eJournals unsere jugend 66/5

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2014
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„Das hat sich alles voll geändert!“

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2014
Manuela Theiss
Selda Aydogan
Alexander Mack
Annika Weber
Um junge Menschen und deren Familien in schwierigen Lebenssituationen erreichen zu können, bedarf es innovativer, kreativer Ansätze der Sozialen Arbeit. Einen solchen Ansatz bietet die Ambulante Intensive Begleitung (AIB) bzw. die Intensive Sozialpädagogische Begleitung (ISB).
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220 unsere jugend, 66. Jg., S. 220 - 228 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art23d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Das hat sich alles voll geändert! “ Konzept und Wirkung der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung in Esslingen Um junge Menschen und deren Familien in schwierigen Lebenssituationen erreichen zu können, bedarf es innovativer, kreativer Ansätze der Sozialen Arbeit. Einen solchen Ansatz bietet die Ambulante Intensive Begleitung (AIB) bzw. die Intensive Sozialpädagogische Begleitung (ISB). von Manuela Theiss Jg. 1984; Sozialarbeiterin/ Sozialpädagogin (B. A. und M. A.) Selda Aydogan Jg. 1979; Diplom-Sozialarbeiterin/ Sozialpädagogin (FH) Alexander Mack Jg. 1971; Diplom-Sozialarbeiter/ Sozialpädagoge (FH) Annika Weber Jg. 1983; Diplom-Erziehungswissenschaftlerin, Kriminologin (M. A.) Die Intensive Sozialpädagogische Begleitung wurde in den Jahren 1998 bis 2002 als vom Bundesministerium für Frauen, Senioren, Familie und Jugend gefördertes Pilotprojekt durch das Institut für Soziale Praxis des Rauhen Hauses an fünf Standorten in Deutschland implementiert und durch das Deutsche Jugendinstitut evaluiert (Hoops/ Permien 2003, 9f ). In Esslingen am Neckar wurde dieses Konzept im Jahr 2001 als Modellprojekt mit dem Projekt „Outcast“ umgesetzt. Das Konzept, aus dem der Ansatz der AIB auf die Bedingungen in Deutschland abgeleitet wurde, stammt ursprünglich aus den Niederlanden. Dort wird er seit den 1990er-Jahren mit positiven, erfolgreichen Ergebnissen umgesetzt. Ziel des Ansatzes ist es, junge Menschen in Krisensituationen, die mit devianten Verhaltensweisen auffällig geworden sind, durch die 221 uj 5 | 2014 Intensive Sozialpädagogische Begleitung (Re-) Integration in stabile soziale Netzwerke zu unterstützen. Mit Netzwerken sind zum einen individuelle Netzwerke der AdressatInnen gemeint, zum anderen jedoch auch institutionelle Netzwerke. Junge Menschen sollen durch die Entwicklung individueller Lösungsstrategien langfristig stabilisiert werden. Die Begleitung durch Fachkräfte ist hierbei zeitlich begrenzt, im Anschluss an die Begleitung sollen die vorhandenen oder neu aktivierten Netzwerke greifen (Möbius/ Klawe 2003, 11f ). Die einzelnen Elemente des AIB-Ansatzes sind in der Sozialen Arbeit bekannt und gängig (wie beispielsweise Empowerment oder Aspekte der sozialen Unterstützung). Durch die Verknüpfung mit den methodischen Spezifika des Ansatzes, dem Bestreben, Jugendhilfekarrieren zu vermeiden sowie der zeitlichen Befristung der Begleitung werden diese jedoch zu einem innovativen Handlungsrahmen, der sich von anderen Jugendhilfeangeboten abgrenzen lässt (Möbius/ Klawe 2003, 32). Weitere Charakteristika des Ansatzes sind die adressatenorientierte Haltung, eine systemisch orientierte Sichtweise und die konsequente Ressourcen- und Lösungsorientierung (Möbius/ Klawe 2003, 42ff ). Das Modellprojekt „Outcast“ Im Jahr 2001 startete in Esslingen am Neckar das Modellprojekt „Outcast“. Innerhalb von drei Jahren wurde das Konzept der AIB in drei Phasen (Vorlaufphase, Praxisphase und Auswertungsphase) auf die lokalen Gegebenheiten und Ressourcen angepasst und mit der Bezeichnung „Intensive Sozialpädagogische Begleitung“ (ISB) umgesetzt (Outcast Esslingen 2004, 1). Durch die sehr gute Kooperation mit dem Sozialen Dienst der Stadt Esslingen, der auch in diversen begleitenden Gremien vertreten war, konnte das Projekt gut starten und sich als Jugendhilfeangebot zügig etablieren. Im Jahr 2004 ging das Konzept unter dem Namen „Gesellschaft für Erziehungshilfe“ in Form einer GbR in die Regelfinanzierung über. Träger ist zum einen die „Stiftung Jugendhilfeaktiv“ (www.jugendhilfe-aktiv.de) und zum anderen die Kinder- und Jugendhilfe Neuhausen (www. skf-stuttgart.de). In der Zeit nach den ersten Implementationen durch das Rauhe Haus wurde es in der Fachdiskussion wieder ruhiger um dieses Konzept. Die Gesellschaft für Erziehungshilfe macht jedoch seit Jahren positive Erfahrungen mit diesem Ansatz, weswegen in den Jahren 2012/ 2013 eine Evaluation des Angebotes durchgeführt wurde. Bevor die Ergebnisse der Erhebung dargestellt werden, soll ein kurzer Überblick über die Art und die Umsetzung der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung in Esslingen gegeben werden. Intensive Sozialpädagogische Begleitung in Esslingen Zielgruppe der Gesellschaft für Erziehungshilfe sind Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren, die sich in schwierigen individuellen und sozialen Problemlagen befinden, sowie deren Familien. Neben der Stadt Esslingen am Neckar umfasst das Einzugsgebiet der Gesellschaft für Erziehungshilfe noch sieben Randgebiete der Stadt. Durch ein verändertes Hilfeplanverfahren über den Sozialen Dienst kann die Unterstützung, als Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 und 35 SGB VIII, zügig und niedrigschwellig eingeleitet werden. Die Intensive Sozialpädagogische Begleitung ist zeitlich auf vier Monate befristet. Für eine Begleitung ist ein zeitlicher Umfang von ca. 10 Stunden pro Woche vorgesehen. Im Bedarfsfall kann eine Verlängerung der Hilfe um zwei Monate vereinbart werden. Zu Beginn der Hilfe liegt der Schwerpunkt auf der Erforschung vorhandener Ressourcen der AdressatInnen sowie der Konkretisierung der vereinbarten Ziele. Im Anschluss daran steht 222 uj 5 | 2014 Intensive Sozialpädagogische Begleitung deren Umsetzung und die Aktivierung und Stärkung des sozialen Netzwerkes im Vordergrund. Nach Ende der Begleitung schließt sich die „Follow up“- Phase an. Für die Gewährleistung einer adäquaten und niederschwelligen Unterstützung der jungen Menschen und ihrer Familien orientieren sich die MitarbeiterInnen an deren Bedürfnissen und Alltagsstrukturen, was sowohl eine zeitliche als auch eine räumliche Flexibilität erfordert. Dem Team der Gesellschaft für Erziehungshilfe steht ein Stellenkontingent von 2,1 Vollzeitstellen für die Intensive Sozialpädagogische Begleitung von 6,3 Fällen zur Verfügung, wobei sich der Stellenumfang auf zwei MitarbeiterInnen verteilt. Die konzeptionellen Eckpunkte der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung, wie sie in Esslingen angeboten wird, sollen in den folgenden Abschnitten kurz erläutert werden. Ressourcenorientierung Mit der Haltung„was kannst du gut, was bringst du mit und was möchtest du erreichen? “ orientieren sich die MitarbeiterInnen der Gesellschaft für Erziehungshilfe stark an den individuellen Zielen und Ressourcen der Jugendlichen und ihrer Familien. Zudem wird gezielt nach sozialen Unterstützungsmöglichkeiten durch Personen oder auch Institutionen geforscht, um Perspektiven der Unterstützung zu entwickeln. Netzwerkorientierung Unter Netzwerkorientierung ist die Annahme zu verstehen, dass das Zurückgreifen auf Personen, die eine verlässliche Beziehung und Hilfe bei der Bewältigung des Alltags bieten, für junge Menschen von zentraler Bedeutung ist. Entsprechend den Zielen der jungen Menschen werden die Ressourcen sozialer Netzwerke, die eventuell nicht mehr oder nur noch teilweise vorhanden sind, gemeinsam systematisch erforscht und gegebenenfalls (re-)aktiviert. Dabei kommen jeweils spezifische Methoden, wie die Netzwerkkarte, das Familienbrett oder die Ressourcenkarte zum Einsatz. Elternarbeit Gespräche mit Eltern oder anderen Bezugspersonen der jungen Menschen werden nach Möglichkeit von zwei MitarbeiterInnen geführt. Auch dabei stehen die Erforschung und das Nutzbarmachen der Ressourcen und Ziele im Vordergrund der Arbeit. Die Gesprächsführung ist an kurzzeitige, systemische Beratungsmodelle angelehnt. Inhalte der Elternarbeit können unter anderem die kurzfristige Entlastung und Entspannung innerhalb der Familie, Impulse für die Bewältigung von familiären Krisen, gemeinsame Entwicklung von Perspektiven, Motivation, Hilfe von außen anzunehmen oder die Fokussierung auf die vorhandenen Ressourcen der Familie sein. Lösungsorientierung Ausgehend von den Bedürfnissen und Wünschen sowie der persönlichen Lebensplanung der jungen Menschen werden Lösungen erarbeitet. Hierbei orientieren sich die MitarbeiterInnen vor allem an der aktuellen Situation und den Veränderungswünschen, um damit die Sinnhaftigkeit der Hilfe für die jungen Menschen herzustellen. Aus eben diesem Grund liegt die Verantwortung für die Suche nach Lösungen und die Entwicklung eines Lösungsweges in angemessener Weise stets bei den jungen Menschen selbst. Begleitung Nach dem Arbeitsansatz der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung sollen junge Menschen darin gefördert werden, ihre Ziele vorrangig mit Unterstützung durch Menschen aus 223 uj 5 | 2014 Intensive Sozialpädagogische Begleitung persönlichen Netzwerken umzusetzen. Positive und unterstützende Kontakte werden in der Begleitung gemeinsam aufgespürt oder angeregt. Die Beziehung zwischen ISB-MitarbeiterInnen und den jungen Menschen soll durch Vertrauen und Akzeptanz geprägt sein, um so die Grundlage einer guten Arbeitsbeziehung herstellen zu können. Kurzzeitigkeit Durch die Befristung der Begleitung auf vier (bis evtl. sechs) Monate soll die Motivation der jungen Menschen, sich auf die Hilfe einzulassen, angeregt werden. Dadurch erfordert die Hilfe einen zeitlich gut strukturierten Ablauf und hat eine starke Lösungsorientierung inne. Häufig ist mit dieser kurzzeitigen Hilfe ein Klärungsauftrag verbunden, innerhalb dessen unter Einbezug der sozialen Ressourcen eine längerfristige Lösung erarbeitet werden kann. Durch den Schwerpunkt auf die oben genannte Stärkung des Netzwerkes, die Beziehungen und die Lösungsorientierung ist die Befristung der Hilfe sinnvoll. Follow-up-Kontakte Nach einem Zeitraum von zwei, sechs und zwölf Monaten nach Ende der Begleitung - bei Bedarf auch flexibel zu handhaben - finden Follow-up-Kontakte zur Überprüfung der Tragfähigkeit der Netzwerke der jungen Menschen und deren aktueller Situation statt. Ist dies notwendig, können neue Impulse an das Netzwerk zur Stabilisierung der jungen Menschen gegeben werden. Die Follow-up-Phase gibt Sicherheit, nach Ende der Hilfe nicht alleine dazustehen, indem die ISB-MitarbeiterInnen noch eine Zeit lang als AnsprechpartnerInnen zur Verfügung stehen, falls die Netzwerke doch (noch) nicht tragen sollten. Zudem dienen die Follow-up-Kontakte der Evaluation der Wirksamkeit der Hilfe. Dokumentation Die ausführliche Dokumentation unterstützt die durch die zeitliche Befristung erforderliche Strukturierung der Hilfe sowie eine reibungslose Fortführung der Begleitung im Falle einer Vertretung. Neben der Dokumentation der Kontakte wird ein ausführlicher Abschlussbericht für die Jugendlichen, die Eltern und den Sozialen Dienst des Jugendamtes verfasst. In diesem Bericht werden die Lebensbereiche, die während der Begleitung relevant waren, sowie die erarbeiteten Ressourcen und Netzwerke dargestellt. Zudem erfolgt eine fachliche Einschätzung der MitarbeiterInnen beziehungsweise ggf. eine Empfehlung für die weitere Gestaltung der (Anschluss-) Hilfe. Auch die Follow-up-Kontakte werden zur Information an den Sozialen Dienst in einer situationsangepassten schriftlichen Form dokumentiert. Die Evaluation der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung im Jahre 2012/ 2013 Methodische Anlage Geplant war eine Erhebung der Sichtweisen der jungen Menschen auf die Intensive Sozialpädagogische Begleitung anhand einer Fragebogenerhebung mit einigen sich anschließenden Interviews, um zusätzlich „lebendiges“ Material zu erhalten. Erkenntnisinteresse war, die Einschätzung der Hilfe, die zum Teil ja schon einige Jahre zurücklag, zu erfassen sowie die Wirksamkeit der eingesetzten Methodik zu überprüfen. Befragt wurden alle 98 jungen Menschen, die im Zeitraum der Jahre 2004 bis 2010 begleitet wurden und deren Begleitung regulär beendet wurde. Obwohl die Ursachen einer nicht regulären Beendigung für die Weiterentwicklung des Ansatzes interessant gewesen wären, wurde die vorab getroffene Positivauswahl, die die 224 uj 5 | 2014 Intensive Sozialpädagogische Begleitung Ergebnisse entsprechend beeinflusste, in Kauf genommen, weil im Falle einer vorzeitigen Beendigung der Sozialpädagogischen Begleitung ein sehr geringer Rücklauf zu erwarten war, der in keinem Verhältnis zum Aufwand der Adressenrecherche gestanden hätte. Aufgrund des anfangs recht schleppenden Rücklaufs des Fragebogens wurde das Sample durch 13 aktuelle Follow-up-Kontakte erweitert, sodass insgesamt 111 Fragebögen versandt werden konnten. Der Rücklauf betrug rund 26 %, was unter anderem durch die schlechte Erreichbarkeit einiger Ehemaliger begründet sein kann. Allerdings fällt, unter anderem eben wegen schlechter Erreichbarkeiten, eine solche Rücklaufquote im Rahmen der Praxisforschung nicht aus dem Rahmen (Otto/ Polutta/ Ziegler 2010, 234). Der Fragebogen wurde als Mix aus 14 geschlossenen und offenen Fragen konzipiert, sodass mehr Raum für differenzierte Begründungen entstand (Merchel 2010, 89). Um die Verständlichkeit und die Anwendbarkeit des Fragebogens zu überprüfen, wurde ein Pretest durchgeführt, woraufhin einige Kleinigkeiten in den Formulierungen der Fragen angepasst wurden. Die Erhebungsphase dauerte insgesamt sieben Monate, wobei vor dem Versand des Fragebogens eine Aktenrecherche, Internetrecherchen oder Recherchen über den zuständigen Sozialen Dienst zur Adressfindung stattfanden. Zur Erhöhung der Teilnahmemotivation wurde versucht, die ehemals begleiteten jungen Menschen telefonisch zu erreichen und um das Ausfüllen zu bitten. Nach Beendigung der Erhebungsphase folgte die Auswertung der 23 ausgefüllten und zurückgesendeten Fragebögen nach Häufigkeiten anhand des Statistikprogramms SPSS sowie die Erfassung und Dokumentation der offen gestellten Fragen. Im Anschluss daran wurde ein Leitfaden für die nun anstehenden Interviews konzipiert und Termine für diese vereinbart. Beim Versand des Fragebogens war ein Anhang beigefügt, den die jungen Menschen bei Interesse an einem Interview mit aktuellen Kontaktdaten zurücksenden konnten. Fünf der ehemals begleiteten Mädchen waren für ein Interview bereit, mit drei von ihnen konnte dann letztendlich ein Interview terminiert und durchgeführt werden. Nach der Durchführung von Interviews mit Marie, Selin und Julia (die Namen sind aus Gründen des Datenschutzes pseudonymisiert) wurden die Texte zur weiteren Verwendung transkribiert. Die gesamte Konzeption und Auswertung der Evaluation wurde von einer Masterstudentin (mit 26 Stunden/ Monat) unter regelmäßiger Rück- und Absprache mit dem Team der Gesellschaft für Erziehungshilfe sowie deren Koordinator Daniel Mielenz und den Trägerkreisvertretern Jürgen Knodel und Siegfried Stark konzipiert und durchgeführt. Ergebnisse Die Fragen des Fragebogens bezogen sich hauptsächlich auf die im oberen Abschnitt aufgeführten Kriterien und Spezifika der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung, wie beispielsweise die Ressourcen- und Lösungsorientierung, die Kurzzeitigkeit oder die Methodik. Bei der folgenden Kurzfassung einiger relevanter Ergebnisse werden die Prozentzahlen zur besseren Verständlichkeit gerundet. Die verwertbaren 23 Fragebögen wiesen eine Geschlechterverteilung von 74 % Mädchen und jungen Frauen und 26 % Jungen und jungen Männern auf, wobei die gesamte Stichprobe der 111 angefragten jungen Menschen eine beinahe ausgeglichene Geschlechterverteilung aufwies. Erklärungen für die höhere Teilnahmequote der ehemals begleiteten Mädchen und jungen Frauen gibt es jedoch nicht. 225 uj 5 | 2014 Intensive Sozialpädagogische Begleitung Um einen Eindruck von der Lebenssituation der Jugendlichen zu Beginn der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung zu erhalten, wurde im Interview die Frage gestellt, welches Bild die Jugendlichen vor der Begleitung von sich hatten. Marie gab beispielsweise an: „Oh Gott, okay. Ziemlich chaotisch. Ja, ich wusste nichts mit mir anzufangen, denk ich mal. Also, ich hab´s selber nicht gewusst wohin, was machen. Einfach totales Chaos, ja.“ Auch Selin befand sich in einer schwierigen Situation: „Ich hab mich also sehr allein gefühlt, ich dachte, ich sei allein auf der Welt, und dann hab ich Sie ja kennengelernt und das war halt für mich eine sehr große Unterstützung. Und, also was mir so am Herzen lag, war halt, … über meine Probleme ganz offen und frei erzählen zu können.“ Julia befand sich vor der Begleitung in einer prekären Lebenslage, die sie folgendermaßen schilderte: „Und äh, dann fing ich an, mich auf der Straße herumzutreiben, Alkohol zu trinken und Cannabis zu rauchen. Dann hat mich mein Vater rausgeschmissen, weil er mit mir nicht mehr klar kam. …Weiß nicht, es stand natürlich alles Kopf. …Und äh, ich hab so ’ne Haudrauf-Mentalität gehabt, so der ganzen Welt den Mittelfinger zeigen wollen.“ Der Formulierung „Die Begleitung durch die Gesellschaft für Erziehungshilfe über einen kurzen Zeitraum (von 4 bzw. 6 Monaten) hat es mir ermöglicht, mich intensiv auf die Arbeit mit der begleitenden Person einzulassen“ stimmten 20 der 23 (87 %) befragten jungen Menschen zu. Die Antworten auf die etwas differenziertere Folgefrage „Der kurze Zeitraum der Gesellschaft für Erziehungshilfe war für mich „optimal“, „passend“, „weniger passend“ oder „weiß nicht“ ergaben das Bild, dass ca. 57 % die Dauer der Hilfe als „passend“ bewerteten, 31 % bewerteten sie sogar als „optimal“. „Weniger passend“ gaben lediglich rund 9 % an. Auf die Frage, welche „Rolle“ die begleitende Person während der Sozialpädagogischen Begleitung eingenommen hat, verteilen sich die Antworthäufigkeiten (vgl. Tab. 1) wie folgt: Eine Begründung für die häufige Wahl der Antwortkategorien „VermittlerIn“ und „BegleiterIn“ könnte zunächst in der Wahrnehmung und im Ernstnehmen der Bedürfnisse (s. unten) sowie in der Orientierung an den Bedürfnissen der Jugendlichen (vgl. Abschnitt Lösungsorientierung) und in der Unterstützung beim (Wieder-)Aufbau von Netzwerken liegen. Die Intensive Sozialpädagogische Begleitung ist geprägt von der Haltung, dass die Nachhaltigkeit der Begleitung in der Eigenaktivität der Jugendlichen und jungen Menschen liegt. Die BegleiterInnen unterstützen bei der Entwicklung und Umsetzung von Lösungsideen, ohne jedoch eigene oder gar „fertige“ Lösungen vorzugeben, und sie vermitteln ggf. weitere unterstützende Kontakte, wie beispielsweise TherapeutInnen oder Sportvereine. Durch die zeitliche Begrenzung der Hilfe über einen kurzen Zeitraum entstehen häufig sehr intensive Kontakte, die die Wahl der Kategorien „FreundIn“ oder „Familienmitglied“ nahelegen. Somit ist es eine wichtige Aufgabe der BegleiterInnen, die zeitliche Begrenzung der Hilfe immer wieder zu thematisieren und die jeweiligen professionellen Rollen zu betonen, um falschen Erwartungen entgegenzuwirken. Ob die jungen Menschen sich während der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung ernst genommen gefühlt haben, beantworteten 78 % mit ja, 9 % mit teilweise (12 % antworteten gar nicht). Die Hauptbegründung für dieses positive Ergebnis war, dass sie sich mit ihren Anliegen und in ihrer Person angenommen gefühlt haben und ihnen zugehört wurde. Zur Veran- VermittlerIn 14 BegleiterIn 13 FreundIn 8 Coach 8 Familienmitglied 5 Anwalt/ Anwältin 2 Tab. 1: „Rolle“ der begleitenden Person aus Sicht der Befragten (Mehrfachnennung; n = 23) 226 uj 5 | 2014 Intensive Sozialpädagogische Begleitung schaulichung kann das folgende Zitat dienen: „…und weil es einen Erwachsenen gab, der mich ernst genommen hat. …und der mich auch nicht bemitleidet hat. Das war glaub’ ich am besten, weil dieses ewige Mitleid ist mir irgendwann auf die Nerven gegangen. Das fand ich gut. Dieses, dieses Ernstnehmen, sich für mich interessieren.“ Bezogen auf die Unterstützung innerhalb der Familie wurde die Frage gestellt, inwieweit die Gespräche, die mit den Familienmitgliedern geführt wurden, hilfreich waren. Auch hier ergab sich ein positives Bild. 19 der 23 befragten jungen Menschen erlebten diese Gespräche als Unterstützung: „Sie (Mutter, Anm. d. Verf.) hat glaube ich verstanden, dass es bei so einer Begleitung nicht darum geht, äh, das Kind wieder funktionierend zu machen, also zu reparieren. …So von wegen jetzt red’ mal mit der und dann ist sie wieder normal, sondern dass sie auch was damit zu tun hat…und dass sie da auch was dran arbeiten muss.“ Die konzeptionell angestrebte Erweiterung der Netzwerke wurde bei einem großen Teil der Befragten erreicht. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Familienmitglieder (8 von 23 Nennungen) und FreundInnen (7 von 23 Nennungen), also Personen aus dem individuell-persönlichen Umfeld. An dritter Stelle wurde die Erweiterung des Netzwerkes um TherapeutInnen, also um professionelle Netzwerke (5 von 23) angegeben. In den Interviews wird anschaulich berichtet, wie es zu Netzwerkerweiterungen kommen kann. So findet sich eine typische Vernetzungstätigkeit z. B. in der Haltung und Spontaneität ihres damaligen pädagogischen Begleiters, die für Julia von großer Bedeutung war, sich überhaupt auf dessen Unterstützung einlassen zu können: „Und äh, anfangs kamen auch meine Kumpels und wollten wissen, was er mit mir macht und was das soll und wie, hier. Und dann hat er die einfach zum Gespräch eingeladen. Und dann hat er ihnen erklärt: Hier, ich helfe der Julia und wenn ihr, wenn ihr mir auch helfen könnt, dann machen wir das zusammen.“ Die Netzwerkerweiterung zeigt sich auch in einer Veränderung des individuellen Verhaltens und einer neuen Selbstwahrnehmung: „Also ich, natürlich ich hab immer noch meinen Sturkopf, ich krieg auch meine Sachen alleine hin, aber ich hab halt ’nen festen Freundeskreis und mit denen mach ich jetzt auch was, also nicht so wie früher, dass ich wirklich alles allein gemacht hab.“ Ein Ziel der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung ist es, langwierige und wenig effektive Jugendhilfekarrieren zu vermeiden. Im Fragebogen wurde deshalb nach anschließenden Maßnahmen (Hilfen zur Erziehung oder psychologische Unterstützung) gefragt. Mehr als die Hälfte der jungen Menschen gab an, nach der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung keine weitere Hilfe in Anspruch genommen zu haben. Dies kann als Hinweis für einen erfolgreichen Abschluss der ISB gelten, dennoch muss bedacht werden, dass Jugendliche häufig nur eine geringe Motivation haben, sich eine ggf. notwendige Hilfe aktiv bei Professionellen zu suchen. Umso interessanter ist, dass 7 von 23 Jugendlichen bereit waren, Hilfen zur Erziehung nach Ende der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung in Anspruch zu nehmen, wobei es sich in 2 Fällen um eine stationäre Maßnahme handelte. Psychologische Unterstützung wurde in 10 Fällen zur Nachbetreuung eingeleitet, in 8 Fällen durch eine ambulante Therapie. Auf die Frage, in welchen Bereichen die Begleitung durch die Gesellschaft für Erziehungshilfe besonders geholfen habe, wurde an erster Stelle die Familie genannt. An zweiter Stelle folgte die Angabe, dass die Begleitung dabei geholfen habe, mit sich selbst zufriedener zu sein. Auch der schulische Bereich spielte eine zentrale Rolle. An die während der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung eingesetzte Methodik konnte sich ein ganzer Teil der Befragten nicht mehr erinnern. Deshalb wurde in den nach der Fragebogenerhebung geführten Gesprächen nochmals Bezug darauf genommen. Dabei leg- 227 uj 5 | 2014 Intensive Sozialpädagogische Begleitung ten die InterviewerInnen den Jugendlichen die damals ausgefüllten Netzwerk- und Ressourcenkarten vor. Dies führte aus heutiger Sicht oft zum Schmunzeln darüber, welche Ziele und Wünsche damals formuliert wurden. „Ja also ich denk, das hat schon was gebracht, weil also grad das zum Beispiel mit den Kompetenzen hier, ich glaub, ich hätte das jetzt selber nicht so hingekriegt oder mal so drüber nachgedacht: Was kann ich eigentlich wirklich gut? Ich mein, das gibt ja auch ein bisschen Selbstbewusstsein, wenn man weiß, was man kann. Aber ich hätte da selber halt nie drüber nachgedacht.“ Bei den anderen Interviewten schienen die Methoden an sich nicht als spezifisches Merkmal der Begleitung in Erinnerung geblieben zu sein. Es ist anzunehmen, dass diese eher subtil gewirkt haben und vor allem für die Handlungsorientierung der Professionellen, nicht aber für die Jugendlichen als zentrales Element der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung im Vordergrund standen. Dennoch wurde die ressourcenorientierte Haltung der MitarbeiterInnen realisiert: „Das Bild, das er von mir hatte? Also, gegen Ende weiß ich, dass er mich mochte und auch bewunderte für, für den Mut. …und dass er irgendwie überzeugt war, dass ich das schaffe.“ Fazit Die Erhebung machte deutlich, dass die benannten Merkmale der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung, wie sie in Esslingen durch die Gesellschaft für Erziehungshilfe angeboten wird, von der befragten Zielgruppe durchaus als positive Aspekte wahrgenommen werden. Vor allem der angebotene Raum, den die jungen Menschen für sich und ihre Anliegen nutzen konnten, sowie die vertrauensvolle Beziehung zur begleitenden Person scheinen für die positiven Erfahrungen bedeutsam zu sein. Die große Mehrzahl der befragten jungen Menschen befindet sich heute aufgrund der Intensiven Sozialpädagogischen Begleitung in einer positiveren Lebenssituation, als vor der Begleitung. Die Untersuchung verweist insgesamt auf Erfolgsfaktoren der Konzeption, die zum Gelingen einer Sozialpädagogischen Begleitung beitragen, und wird durch Ergebnisse anderer Untersuchungen in diesem Bereich bestätigt. So beschreiben Hoops/ Permien (2003, 82): „Die vom AIB-Programm angestrebte ,akzeptierende Grundhaltung und die flexible, lösungs- und ressourcenorientierte Arbeitsweise‘ wurden, so die Wahrnehmung der Jugendlichen, in hohem Maße verwirklicht und sehr positiv bewertet.“ Alle drei interviewten jungen Frauen haben mittlerweile auf unterschiedliche Art und Weise ihren Weg gefunden, sei es durch schulische Erfolge, eine Ausbildung, ein Studium oder ein größeres Zutrauen in ihre Person und ihre Fähigkeiten. „Jetzt? Wie ich jetzt bin? Ja, ich hatte ein kaputtes Leben - mit dem ich (jetzt) zufrieden bin und ich weiß, was ich mach und wohin ich will. Und das wusste ich vorher nicht.“ Dieser Bericht soll mit einer Antwort Maries abgeschlossen werden, die sich auf die Frage bezog, was sie bei einer Werbeaktion für die Gesellschaft für Erziehungshilfe sagen würde. „Ja also, ich würde denen auf jeden Fall den Tipp geben, dass es bei mir damals sehr gut geholfen hat, dass ich die Hilfe bekommen habe, die ich wollte oder gebraucht hab, in jedem Fall. Und dass es mir Selbstbewusstsein eingebracht hat und dass es ja auch irgendwo weiterhilft im Leben, wenn man weiß, wo man hin will.“ An dieser Stelle soll noch einmal ein Dank an die jungen Menschen, die diese Erhebung und somit auch diesen Bericht mit dem Ausfüllen des Fragebogens und der Offenheit in den anschließenden Interviews ermöglicht haben, ausgesprochen werden. Damit konnte nach 10 Jahren Laufzeit eine positive Bestätigung eingeholt werden, auf einem guten Weg zu sein. Es wäre schön, damit auch andere AkteurInnen aus dem Feld der Sozialen Arbeit für diesen innovativen Ansatz begeistern zu können. 228 uj 5 | 2014 Intensive Sozialpädagogische Begleitung Manuela Theiss Küferstr. 40 73728 Esslingen manuela.theiss@gmx.de Selda Aydogan Alexander Mack Annika Weber Gesellschaft für Erziehungshilfe Mülbergerstr. 146 73728 Esslingen info@gfe-esslingen.de Literatur Hoops, S., Permien, H. (2003): Evaluation des Pilotprojekts Ambulante Intensive Begleitung (AIB). DJI, München Merchel, J. (2010): Evaluation in der Sozialen Arbeit. UTB, München/ Basel Möbius, T., Klawe, W. (2003): AIB-Ambulante Intensive Begleitung. Handbuch für eine innovative Praxis in der Jugendhilfe. Beltz, Weinheim/ Berlin/ Basel Otto, H.-U., Polutta, A., Ziegler, H. (2010): What Works - Welches Wissen braucht Soziale Arbeit? Zum Konzept evidenzbasierter Praxis. Budrich, Opladen/ Farmington Hills Outcast Esslingen GbR (2004): Abschlussbericht des Projektes Outcast. Eigendruck, Esslingen am Neckar 2010. 159 Seiten. (978-3-497-02124-6) kt Alltagsnah und längerfristig begleiten Materielle Unsicherheiten, psychische Notlagen, soziale Entfremdung - die Gründe, warum jemand Begleitung, Unterstützung und Förderung im Alltag braucht, sind sehr verschieden. Entsprechend breit gefächert sind die möglichen Einsatzgebiete von SozialarbeiterInnen in diesem Arbeitsfeld. Sie können sich in ambulanten oder stationären, lebensweltergänzenden oder -ersetzenden Settings bewegen. Sie sind aber immer auf eine längerfristige, alltagsnahe Begleitung angelegt, um grundlegende neue Entwicklungen zu ermöglichen. Was dies in der Praxis bedeutet, wird anhand von Beispielen anschaulich geschildert. a www.reinhardt-verlag.de