eJournals unsere jugend 66/10

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2014.art50d
101
2014
6610

Familienrat

101
2014
Melanie Dosch
Isabel Schnetz
Christine Weber
Meike Winter
Das Wächteramt der Sozialen Arbeit steht dem Auftrag zur Verantwortungsrückgabe sowie dem der Hilfe zur Selbsthilfe gegenüber. Kann das Konzept des Familienrats diesen gegensätzlichen Anforderungen gerecht werden? Wie wirkt sich dies auf das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit aus, und handelt es sich hierbei um eine Veränderung bereits vorhandener Ansätze oder um das Aufgreifen bestehender Kompetenzen?
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402 unsere jugend, 66. Jg., S. 402 - 409 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art50d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Familienrat Die Brücke zwischen Verantwortungsrückgabe und Wächteramt Das Wächteramt der Sozialen Arbeit steht dem Auftrag zur Verantwortungsrückgabe sowie dem der Hilfe zur Selbsthilfe gegenüber. Kann das Konzept des Familienrats diesen gegensätzlichen Anforderungen gerecht werden? Wie wirkt sich dies auf das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit aus, und handelt es sich hierbei um eine Veränderung bereits vorhandener Ansätze oder um das Aufgreifen bestehender Kompetenzen? 1 von Melanie Dosch Jg. 1988; staatlich anerkannte Sozialpädagogin/ Sozialarbeiterin B. A. Bewirkt der Familienrat einen Paradigmenwechsel oder eine Veränderung im Rollenverständnis der Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen? Handelt es sich bei der Implementierung des Familienrates um eine Veränderung vorhandener Ansätze oder um das Aufgreifen bestehender Kompetenzen? Schon 1974 wurden Familienräte durchgeführt. Dreikurs legte Wert auf die Beteiligung der ganzen Familie. Entscheidungen wurden erst getroffen, wenn alle Familienmitglieder einverstanden waren (Corsini et al. 1985, 19). Isabel Schnetz Jg. 1989; Studentin der Sozialen Arbeit, Hochschule Mannheim, Fakultät Sozialwesen Christine Weber Jg. 1981; Studentin der Sozialen Arbeit, Hochschule Mannheim, Fakultät Sozialwesen Meike Winter Jg. 1987; staatlich anerkannte Sozialpädagogin/ Sozialarbeiterin B. A. 1 Dieser Artikel entstand im Rahmen der LF II, 5., 6. Semester, Hochschule Mannheim, mit Unterstützung von Prof. Dr. phil. Winfried Büschges-Abel. 403 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien Der Familienrat (FGC) ist ein Verfahren zur aktiven Beteiligung von Familien in der Hilfeplanung und Entscheidungsfindung. Durch die Aufteilung des Familienrates in mehrere Phasen wird eine entsprechende Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung der Familie gewährleistet. Im Vergleich zu anderen Verfahren in der Kinder- und Jugendhilfe werden die Netzwerke der Familie innerhalb des Familienrates bei der Lösungsfindung mit eingebunden (Hansbauer et al. 2009, 19). Es geht darum, die Autonomie der Familie, bezogen auf die Erziehung ihrer Kinder, zu stärken. Den Familien soll ihre Fähigkeit zur Problemlösung aufgezeigt werden. Die wesentliche Bedeutung der eigenen Verantwortung sowie die Notwendigkeit, das Individuum bei der Lösung von Problemen zu respektieren, sind eng mit dem Lösungsansatz des Familienrates verbunden (van Pagée 2009, 1). Des Weiteren sprechen Hansbauer et al. (2009, 20f ) von einer verfahrenstechnischen Separierung von Interessenlagen mit dem Ziel, Interessenkonflikte zu minimieren. Dies bedeutet, dass die Rolle der sozialpädagogischen Fachkraft im Jugendamt und die des Koordinators/ der Koordinatorin, welcher/ welche die Familie durch das Verfahren führt, personell voneinander getrennt sind. Diese Separierung stellt für die Fachkraft im Jugendamt eine erste Veränderung dar. Im Verlauf des Familienrates findet eine Phase der Entscheidungsfindung statt, in der die Familie mögliche Lösungsansätze entwickelt. Die Selbstbestimmung und Autonomie der Familie gilt es so zu stärken. Daher ist innerhalb dieser Phase auch keine Fachkraft anwesend. Aufgrund der genannten Aspekte kann der Familienrat als eine Empowermentstrategie verstanden werden. Die Familien erhalten die Möglichkeit, eigene Lösungen für ihre Probleme zu erarbeiten (Hansbauer et al. 2009, 32f ). Ziel der Sozialen Arbeit ist u. a. die „Hilfe zur Selbstfindung und Selbsthilfe …“ ebenso wie die „… Entfaltung und Förderung der Persönlichkeit…“ (Schilling/ Zeller 2007, 208). Der Familienrat als Verfahren zur Entscheidungsfindung entspricht diesen Anforderungen. Die Familie ist für den Verlauf des Familienrates selbst verantwortlich. Während der Vorbereitungsphase entscheidet sie, welche Personen aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis, und ebenso, welche professionellen Fachkräfte eingeladen werden. Die fallzuständige Fachkraft formuliert die Sorge, die zu Beginn der Family- Only-Phase vorgetragen wird. In dieser Phase entwickelt die Familie in Eigenverantwortung, ohne Anwesenheit von Professionellen, eine Lösungsstrategie, welche die Sorge abwenden soll. Im Nachgang findet ein Folgetermin statt, um bisherige Erfahrungen mit der Umsetzung des Plans auszutauschen. Die Tatsache, dass die Familie während der Family-Only-Phase ohne die Anwesenheit jeglicher Professionellen agiert, stellt den Sozialarbeiter/ die Sozialarbeiterin vor eine Herausforderung. Er/ sie besitzt zwar weiterhin die Fallverantwortung, die inhaltliche Verantwortung sowie die Verfahrensverantwortung obliegen jedoch der Familie. Der Sozialarbeiter/ die Sozialarbeiterin befindet sich in einer Zwickmühle zwischen Wächteramt und Verantwortungsrückgabe. Während der Phase der Entscheidungsfindung besitzt er/ sie keine Möglichkeit der Einflussnahme. Zwar formuliert er/ sie die Sorge, innerhalb der Family- Only-Phase agiert die Familie jedoch alleine. Durch die Verantwortungsrückgabe werden die Kompetenzen der Familie in den Fokus gestellt. Sie werden als Experten ihres eigenen Lebens anerkannt und wertgeschätzt. Ziel des Familienrates ist es somit, nicht dem Sozialarbeiter/ der Sozialarbeiterin die Fallverantwortung zu entziehen, sondern den Ressourcen der Familie zu vertrauen. Zentraler Aspekt ist, dass die von der Familie entwickelte Lösung umgesetzt wird, sofern diese die Sorge abwenden kann. Nach Schefold (2002, 1086) bestehen Verfahren „… aus geregelten Interaktionssystemen zwischen Fachkräften und Anspruchsberechtigten“. Hieraus wird deutlich, dass jede Beteiligungsart und jedes Verfahren bestimmte Kompetenzen u. a. in Bezug auf Kommunikation voraussetzt. Im Familienrat trifft dies auf die Family-Only-Phase zu. Nach Schulz von Thun 404 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien enthält eine Nachricht vier wesentliche Bestandteile: Selbstoffenbarung, Appell, Sachinhalt und Beziehung (2001, 13). Der Sozialarbeiter/ die Sozialarbeiterin gibt in der Sorgeformulierung etwas von sich preis. Steht die Selbstoffenbarung im Vordergrund, so lautet die Aussage: „Ich mache mir Sorgen um Peter.“ Empfängt die Familie die Aussage als Appell, so wird diese zu: „Bitte finden Sie eine Lösung, Sie sind der Experte in Ihrer eigenen Lebensumwelt! “ Der Sachinhalt der Nachricht wäre möglicherweise: „Peter ist dem Schulverweis sehr nahe, außerdem experimentiert er mit Drogen.“ Der Beziehungsaspekt, welcher die Kommunikation mit der Familie beeinflusst und Akzeptanz, Verständnis oder auch Bevormundung widerspiegeln kann, bestimmt die Kommunikationsbasis zwischen den Menschen. Folgendes Beispiel: „Mir liegt Peters Wohl am Herzen, ich habe auch Angst um ihn“ (Schulz von Thun 2001, 13). Gerade in einem Verfahren wie dem Familienrat muss klar sein, dass Kommunikation ein ausschlaggebender, wenn nicht sogar der entscheidende Punkt ist. Bevor es in die Family-Only-Phase geht, wird mit allen wichtigen professionellen Fachkräften und der Familie besprochen, was den Inhalt der Sorge aus ihrer Sicht darstellt. Die Sorgeformulierung, welche von dem Sozialarbeiter/ der Sozialarbeiterin ausgearbeitet wurde, sollte die Hauptsorge deutlich darstellen. Diese wird der Familie schriftlich und mündlich mitgeteilt. Allerdings sollten die vier Aspekte von Schulz von Thun beachtet werden. Je wertschätzender und klarer die Nachricht klingt, umso positiver können Kommunikation und Motivation der Familie ausfallen. Systemisch denken durch den Familienrat? Oder Familienrat, weil man systemisch denkt? „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, so lautet der Titel eines Werks von Heinz von Foerster (1998). Wahrheit ist nicht objektivierbar. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass sich Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen als Experten/ Expertinnen des Faches verstehen und den Familien die Expertenrolle für deren Leben zugestehen. Häufig werden im sozialen Bereich Entscheidungen für die Klienten/ Klientinnen übernommen, vor allem, wenn eine kritische Entscheidung ansteht. Durch dieses Verhalten wird ihnen jeglicher Handlungsfreiraum genommen, und die Alternativen werden ausgelöscht (Ludewig 2009, 15). Solches Handeln geschieht vor allem in Bezug auf das Realisieren des Wächteramtes verhältnismäßig schnell. In der systemischen Beratung ist es ein Ziel, so zu handeln, dass sich die Möglichkeiten erweitern (von Foerster/ Pörksen 1998, 35). Dies bedeutet, unterschiedliche Wahloptionen zu erarbeiten. Je mehr Selbstbestimmung Menschen erhalten, desto eher können sie sich mit einer Lösung arrangieren und identifizieren. Der Konstruktivismus unterstreicht dies weiter. Jeder Mensch lebt in seiner eigens konstruierten Welt, welche durch keinen Zuschauer ebenso gesehen werden kann. Menschen als nicht-triviale Maschinen (Systeme) zu verstehen, ist Ausdruck dieser Erkenntnis. Gemeint ist die Unvorhersehbarkeit, Unvorhersagbarkeit und ebenso die Vergangenheitsoffenheit. Somit kann keine Input-Output-Situation hergestellt werden. Wirft man eine Münze in einen Kaffeeautomaten, wird entsprechend der Erwartung auch etwas herauskommen (Simon 2011, 39). Menschen handeln allerdings nicht entsprechend unserer Erwartungen. Simon (2011, 95) stellt Luhmanns (1984) Beschreibung der Erwartungs-Erwartung in den Zusammenhang der doppelten Kontingenz. Dies bedeutet, jeder Teilnehmer/ jede Teilnehmerin der Situation und/ oder Kommunikation besitzt die Möglichkeit, auf seine/ ihre eigens konstruierte Erwartung zu schließen. Reaktionen sind somit nicht planbar, da man nicht weiß, was das Gegenüber als Reaktion entgegenbringen wird. Vor diesem Hintergrund kann die zirkuläre Kausalität in Zusammenhang mit dem Familienrat gebracht werden. In einer Familie besitzt jedes 405 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien Mitglied unterschiedliche Informationen zur Situation des Kindes, welche aufgrund des Konstruktivismus auch nicht auf einen identischen Nenner gebracht werden können. Wenn man nun bedenkt, dass jeder Teilnehmer/ jede Teilnehmerin der Family-Only-Phase auch unterschiedliche Erwartungs-Erwartungen hat, entsteht eine komplexe Situation. Vorteil des Familienrates ist es, dass alle wichtigen Personen der Kernfamilie an einen Tisch gebracht werden. So können Irritationen durch beispielsweise zirkuläre Kausalität hervorgerufen, ausgeräumt oder bearbeitet werden. Im Vergleich zu anderen Hilfen zur Erziehung wird bei einem Familienrat das Kind nicht losgelöst von den Systemen, in denen es sich befindet, betrachtet. Vielmehr wird es im Kontext seiner Lebensumwelt gesehen (Fryzer/ Schwing 2010, 26). Das Netzwerk der Kernfamilie wird durch den Familienrat nicht nur um weitere Verwandte, sondern auch um Bekannte oder gar Nachbarn erweitert. So wird der Bezug zur Lebensumwelt der Familie und somit ein systemübergreifendes Netzwerk hergestellt. Im Familienrat, wie auch bei dem systemischen Ansatz, wird der Familie eine große Bedeutung zugewiesen. Alle Teilsysteme werden in den Blick genommen und sind an der Lösungsfindung beteiligt. Dieser Aspekt ist nicht unerheblich, wenn man bedenkt, dass in einer Familie auch unterschwellige Konflikte mitschwingen können, die nicht an den Sozialarbeiter/ die Sozialarbeiterin herangetragen werden. Durch die Einladung eines deutlich größeren Umfeldes als das der Kernfamilie können - entgegen dem Sprichwort „viele Köche verderben den Brei“ - die Lösungsmöglichkeiten und -ideen erweitert werden. Um alle Anwesenden der Family-Only-Phase auf einen vergleichbaren Ausgangspunkt zu bringen, ist die Vorinformation sehr wichtig. Diese ist entscheidend durch die Sorgeformulierung geprägt. Sie sollte eine direkte Ansprache an die Familie, eine kurze Zusammenfassung der Vorgeschichte, einen wertschätzenden Teil und die Fragestellung als Auftrag zur Erarbeitung des Plans enthalten. Um dem Wächteramt gerecht zu werden, kann der Sozialarbeiter/ die Sozialarbeiterin Mindeststandards festlegen, die das Wohl des Kindes im Sinne des § 8 a SGB VIII sicherstellen. Dennoch ist auch hier zu beachten, dass es Lösungsvorschläge zu vermeiden gilt, um der Familie Wahlmöglichkeiten zu erhalten. Die Familie repräsentiert ein Teilsystem, in dem ein Kind ein bestimmtes Verhalten als Antwort auf die in der Familie vorherrschenden Verhaltensmuster zeigt. Diese Erkenntnis ermöglicht einen positiven Blick auf „problematisches“ Verhalten. Entsprechend dem systemischen Verständnis schaffen Probleme ein Problemsystem (von Schlippe/ Schweitzer 2010, 30). Diese entstehen durch Deklaration derselben. Durch häufiges Thematisieren eines sogenannten „Problems“ in einem Familiensystem konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf dieses. Nach von Schlippe und Schweitzer (2010, 31) ist ein Problem erst als gelöst anzusehen, wenn „… alle oder zumindest die wichtigen Leute meinen, dass das Problem gelöst sei“. Der Familienrat basiert auf dem Vertrauen in die Ressourcen der Familie. Diese wird als Expertin ihres eigenen Lebens angesehen und wertgeschätzt. Der von der Familie entwickelte Plan stellt die Übereinstimmung der „wichtigen Personen“ mit der Lösung des Problems dar. Das Verfahren des Familienrates kann allerdings nicht als eigenständige Hilfe zur Erziehung gesehen werden, da eine gesetzliche Verankerung bisher nicht erfolgt ist. Vielmehr handelt es sich um ein Verfahren zur Aktivierung und Beteiligung von sozialen Netzwerken im Rahmen von Hilfeplanungsprozessen für Kinder, Jugendliche und deren Familien (Bandow et al. 2012, 43). Weiterhin ist das Verfahren durch seinen netzwerkaktivierenden Charakter als begünstigender Faktor im Kontext einer sozialräumlichen und lebensweltorientierten Arbeit zu sehen. 406 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien Die Bedeutung von Gemeinschaft und Gesellschaft im Familienrat Der Einfluss des gemeinschaftlichen Lebens wird bei dem Betrachten der alten afrikanischen Weisheit „es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“ veranschaulicht. Jedem Einzelnen als Teil der Gemeinschaft kommt als Mitmensch des prägenden, sozialisierenden Umfeldes eine verantwortungsvolle Rolle zu. Bereits bei den Maori, den Ureinwohnern Neuseelands, wurde diese Anschauung gelebt. Die Verantwortung für die Kindererziehung und für Entscheidungen lag nicht bei der Kernfamilie alleine, sondern auch bei entfernten Verwandten und Freunden, also in der Gemeinschaft, in der sie lebten (Tönnies 2005, zitiert nach Früchtel 2011, 4). Es bestand ein großes Zusammengehörigkeits- und Allzuständigkeitsgefühl für die anderen. Menschen arbeiten besonders effektiv zusammen, wenn sie sich als Teil einer Gemeinschaft sehen, deren gemeinsames Wohl im Vordergrund steht und das ohne Hinterfragen zu erreichen angestrebt wird. Der Gemeinschaftsbegriff geht nach Tönnies (2005, zitiert nach Früchtel 2011, 4) über bloße Blutsverwandtschaft hinaus. Er beinhaltet neben der Blutsverwandtschaft einen weiten Kreis von Menschen, bestehend aus einer „Gemeinschaft des Ortes“ (Nachbarschaft) und einer „Gemeinschaft des Geistes“ (Freundschaft) (Tönnies 2005, zitiert nach Früchtel 2011, 4). Bei diesen Gemeinschaften besteht die Gemeinsamkeit darin, dass die einzelnen Akteure/ Akteurinnen agieren, ohne ihr Tun zu hinterfragen. Sie handeln nach ihrem Können und Wissen aus einem emotionalen Zugehörigkeitsgefühl heraus. Eine direkte Gegenleistung in Form von Entlohnung wird hierfür nicht erwartet. Stattdessen gewähren ihnen die Beteiligten Anerkennung und Geborgenheit, wodurch das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gemeinschaft wächst. Die daraus resultierende direkte emotionale Betroffenheit verursacht bei den Mitgliedern ein Mitleids- und Allzuständigkeitsgefühl gegenüber den Mitmenschen. Dieses kann von professionellen Helfern durch objektives Handeln nicht erreicht werden (Parsons 1951/ 1961, zitiert nach Früchtel 2011, 14f ). In der Gesellschaft hingegen sind die Beteiligten nicht miteinander verwoben. Der Mensch als Individuum handelt nur zu seinem eigenen Zweck. „Der Mensch empfindet sich nicht als Teil von etwas, sondern als Einheit für sich selbst“ (Keupps 2000, zitiert nach Früchtel 2011, 5). Er ist ausschließlich durch die Ausrichtung auf einen bestimmten Zweck mit den anderen Teilnehmern/ Teilnehmerinnen verbunden und wird durch den Staat kontrolliert und geführt (Keupps 2000, zitiert nach Früchtel 2011, 5f ). Gemeinschaft und Gesellschaft stellen für sich alleine, aber auch in Verbindung miteinander eine Grundlage dar, die der Familienrat für sich nutzen kann. Nun stellt sich die Frage, inwiefern der Familienrat die Vorteile der Gemeinschaft mit den Vorteilen der Gesellschaft als „Institution“ verknüpfen kann. Primär geht es um die Verknüpfung von staatlicher Handlungsmacht und Bürgerstimmrecht. Der Familienrat bietet hier die Möglichkeit, den Gemeinschaftssinn der Klienten/ Klientinnen und ihrer Familien zu stärken und ihnen die Chance zu geben, entsprechend ihres Könnens und ihrer Bedürfnisse zu handeln. Gestärkt wird dies im Familienrat mittels Appellieren an das Mitgefühl und durch ein Auslösen emotionaler Betroffenheit durch die anderen Teilnehmer/ Teilnehmerinnen des Rates (Früchtel 2011, 22). Es resultiert ein auf die Familie abgestimmtes Hilfeverfahren, welches die Rechte und Pflichten des Staates jedoch nicht vernachlässigt. Der Familienrat verbindet die Vorteile der Stabilität einer Familie, einer Orientierung am Kollektiv sowie der Ganzheitlichkeit der Gemeinschaft mit den Vorzügen der Gesellschaft wie beispielsweise Neutralität, Spezialwissen oder Individualisierung (Parsons 1951/ 1961, zitiert nach Früchtel 2011, 19). Betrachtet man die Systeme Gemeinschaft und Gesellschaft sowie deren Zusammenspiel, zeigt sich deutlich die Wichtigkeit von Teilnahme und Teilhabe in Entscheidungsprozessen. 407 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien In der Gemeinschaft geht es, im Gegenteil zur Gesellschaft, nicht um Teilnahme, also um professionell eingebettete Beteiligung, sondern um Teilhabe, welche sich an der Lebenswelt der Klienten/ Klientinnen orientiert (Hansbauer et al. 2009, 37). Wie der Familienrat die Klientenbeteiligung fördert Der Familienrat kann als Methode zur Entwicklung von Problemlösungen, aber auch als eine Methode der Beteiligung realisiert und unter vielen Aspekten sozialpädagogischer und fachlicher Normen betrachtet werden. Er kann zu Aspekten der systemischen Familientherapie wie auch zu anderen sozialpädagogischen Normen und Wissensbeständen - z. B. Paradoxien professionellen Handelns (Schütze 1992, 131ff ) - ins Verhältnis gesetzt werden. Das Potenzial des Familienrates wird vor allem deutlich, wenn die Methode unter Berücksichtigung der Klientenbeteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe betrachtet wird. Beteiligung ist ein wichtiges Gestaltungsprinzip, welches seit dem 10. Kinder- und Jugendbericht als wesentliche Handlungsmaxime fungiert. Klientenbeteiligung ist mit dem Paradigma der Erziehung zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit eng verbunden (Schäfer 1999, 81). Dieses wird vom Gesetzgeber in § 1 SGB VIII formuliert und greift das im Grundgesetz verankerte Recht eines jeden „auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ auf. Wichtige Grundlagen für die Beteiligung der Klienten/ Klientinnen in der Kinder- und Jugendhilfe ergeben sich u. a. aus der rechtlichen Vorschrift des § 1 SGB VIII. Im § 1 Abs. 1 SGB VIII spricht der Gesetzgeber vom Recht eines jungen Menschen auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Nach § 1 Abs. 3 SGBVIII wird die Kinder- und Jugendhilfe implizit aufgefordert, zur Verwirklichung dieser Rechte beizutragen. Hierbei werden das in Artikel 2 des Grundgesetzes garantierte Recht auf Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und die in Artikel 1 GG festgeschriebene Verpflichtung staatlicher Gewalt zur Achtung der Würde des Menschen aufgegriffen. Darüber hinaus greifen die Begriffe Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit auch den Inhalt der Personensorge des § 1626 BGB auf. Hiernach sollen Personensorgeberechtigte die wachsende Mündigkeit und Selbstständigkeit von Kindern und Jugendlichen respektieren. Nach Lauer (1999, 65) ist Gemeinschaftsfähigkeit damit verbunden, sich mit Meinungen und Positionen in einer Gruppe auseinanderzusetzen und einen eigenen Standpunkt innerhalb der Gruppe zu entwickeln. Gerade der Familienrat als kommunikatives Beteiligungsverfahren fördert die Prinzipien Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit. Dies ist vor allem deshalb in seiner Bedeutsamkeit nicht zu unterschätzen, da das familiäre System als primäre Sozialisationsinstanz wesentliche Entwicklungen der Persönlichkeit ermöglicht (Hurrelmann 2006, 127ff ). Die §§ 1 und 9 SGB VIII binden die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe eng an die verfassungsrechtlichen Maßgaben. Demnach sind Erziehungsziele und Methoden so zu gestalten, dass sie den gesetzlichen Rahmenbedingungen entsprechen. Bezogen auf die Entwicklung des Problemlösungsprozesses muss der Schwerpunkt auf der Verständigung liegen, um die Prinzipien Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit zu wahren und zu fördern (Lauer 1999, 66). Wie bereits erwähnt, spielt die Kommunikation im Familienrat eine entscheidende Rolle. Somit wird das Verfahren Familienrat diesen Anforderungen gerecht. Sind Hilfen zur Erziehung (HzE) notwendig, ist ein Beteiligungsverfahren wie der Familienrat nicht ausgeschlossen. Die Notwendigkeit einer HzE kann in die Sorgeformulierung einfließen und sich aus dem Problemlösungsprozess des Familienrates ergeben. Gemäß § 36 Abs. 1 S. 3 SGB VIII sind bei Inanspruchnahme von Hilfen nach §§ 33, 34 SGB VIII die Personensorgeberechtigten und das Kind oder der/ die Jugendliche bei der Wahl zu beteiligen. Selbst bei Kindeswohlgefährdung ist ein Familienrat möglich. Der Gesetzge- 408 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien ber fordert nach § 8 a Abs. 1 SGB VIII auch hier die Klientenbeteiligung. Durch Formulierung von Mindestanforderungen in der Sorge wird die fallzuständige Fachkraft, wie zuvor ausgeführt, dem Wächteramt gerecht. Alter Wein in neuen Schläuchen? Bei dem Familienrat handelt es sich nicht um ein neuartiges Verfahren. Schon Dreikurs war die Beteiligung der gesamten Familie an der Lösungsfindung wichtig. Der Familienrat ist ebenfalls ein Verfahren, welches die Familie aktiv bei der Lösungs- und Entscheidungsfindung einbezieht. Er kann daher sowohl als Methode zur Entwicklung von Problemlösungen als auch als eine Methode der Beteiligung betrachtet werden. Ziel ist es, die Autonomie der Familie zu stärken und ihre Fähigkeit zur Problemlösung aufzuzeigen. Eigene Wünsche und Vorstellungen zu äußern, fällt betroffenen Klienten/ Klientinnen nicht immer leicht. Überforderung und Resignation können durch das Verfahren Familienrat vermieden werden. Da die Lösungsfindung durch die Familie selbst erfolgt, ist eine Identifikation mit der Lösung ebenfalls gegeben. Im Vergleich zu anderen Hilfen zur Erziehung wird das Kind bei einem Familienrat im Kontext seiner Lebensumwelt gesehen. Durch die Herstellung eines systemübergreifenden Netzwerkes wird der Bezug zur Lebensumwelt der Familie hergestellt. Somit ist das Verfahren ein begünstigender Faktor im Kontext sozialräumlicher und lebensweltorientierter Arbeit. Der Familienrat bietet zudem die Möglichkeit, den Gemeinschaftssinn der Klienten/ Klientinnen und ihrer Familien zu stärken. Zu Beginn dieses Artikels wurde die Frage gestellt, ob ein Familienrat einen Paradigmenwechsel oder aber eine Veränderung im Rollenverständnis bewirkt. Die Tatsache, dass die Familie während der Phase der Entscheidungsfindung ohne die Anwesenheit jeglicher Professionellen agiert, stellt den Sozialarbeiter/ die Sozialarbeiterin vor eine Herausforderung. Dies entspricht jedoch dem Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Zudem erfolgt in diesem Zusammenhang die Möglichkeit zur Verantwortungsrückgabe. Der Familienrat als eine Empowermentstrategie bietet den Familien die Möglichkeit, eigene Lösungen für ihre Probleme zu entwickeln. Die genannten Aspekte erfordern demnach keinen Paradigmenwechsel, sondern stellen Ziele der Sozialen Arbeit dar, zu deren Erreichung jeder Sozialarbeiter/ jede Sozialarbeiterin beitragen sollte. Melanie Dosch Uferstraße 6 69151 Neckargemünd melanie.dosch@gmail.com Isabel Schnetz Dorfstraße 5 74838 Scheringen isabelschnetz@gmx.de Meike Winter An der Kirchenpforte 28 55128 Mainz meikepwinter@aol.com Christine Weber Franz-Schubert-Straße 12 69168 Wiesloch christine.weber81@gmx.de 409 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien Literatur Bandow, J., Kubisch-Piesk, K., Schliezio-Jahnke, H. (2012): Ein einzigartiges Verfahren in Gefahr! FORUM sozial 1/ 12, 43 - 46 Bandow, Y., Hilbert, C., Kubisch-Piesk, K., Schlizio-Jahnke, H. (2011): Familienrat in der Praxis - Ein Leitfaden. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V., Berlin Beavin, J. H., Jackson, D. 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