migrantische MitarbeiterInnen die Bedürfnisse migrantischer Zielgruppen eher erfassen und damit zur Qualitätssicherung und Nachhaltigkeit der pädagogischen Arbeit beitragen. Demnach fehlt es nicht an fachlichen Good-Practice-Beispielen, sondern an adäquaten Entscheidungen der Leitungskräfte. Letztendlich ist die reflektierte und transparente Personalentwicklung im Sinne der interkulturellen Öffnung aber notwendig, um angemessene Hilfen zur Erziehung im Kontext des demografischen Wandels und der zunehmenden Ausdifferenzierung der Zielgruppen anzubieten. Insbesondere sind Herausforderungen in den Handlungsbereichen des Kindeswohls und des Kinderschutzes eine drängende Aufgabe, die zu bedienen ist. Dr. Cengiz Deniz Bonner Institut für Migrationsforschung und interkulturelles Lernen PF 70 43 53070 Bonn dr.deniz@gmx.de 219 uj 5 | 2014 Interkulturelle Erziehungshilfen Literatur Albus, S. u. a. (2009): Fazit der Evaluation zum Bundesmodellprogramm„Wirkungsorientierte Jugendhilfe“. In: ISA Planung und Entwicklung Gmbh, Universität Bielefeld (Hrsg.): Wirkungsorientierte Jugendhilfe. Band 09. ISA, Münster Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2002): 11. Jugendbericht - Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung. Eigenverlag, Berlin Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (1998): Handbuch Sozialpädagogische Familienhilfe. Kohlhammer, Stuttgart Deniz, C. (2009): Interkulturelle Aspekte von Erziehungsgewalt. In: Oetker-Funk, R., Mauerer, A. (Hrsg.): Interkulturelle psychologische Beratung. 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