eJournals unsere jugend 66/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2014
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Porträt: Prof. Dr. Heinrich Schiller wird 90

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2014
Dieter Kreft
Am 17. Oktober 2014 wird Heinrich Schiller 90 Jahre alt. Er gehört damit zu den wenigen Menschen aus der „Sozialpädagogen-Zunft“, die noch die Weimarer Zeit, den Krieg und die Nachkriegszeit bewusst erlebt und – in seinem besonderen Falle – die Soziale Arbeit in (West-)Deutschland und international nach 1945 wieder aufgebaut und mitgestaltet haben.
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436 unsere jugend, 66. Jg., S. 436 - 439 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art54d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dieter Kreft Diplom-Kameralist und Diplom-Pädagoge, Honorarprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg Prof. Dr. Heinrich Schiller wird 90 Ein Leben in, mit und für Gruppen Am 17. Oktober 2014 wird Heinrich Schiller 90 Jahre alt. Er gehört damit zu den wenigen Menschen aus der „Sozialpädagogen-Zunft“, die noch die Weimarer Zeit, den Krieg und die Nachkriegszeit bewusst erlebt und - in seinem besonderen Falle - die Soziale Arbeit in (West-)Deutschland und international nach 1945 wieder aufgebaut und mitgestaltet haben. Aber nacheinander: Die Eltern waren beide Opernsänger, seine Mutter zudem ausgebildete Konzertpianistin. Die Liebe zum Musizieren wurde ihm also schon in die Wiege gelegt, seine CD „Lieder als Zeitzeugen ihrer Epochen“ höre ich immer wieder und mit großem Interesse. In der Stummfilmzeit kamen Anfang der 1920er Jahre die Singfilme auf, sein Vater sang zu diesen Filmen, seine Mutter spielte das begleitende Klavier. Beide waren über Jahre in großen Filmtheatern engagiert, verdienten gut, aber reisten quasi ständig von Ort zu Ort. So lebte Heinrich Schiller bald nach seiner Geburt erst einmal über Jahre in Heimen - seine erst Gruppenerfahrung. Alle drei überstanden lebend die Nazi-Zeit, ein Wunder, war seine Mutter doch Jüdin und sein Vater, „der als überzeugter Sozialist die Nazis hasste“ (Schiller 1999, 283), ist nicht bereit gewesen, sich von ihr scheiden zu lassen. Heute kann man diese grauenvolle Borniertheit kaum noch nachvollziehen: Weil Heinrich Schiller Kind einer Jüdin war, wurde er nicht Soldat, sondern überlebte zusammen mit seinem Vater in einem Arbeitslager der Organisation Todt in Burg bei Magdeburg. „Wir empfanden folglich den Sieg der Alliierten als Befreiung“ (Schiller 1999, 289). Heinrich Schiller, wie ihn viele kennen. 437 uj 10 | 2014 Porträt Obwohl uns zwölf Jahre trennen, verbinden uns viele Erlebnisse: Krieg, Bomben, Evakuierung, die schwierige Nachkriegszeit im zerstörten Berlin. Wer diese Zeit - noch einmal oder erstmalig - etwas genauer kennenlernen will, dem empfehle ich das eindrucksvolle Buch „Trümmerkids und Gruppenstunde“ von Göschel und Schmidt von 1990, Heinrich Schiller hat mich vor Jahren einmal darauf verwiesen: Jedenfalls können wir uns beide darin wiedererkennen, und mittendrin in dem darin beschriebenen Nachkriegs-Berlin entwickelte sich der junge Heinrich Schiller zum „Gruppenpädagogen“. Sein Engagement in der kommunalen Jugendarbeit ab Kriegsende (1948/ 49 war er u. a. turnusmäßig Vorsitzender des Landesjugendringes in Berlin) führte ihn schließlich im September 1949 auf einem amerikanischen Army transport ship in die USA - zusammen mit Hunderten von GIs, die in die Heimat zurückgeschickt wurden, aber auch mit Ernst Benda, dem späteren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, und Klaus Schütz, später als Nachfolger von Willi Brandt Regierender Bürgermeister von Berlin, beide ebenfalls Stipendiaten. Gewiss eine Sternstunde seines Lebens. Denn er lernte an der University of Minnesota Gisela Konopka kennen, damals die Gruppenpädagogin. „Nur dieser habe ich es zu verdanken, dass mein ursprünglich nur auf ein halbes Jahr befristetes Stipendium um nochmals eineinhalb Jahre verlängert wurde. Dies gab mir die Möglichkeit, das volle graduate Studium an der School of Social Work der University of Minnesota mit dem degree ‚Master of Social Work‘ abzuschließen“ (Schiller 1999, 294). Die soziale Gruppenarbeit ließ Heinrich Schiller von da an nicht mehr los - sowohl in der Theorie als auch in seiner immer praxisbezogenen Lehre. Seine Dissertation „Gruppenpädagogik (Social Group Work) als Methode der Sozialarbeit“ von 1963 war lange als Veröffentlichung im Verlag Haus Schwalbach eine Art Bibel der Gruppenarbeit. Nach Jahren der Fortbildung (u. a. mit Gisela Konopka und Dora von Caemmerer) wurde Heinrich Schiller an der städtischen Sozialen Schule der Stadt Nürnberg angestellt, die er schließlich ab 1961 leitete, um dort „wohl als erste deutsche Wohlfahrtsschule die Fächer Case Work und Group Work, nach einem Jahr auch Community Organization, im Rahmen des Faches Methoden- und Praxislehre in den Mittelpunkt der Ausbildung (zu stellen)“ (Schiller 1999, 300). Wo auch immer er fortan tätig war, sein fachliches Credo blieb davon bestimmt, dass die AusbilderInnen für Soziale Arbeit selbst in der Profession Soziale Arbeit ausgebildet und/ oder berufserfahren sein sollten, und die praktisch begleitete Methodenlehre gehörte für ihn ins Zentrum jeder Ausbildung. Von der städtischen Fachschule wechselte er nach einem einjährigen Beratungsauftrag im Auftrage der Vereinten Nationen in Thailand 1967, u. a. mit dem Ziel, soziale Gruppenarbeit in das Curriculum der dortigen Sozialarbeiterausbildung aufzunehmen, an das Ev. Sozialinstitut in Nürnberg. Das Institut wird 1971 zur Ev. Fachhochschule Nürnberg fortentwickelt, deren Leiter (Direktor/ Präsident) er bis 1986 bleibt. 1987 ging er in Pension. Heinrich Schiller war stets ein „umtriebiger, hoch engagierter“ Mensch: Von seinem Vater stammt schon dieser Satz aus der Nachkriegszeit: „Über Tage bekomme ich meinen Sohn nicht zu sehen, und von sieben Abenden ist er achte unterwegs“ (Schiller 1999, 293). Sein überaus wirkungsvolles nationales und vor allem internationales Engagement für die Soziale Arbeit führte ihn „bis auf Australien in alle Kontinente und (er) besuchte dabei über 30 Länder“ (Schiller 1999, 311). Wie auch immer ganz genau, was für ein Berufsleben! Vom Hortner zum Präsidenten der International Association of Schools of Social Work (eine sehr gute Übersicht zu den ein- 438 uj 10 | 2014 Porträt zelnen Berufsstationen findet sich in der von Roland Proksch herausgegebenen Festschrift zum 70. Geburtstag von Heinrich Schiller; vgl. Proksch 1995). Was das Leben so an besonderen Unterstützungen bereit hält: Der Vater von Heinrich Schiller war in England aufgewachsen, also zweisprachig, und er hat immer Wert darauf gelegt, dass sein Sohn auch gut Englisch sprach („wir sprachen bei uns zuhause am Küchentisch Englisch“). Schon für die Auswahl zu seinem USA- Austausch war das wichtig. Heinrich Schiller hat mir in einem Gespräch erzählt, dass damals auch meine (spätere) langjährige Chefin in der Berliner Senatsverwaltung für Familie, Jugend und Sport, Ilse Reichel, mit ihm „konkurrierte“, auch sie höchst aktiv in der Jugendarbeit der Berliner Nachkriegszeit; die „Sprache“ gab wohl zu seinen Gunsten den Ausschlag. Und für seine spätere internationale Karriere war sein schließlich perfektes Englisch - bis heute übrigens - gewiss auch förderlich. Überhaupt keine „Niederlagen“? Doch, die Erlebnisse der Zeit nach 1968 schmerzen wohl bis heute. Die damals einsetzende Methodenkritik, zunächst aus dem Arbeitskreis Kritischer Sozialarbeiter, von C. Wolfgang Müller, dem letzten anderen Granden der Sozialen Arbeit, der noch sehr aktiv ist, in seinem Titel „Wie Helfen zum Beruf wurde“ so präzise beschrieben (Müller 2009, ab 236ff ), beendete erst einmal die „Methoden-Hausse“. Bis heute übrigens nachwirkend, immer noch wird an nur wenigen Hochschulen der Sozialen Arbeit systematisch das Methodenarsenal gelehrt. Zusammen mit C. W. Müller habe ich versucht, gegen diesen Niedergang ein klein wenig „anzuschreiben“, es bleibt aber schwierig (Kreft/ Müller 2010). Dennoch: Heinrich Schiller hat es gefreut, das ist hier allein wichtig! Was unbedingt noch zum 90. Geburtstag von Heinrich Schiller gesagt werden muss: Er war ein eindrucksvoller Lehrer. Mein Kollege und Freund Gerhard Zimmermann, Lehrender Sozialarbeiter an der FH Lüneburg, also dem Ideal von Heinrich Schiller nahekommend („aus der Profession für die Profession“), selbst international erfahren (3 ½ Jahre in einer brasilianischen Favela), hat mich vor kurzem dies wissen lassen: Gerhard Zimmermann war dabei, als 1967 das Ev. Sozialinstitut in Nürnberg seine Pforten öffnete, Teilnehmer des „1. Kurses“, wie es damals noch hieß. Und weiter: „Nach der Eröffnungsfeier und dem Gottesdienst wurden die neuen Fachlehrer/ innen vorgestellt. Heinrich Schiller, der neue Star, strahlte Ruhe aus, die Erika und Heinrich Schiller im Jahr 2014. 439 uj 10 | 2014 Porträt in Begeisterung umschlug, wenn es um Amerika ging, wo er studiert hatte, und wenn es um die Methode der Gruppenpädagogik ging. Sein Unterricht glich ‚einer heiligen Messe‘, wir sollten alle ‚kleine Gruppenpädagogen‘ werden. Jahrzehnte später, nach Berufsstationen in Berlin und Brasilien, lehrte ich selbst an der FH in Lüneburg ‚Methoden‘ im Fachbereich Sozialwesen. Beim Thema ‚Gruppenpädagogik‘ habe ich den Erstsemestern immer von Heinrich Schiller erzählt, seine Veröffentlichungen erwähnt und ich glaube, dass ich hin und wieder ins Schwärmen über ihn gekommen bin.“ Gibt es ein größeres Lob für einen Lehrer? Und schließlich, last but (really) not least, will ich noch seine wichtigste Kleingruppe erwähnen: Seine Frau Erika (89), mit der er seit 1952 verheiratet ist, sowie die drei Söhne, die Schwiegertöchter und die Kindeskinder. Ich habe Erika und Heinrich Schiller vor diesem Bericht besucht, sie wohnen am Nürnberger Hauptmarkt in der vierten Etage (ohne Fahrstuhl! ). Heinrich Schiller geht diese vier Treppen noch jeden Tag mindestens einmal runter und rauf für allerlei Besorgungen, ich (Jg. 1936) habe ziemlich geschnauft nach diesem Aufstieg. Ein erstaunlicher, bewundernswerter, gedankenklarer, berichtsstarker Mensch und Freund, dem die deutsche Soziale Arbeit so viel zu verdanken hat. Ich gratuliere für die „Zunft“. Prof. Dieter Kreft Nürnberg kremie.nuernberg@t-online.de Literatur Gröschel, R., Schmidt, M. (1990): Trümmerkids und Gruppenstunde. Elefanten Press, Berlin Kreft, D., Müller, C. W. (Hrsg.) (2010): Methodenlehre in der Sozialen Arbeit. Reinhardt UTB, München Müller, C. W. (2009): Wie Helfen zum Beruf wurde. Eine Methodengeschichte der Sozialen Arbeit. 5. Aufl. Juventa, Weinheim Proksch, R. (Hrsg.) (1995): Entwicklungen in der sozialen Arbeit. Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Heinrich Schiller. S. Roderer Verlag, Regensburg Heinrich Schiller (1999): In: Heitkamp, H., Plewa, A. (Hrsg.): Soziale Arbeit in Selbstzeugnissen. Lambertus-Verlag, Freiburg