eJournals unsere jugend 66/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2014.art51d
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2014
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„... dass wir die Kanäle nicht finden, um an Migranten heranzukommen“

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2014
Elisabeth Tesmer
"Sind Muslime dümmer?" (Ulrich/Topcu 2010) - so lautet der Titel eines Streitgesprächs, das zwei Redakteure der Zeit mit Thilo Sarrazin über die Thesen seines Buches Deutschland schafft sich ab führten. In seinem Werk stellt der Autor unter anderem die These auf, dass Deutschland im Laufe der Zeit „noch dümmer werde“ (Bartsch u. a. 2010), weil die Geburtenrate unter bildungsfernen, muslimischen Frauen konstant steige, während deutsche, intelligente Frauen immer weniger Kinder bekämen (vgl. ebd.). Mit der Veröffentlichung seines Buches, das derartig fragwürdige Behauptungen enthält, stieß der ehemalige Bundesbank-Vorstand zahlreiche politische Diskussionen zu den Themen Migration und Bildung neu an (vgl. Ramsauer 2011, 7).
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410 unsere jugend, 66. Jg., S. 410 - 420 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art51d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „… dass wir die Kanäle nicht finden, um an Migranten heranzukommen“ Familienbildung für Eltern mit Migrationshintergrund „Sind Muslime dümmer? “ (Ulrich/ Topcu 2010) - so lautet der Titel eines Streitgesprächs, das zwei Redakteure der Zeit mit Thilo Sarrazin über die Thesen seines Buches Deutschland schafft sich ab führten. In seinem Werk stellt der Autor unter anderem die These auf, dass Deutschland im Laufe der Zeit „noch dümmer werde“ (Bartsch u. a. 2010), weil die Geburtenrate unter bildungsfernen, muslimischen Frauen konstant steige, während deutsche, intelligente Frauen immer weniger Kinder bekämen (vgl. ebd.). Mit der Veröffentlichung seines Buches, das derartig fragwürdige Behauptungen enthält, stieß der ehemalige Bundesbank-Vorstand zahlreiche politische Diskussionen zu den Themen Migration und Bildung neu an (vgl. Ramsauer 2011, 7). von Elisabeth Tesmer Jg. 1987; Dipl.-Päd. (Univ.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Elementar- und Familienpädagogik der Otto-Friedrich- Universität Bamberg Die Integrationsdebatte bekam Ende der 1990er Jahre eine neue Perspektive, als Deutschland vonseiten der Politik als Einwanderungsland anerkannt wurde (Gaitanides 2006, 224). Aus dieser Erkenntnis ging die Konsequenz hervor, „dass Maßnahmen zur Integration von Einwanderern unumgänglich“ (ebd.) seien. In diesem Zuge ließ die Politik auch der „Frage nach dem Bildungserfolg von Migrantenkindern“ (Ramsauer 2011, 7) Aufmerksamkeit zukommen. Damit gingen wissenschaftliche Studien einher, die Aufschluss darüber brachten, welche Aspekte sich positiv auf die Integration und den Bildungserfolg von Migranten auswirken können (vgl. ebd.). Denn bis heute zeigen Erfahrungen, „dass Integration vor allem über eine bessere Bildung und höhere Arbeitsmarktbeteiligung gelingen kann“ (ebd.). Bildungserfolg durch frühe Förderung Um den Bildungsstand deutscher SchülerInnen und somit auch von SchülerInnen mit Migrationshintergrund zu ermitteln, wurden im Jahr 2000 von der Organization for Economic Cooperation and Development (OECD) zum ersten Mal Daten im Rahmen der PISA-Studie erhoben. In jedem der 32 teilnehmenden Staaten wurden in diesem Zuge die Kompetenzen von 411 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien 15-jährigen SchülerInnen in dem Fachbereich der Lesekompetenz sowie der mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundbildung gemessen (Baumert u. a. 2001, 13). Neben den entwickelten Tests zur Erfassung der schulischen Kompetenzen wurden die teilnehmenden SchülerInnen auch gebeten, einen Fragebogen über ihren persönlichen und familiären Hintergrund auszufüllen. Gleichzeitig wurden die Eltern dazu angehalten, weitere Fragen zur Lebenslage der Familie zu beantworten (ebd., 14). Die Erkenntnisse, die durch die Auswertung dieser zusätzlichen Fragebögen gewonnen wurden, belegen, dass der familiäre Hintergrund der SchülerInnen mit deren Kompetenzentwicklung positiv korreliert (ebd., 351). Die so gewonnenen Ergebnisse sollten die Fachwelt veranlassen, den Fokus intensiver auf die familiären Einflussmöglichkeiten auf Bildung zu richten (ebd., 325). Bei der Suche nach Ansätzen, die Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen zu fördern, wird „auch nach Möglichkeiten der gezielten Förderung von Kindern in der frühen Kindheit gefragt“ (Rauschenbach u. a. 2005, 142). Dies lässt sich darauf zurückführen, dass der familiäre Einfluss nicht nur Auswirkungen auf Bildungs- und Entwicklungsprozesse der frühen Kindheit hat, sondern den gesamten Lebenslauf beeinflusst (vgl. ebd.; BAMF 2010, 82f ). Im Hinblick auf diese Erkenntnisse müssen Eltern in ihren Erziehungskompetenzen gestärkt werden, da in der frühen Kindheit das Fundament für Bildungserfolge im gesamten Lebensverlauf gelegt wird (BAMF 2010, 82f ). Wie in § 16 Abs. 1 SGB VIII verankert, sollen „Müttern, Vätern, anderen Erziehungsberechtigten und jungen Menschen … [dazu] Leistungen der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie angeboten werden“. Diese sollen alle Erziehungsberechtigten dabei unterstützen, „ihre Erziehungsverantwortung besser wahrnehmen“ (§ 16 Abs. 1 SGB VIII) zu können. Zu diesen Leistungen zählen Familienbildungsangebote, die auf die Interessen und Bedürfnisse von Eltern eingehen, um ihnen in ihrer aktuellen Lebenslage Unterstützung zu bieten. Manche Lebenslagen bringen besonderen Unterstützungsbedarf mit sich. Familien, die ihren Lebensmittelpunkt in ein anderes Land verlagert haben, stehen beispielsweise in besonderem Maße vor neuen Aufgaben und Herausforderungen, um den Familienalltag zu bewältigen. Gerade immigrierten Eltern aus bildungsfernen Milieus fällt es schwer, diese Herausforderungen zu meistern (vgl. Deutscher Bundestag 2000, 184). Trotz dieser überdurchschnittlichen Belastungen ist es dennoch Tatsache, dass MigrantInnen in sozialen, präventiven Unterstützungsangeboten unterrepräsentiert sind (Gaitanides 2006, 225). Dies geht vor allem daraus hervor, dass es„offensichtlich Defizite bei der Ansprache und dem Einbezug von Menschen mit Migrationshintergrund in die Weiterbildung“ (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007, 10) gibt. An diesem Punkt stellt sich den Anbietern von Familienbildung die Aufgabe, dem entgegenzuwirken und besondere Anstrengungen auf sich zu nehmen, um „benachteiligte Menschen mit Migrationshintergrund durch Angebote der Eltern- und Familienbildung zu erreichen und so zu einer Verbesserung ihrer Lebenssituation beizutragen“ (ebd.). Bedarf vs. Teilnahme: ein Paradoxon Der geringen Teilnahme an Weiterbildungsangeboten steht allerdings der hohe Bedarf an Familienbildungsangeboten dieser Zielgruppe gegenüber. Svetlova führte 2011 eine Bedarfsanalyse in Nürnberg durch, die ergab, dass sich bildungsbenachteiligte Menschen mit Migrationshintergrund mehr Familienbildungsangebote zu bestimmten Themen wünschen. Der größte Teil - 65 % der Befragten - bekundete Interesse an Veranstaltungen zu schulischen Fragen. Außerdem gaben 35 % der Befragten einen Bedarf an Themen für Väter und 33 % Be- 412 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien darf an Veranstaltungen zu Erziehungsthemen an. Jeweils 25 % wünschen sich Informationsangebote zur kindlichen Entwicklung und zur Pubertät. Das geringste Interesse wurde an Gesundheitsthemen bekundet, nur 23 % der Befragten wünschten sich Angebote zu diesem Themenkomplex (Svetlova 2011, 8). Es ist also deutlich zu erkennen, dass Menschen mit Migrationshintergrund ein grundsätzliches Interesse an Familienbildungsangeboten haben. Fischer/ Krumpholz/ Schmitz (2007) haben jedoch in ihrer Bestandsaufnahme der Eltern- und Familienbildung in Nordrhein-Westfalen festgestellt, dass der Bedarf an Angeboten„wiederum nicht [bedeutet], dass ein Hilfebedarf seitens der betroffenen Migrantinnen und Migranten auch bei den Einrichtungen sozialer Dienste abgerufen wird“ (ebd., 34). Anbieter von Familienbildungsangeboten sollten sich also zur Aufgabe machen, Zugänge zu dieser schwer erreichbaren Bevölkerungsgruppe zu erschließen. Institutionelle Zugangsbarrieren zu Familienbildungsangeboten für Eltern mit Migrationshintergrund Um Wege zu erschließen, auf denen Menschen erreicht werden, muss die Aufmerksamkeit vorerst darauf gerichtet werden, welche Rahmenbedingungen Barrieren für die Teilnahme an Familienbildungsprogrammen darstellen (Mengel 2011, 198). Eine Zugangsschwelle kann beispielsweise die räumliche Erreichbarkeit der Familienbildungsstätte darstellen (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007, 51.). Analysen der Nutzung von Familienbildungsangeboten in Bayern (Rupp/ Mengel/ Smolka 2010, 81ff ) zeigen, dass Eltern zur Teilnahme an einem Familienbildungsangebot am häufigsten kirchliche Räume aufsuchen. Die folgenden Plätze in der Rangliste der besuchten Orte zur Teilnahme an Familienbildungsprogrammen belegen Krankenhäuser, Räumlichkeiten von Hebammen, Kindergärten und Kindertagesstätten sowie Schulen (ebd., 104). Menschen mit Migrationshintergrund, die nicht einer christlichen Glaubensgemeinschaft angehören, werden unter diesen Umständen kirchliche Räume eher als Barriere empfinden (Gaitanides 2006, 225). Aus der in Bayern durchgeführten Analyse ist ersichtlich, „dass vor allem Angebote an alltagsnahen Orten wahrgenommen werden“ (Rupp/ Mengel/ Smolka 2010, 115). Um das zu gewährleisten, wird von einigen Familienbildungsstätten der Ansatz verfolgt, Angebote „in die Bildungswelten der Kinder“ (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007, 71) zu verlegen. Die Räumlichkeiten in Kindertagestätten und Schulen sind den Eltern und Kindern vertraut, in der Regel nicht weit vom Wohnort entfernt und erleichtern so den Zugang zu Angeboten (ebd.). Teilnahmekosten können auch als Barriere wirken und den Zugang zu Familienbildungsangeboten gerade für bildungsferne TeilnehmerInnen mit geringen finanziellen Möglichkeiten erschweren (Mengel 2011, 198). Bei Befragungen (vgl. John 2003) wurde festgestellt, dass aufgrund von Zuschusskürzungen viele Einrichtungen gezwungen sind, die Teilnehmerbeiträge zu erhöhen und die finanziellen Einbußen auf diese Weise zu kompensieren. Diese Maßnahme könnte einen Rückgang der Teilnehmerzahlen bewirken. Die unbeabsichtigte Folge wäre „eine Ausrichtung des Angebots …[auf ] zahlungskräftiges Klientel“ (ebd., 10). Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Zielgruppe der bildungsferneren Menschen mit Migrationshintergrund „bei aller Heterogenität der Lebenslagen … eher zu den Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen [und] hoher Arbeitslosenrate gehört“ (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007, 10), würden hohe Teilnahmebeträge für diese Zielgruppe eine Hürde für die Teilnahme an einem Familienbildungsprogramm darstellen (ebd., 71). So wie Teilnahmegebühren und weite Wege zu den Angeboten die Teilnahme an Programmen 413 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien behindern können, erschweren auch zu hohe bürokratische Hürden den Zugang zur Zielgruppe. Damit Familienbildungsangebote einladend wirken, sollten Anmeldeverfahren sehr einfach gehalten werden. Außerdem sollte „auch die Möglichkeit [bestehen], ins Angebot ‚reinschnuppern‘ zu können“ (Mengel 2011, 203). Eine weitere Rahmenbedingung, die den Zugang zu Familienbildungsangeboten erschwert, ist das Fehlen einer Betreuungsmöglichkeit für Kinder, während Eltern an einem Programm teilnehmen (ebd., 198). In Österreich wurde 2011 eine Studie zum Thema „Erreichbarkeit von Eltern in der Familienbildung“ durchgeführt, in der Eltern auch nach Gründen für die Nicht-Teilnahme an Familienbildung gefragt wurden. 16,8 % der Eltern führten an, dass sie während des Angebots keine Betreuungsmöglichkeit für ihr Kind hätten (Buchebner-Ferstl 2011, 238). Zwar wurden in dieser Studie nicht nur Eltern mit Migrationshintergrund befragt, allerdings stellt der Mangel an Kinderbetreuung eine Zugangsbarriere für alle Eltern dar, also auch für Eltern mit Migrationshintergrund. Die bisher genannten Zugangsbarrieren zu Familienbildungsprogrammen sind institutioneller Natur (Mengel 2011, 198). Hürden wie weite Wege zum Angebot, hohe Teilnahmekosten, großer bürokratischer Aufwand bei der Anmeldung und der Mangel an Kinderbetreuung während des Elternbildungsangebots können von den Anbietern von Familienbildung beispielsweise durch einen niedrigschwelligen Ansatz gesenkt oder sogar zum Teil beseitigt werden. Zugangsbarrieren aufseiten potenzieller TeilnehmerInnen Zugangsbarrieren bestehen jedoch nicht nur auf institutioneller Seite, sondern auch aufseiten der potenziellen TeilnehmerInnen von Familienbildungsprogrammen. Bei einer Untersuchung in Nordrhein-Westfalen (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007) wurden LeiterInnen sowie hauptamtliches pädagogisches Personal von Weiterbildungs- und Familienbildungseinrichtungen nach ihrer Einschätzung bezüglich persönlicher Zugangsbarrieren von Menschen mit Migrationshintergrund für die Teilnahme an Familienbildungsprogrammen befragt. 30,7 % gaben dabei „Sprachbarrieren als Hemmschwelle für den Besuch von Weiterbildungsveranstaltungen“ (ebd., 50) an. Die Befürchtung von Eltern, sich auf Deutsch nicht angemessen ausdrücken zu können, kann dazu beitragen, nicht an Familienbildungsangeboten teilzunehmen (Straßburger 2008, 153). Weitere 38,5 % der Befragten gaben in jener Untersuchung an, dass sich bildungsferne Menschen mit Migrationshintergrund „ähnlich verhielten wie deutsche Unterschichtsangehörige mit vergleichbaren Voraussetzungen, die ebenfalls seltener in den Weiterbildungsangeboten vertreten seien“ (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007, 50). Zwar „hat sich eine Forschungstradition, die sich … mit dem Weiterbildungsverhalten von Personen mit Migrationshintergrund befasst, … bislang nicht etablieren können“ (Barz u. a. 2008, 97), dennoch wird diese Vermutung von mehr als einem Drittel der in der Praxis tätigen Befragten angegeben. Dieses Verhalten könnte unter anderem daraus entstanden sein, dass bildungsfernere Menschen mit Migrationshintergrund häufig mit „schulischen Misserfolge[n] und negative[n] Erfahrungen mit schulischem Lernen“ (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007, 50) in Berührung gekommen sind. Darauf basierend wirkt ein Bildungsangebot, das von vielen mit schulischem Lernen gleichgesetzt wird, häufig demotivierend (vgl. ebd.). Der Vermutung, dass Eltern mit Migrationshintergrund seltener in Weiterbildungsveranstaltungen zu finden sind, wird auch dadurch Rechnung getragen, dass sie die „Facetten des 414 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien Beratungssystems“ (Boos-Nünning 2006, 217) nicht genau kennen. Auernheimer (2006) vertritt die Ansicht, Menschen mit Migrationshintergrund würden in Problemlagen häufig keine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen und seien deshalb „überproportional … in den ‚Endstationen‘ wie betreutes Wohnen zu finden“ (ebd., 196), was auf das Versagen von präventiven Maßnahmen zurückzuführen sei (Gaitanides 2006, 225). Diese Lücke im Präventionssystem basiert unter anderem auf „Informationsdefiziten über Vorhandensein, Struktur und Nutzwert der Angebote“ (ebd.). In den Herkunftsländern der Eltern mit Migrationshintergrund hat Soziale Arbeit häufig eine abweichende Funktion. Angebote sind dort kaum präventiv und unterstützend, sondern helfend und kontrollierend konzipiert (Straßburger 2011, 181). Benötigt eine Familie Unterstützung, liegt es den Eltern vor diesem Hintergrund fern, die Unterstützung einer solchen Institution in Anspruch zu nehmen. Erschwerend kommt in manchen Fällen die Angst vor Behörden und Institutionen hinzu. Da viele Menschen mit Migrationshintergrund über die Struktur der Angebote nicht informiert sind, entsteht außerdem häufig Angst vor ausländerrechtlichen Folgen (Gaitanides 2006, 225). Sind Eltern mit Migrationshintergrund doch über Familienbildungsangebote informiert, können der Teilnahme an Familienbildungsangeboten noch andere Befürchtungen im Wege stehen. Dazu zählt unter anderem die „Erwartung von Vorurteilen gegenüber MigrantInnen und Mangel an Akzeptanz“ (ebd.). Manche Angebote erwecken zunächst den Anschein,„monokulturell ausgerichtet zu sein“ (Straßburger 2011, 181). Viele Menschen mit Migrationshintergrund haben schon häufig die Erfahrung gemacht, dass Angebote augenscheinlich nur für Einheimische konzipiert sind, und fühlen sich deshalb von dem Angebot nicht angesprochen (ebd.). Hinzu kommt, dass in einigen Kulturen die Ursachen von Problemen vor allem externen Ursachen zugeschrieben werden. Vor der Selbstreflexion steht der Glaube an Zufälle und an das Schicksal, dem man sowieso ausgeliefert ist (Gaitanides 2006, 225). Die aktive Suche nach einem Ausweg aus ihrer problembehafteten Situation liegt daher für viele Menschen in weiter Ferne. Eine weitere Zugangsbarriere entsteht durch das Subsidiaritätsprinzip (Auernheimer 2006, 196). In § 4 Abs. 2 SGB VIII ist gesetzlich verankert, dass die öffentliche Jugendhilfe bei Bedarf keine neuen Maßnahmen schaffen darf, „soweit geeignete Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen von anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe betrieben werden oder rechtzeitig geschaffen werden können“ (§ 4 Abs. 2 SGB VIII). Aufgrund dieser gesetzlichen Regelung sind einige Familienbildungseinrichtungen christliche Tendenzbetriebe. Diesen ist es nach § 9 AGG nicht verboten, Personal aus dem Grund abzulehnen, dass der/ die BewerberIn einer anderen Religion angehört und die Werte dieser auch vertritt. Dadurch haben kirchliche Träger die Möglichkeit, hauptsächlich MitarbeiterInnen einzustellen, die einer christlichen Glaubensgemeinschaft angehören. Praxiserfahrungen zeigen jedoch, dass gerade KursleiterInnen, die selbst einen Migrationshintergrund haben und eine entsprechende Fremdsprache beherrschen, aber somit oftmals nicht der christlichen Glaubensgemeinschaft angehören, Zugangsschwellen, die auf sprachlichen Barrieren beruhen, erheblich senken (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007, 12). Die Liste der Zugangsbarrieren zu Familienbildungsprogrammen, gleich ob sie institutioneller Natur sind oder aufseiten der Zielgruppe liegen, ist lang. Viele dieser Barrieren können vor allem durch niedrigschwellige Angebote und die interkulturelle Öffnung von Einrichtungen gesenkt oder gar beseitigt werden. 415 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien Erfolgreiche Wege: Sozialraumorientierung, Kooperation und Vernetzung Praxiserfahrungen zeigen, dass die Sozialraumorientierung sowie die Vernetzung mit anderen Organisationen sehr hilfreich dabei sind, Familien mit Migrationshintergrund über Familienbildungsprogramme zu informieren und so Zugänge zu den Angeboten zu eröffnen (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007, 16). Der Schwerpunkt im Konzept der Sozialraumorientierung liegt zum einen auf Anerkennung und Stärkung von individuellen Fähigkeiten und auf der „Mobilisierung der Ressourcen von sozialen Netzwerken und der wohnortnahen Infrastruktur“ (Straßburger/ Bestmann 2008, 10). Zusätzlich wird konsequent an den Interessen der BewohnerInnen des jeweiligen Sozialraumes angesetzt. Menschen, die in ein fremdes Land immigrieren, suchen häufig gezielt Wohnraum in Vierteln, in denen bereits viele andere Menschen aus der eigenen Kultur und Ethnie leben. Denn Netzwerke mit Mitgliedern aus dem eigenen Kulturkreis können große Unterstützung und Orientierungshilfe in der ersten Zeit nach der Verlagerung des Lebensmittelpunktes bieten. Menschen mit Migrationshintergrund sind oftmals Mitglieder in „verschiedenen Formen von Netzwerken, die ökonomisch, sozial, kulturell, religiös oder politisch motiviert sein können“ (Deutscher Bundestag 2000, 165). Diese Netzwerkaktivitäten können formeller oder informeller Natur sein und werden als Migrantenselbstorganisationen bezeichnet (Huth 2004, 1). Sie reichen von inoffiziellen Treffpunkten über Initiativen zur Selbsthilfe bis hin zu formell organisierten Vereinen (Deutscher Bundestag 2000, 165). Da eine Mitgliedschaft oder ein Engagement in einem Netzwerk grundsätzlich freiwillig ist, treten Menschen nur dann einer Organisation bei, wenn sich für sie ein persönlicher Nutzen aus der Mitgliedschaft ergibt. Das heißt, der Verein oder das Netzwerk hat Angebote, die den Interessen seiner Mitglieder entsprechen (Diehl/ Urbahn 1999, 13). Ein Grundprinzip der sozialraumorientierten Arbeit fordert deshalb, auf die Interessen der BewohnerInnen einzugehen. Diesen Grundsatz umzusetzen, gelingt vielen Migrantenselbstorganisationen. Sie erkennen Interessen und Informationsbedürfnisse ihrer potenziellen Mitglieder, greifen diese auf und reagieren mit zielgerichteten Angeboten darauf. An diesem Punkt können die Anbieter von Familienbildung ansetzen, um Bedürfnisse von Eltern mit Migrationshintergrund festzustellen. Migrantenselbstorganisationen bieten hierfür die passende Umgebung, die Interessen von Eltern mit Migrationshintergrund zu ermitteln, da hier ein Setting besteht, in dem Interessen geäußert werden ( Toprak 2010, 125f ). Auf diese Informationen kann dann mit entsprechenden Angeboten reagiert werden. Dies entspricht dem Konzept der Sozialraumorientierung, das neben dem Ansetzen an den Interessen der BewohnerInnen eines Sozialraumes die Kooperation und Vernetzung mit vorhandenen Einrichtungen fordert. In Wohngegenden mit einem hohen Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund bietet sich die Zusammenarbeit von Familienbildung und Migrantenselbstorganisationen an, um Eltern den Zugang zu Familienbildungsangeboten zu eröffnen (BMFSFJ 2008, 37). Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass neben Migrantenselbstorganisationen Fachstellen, die sich mit Fragen der Migration beschäftigen,„eine wichtige beratende und unterstützende Funktion bei der Zielgruppenansprache [und der] Herstellung von Kontakten zu Multiplikatoren in der community der Migranten“ (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007, 17) einnehmen. Durch gezielt gepflegte, persönliche Kontakte, die durch die Teilnahme an „Runden Tischen“ oder Stadtteilgremien hergestellt werden können (ebd., 71), können zentrale Schlüsselpersonen aus Migran- 416 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien tenselbstorganisationen oder migrantenspezifischen Fachstellen dafür gewonnen werden, Informationen über Angebote an potenzielle TeilnehmerInnen aus ihrer Organisation weiterzugeben (BMFSFJ 2008, 37). Fischer/ Krumpholz/ Schmitz (2007) listen eine Reihe von Vorteilen der Zusammenarbeit von Familienbildungsstätten und Migrantenselbstorganisationen auf (ebd., 81f ). Neben dem gegenseitigen Kennenlernen und Unterstützen von Projekten können durch eine Vernetzung gemeinsame, neue Angebote entwickelt werden. So gelingt es leichter, Familienbildungsangebote zielgruppengerecht zu gestalten. Durch die Vernetzung von Projekten erlangen die MitarbeiterInnen der beteiligten Einrichtungen außerdem einen besseren Überblick über vorhandene Ressourcen im Stadtteil und leisten gleichzeitig Öffentlichkeitsarbeit für eigene Angebote (Straßburger/ Bestmann/ Häseler 2008, 56). Auch kann auf diese Weise die Infrastruktur von Angeboten verbessert werden. Da kurze Wege zu Angeboten den Zugang zu Familienbildung erleichtern, können Kursangebote der Familienbildung beispielsweise in den Vereinsräumen von Migrantenselbstorganisationen abgehalten werden (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007, 16). Weil die Räumlichkeiten den Vereinsmitgliedern bekannt sind, werden auf diese Weise weitere Zugangsschwellen zu Familienbildungsangeboten gesenkt. Weil es vor allem muslimischen Männern sehr wichtig ist, die strukturellen Rahmenbedingungen, also auch die Besucherstruktur, zu kennen (Toprak 2010, 125), ist es von Vorteil, wenn nicht nur Vereinsräume von Kultur- oder Moscheevereinen, sondern auch schon vorhandene Gruppenstrukturen der Organisationen genutzt werden können. In muslimisch geprägten Kulturen ist es Frauen oft nicht gestattet, ohne ihren Ehemann mit anderen Männern in Kontakt zu kommen (ebd., 44). In Kultur- und Moscheevereinen haben sich oftmals Frauengruppen zusammengefunden, die sich ungestört von männlichen Vereinsmitgliedern über alle Themen, auch Tabuthemen wie Sexualität oder Verhütung, austauschen können (ebd., 124). Befindet sich ein Elternbildungsangebot in den Räumen eines Kultur- oder Moscheevereins, können muslimische Männer eher darauf vertrauen, dass die Ehre ihrer Frau nicht verletzt wird, indem sie in unvorhergesehener Weise mit anderen Männern in Kontakt kommt. Durch die große Nähe der Migrantenselbstorganisationen zum Adressatenkreis der Familienbildung kann die Zielgruppe - Eltern mit Migrationshintergrund - direkter angesprochen und so besser erreicht werden (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz, 81f ). Sie nehmen dabei eine Brückenfunktion ein und eröffnen durch das Eingehen von Kooperationen Zugänge für Familien mit Migrationshintergrund (ebd., 37). Multiplikatoren und individuelle Wege des Informationsflusses Neben der Sozialraumorientierung und der Kooperation und Vernetzung mit Migrantenselbstorganisationen gibt es weitere Ansätze, um Eltern mit Migrationshintergrund durch Familienbildungsangebote erfolgreich zu erreichen. Die Zusammenarbeit mit Kindertagesstätten oder mit Anbietern von Integrations- oder Geburtsvorbereitungskursen sowie die Kooperation mit dem Allgemeinen Sozialdienst einer Stadt oder anderen migrantenspezifischen Diensten können weitere Wege zur Gewinnung von Eltern mit Migrationshintergrund für die Teilnahme an Familienbildungsprogrammen darstellen (BMFSFJ 2008, 38f; Hartung/ Kluwe/ Sahrai 2009, 39). Die Kooperation mit Kindertagesstätten enthält viele positive Aspekte, die die Zugangsbarrieren zu einem Familienbildungsangebot senken. MitarbeiterInnen von Familienbildungsstätten bekräftigen immer wieder, dass die persönliche Ansprache der Eltern durch Fachper- 417 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien sonal am wirkungsvollsten ist, um die Teilnahme der Eltern an einem Programm zu erreichen (Straßburger 2011, 184; Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007, 15; Tschöpe-Scheffler 2008, 155). Werden Familienbildungsprogramme in den Räumlichkeiten von Kindertagesstätten abgehalten, können die Kinder als Brücke zu den Eltern fungieren (BMFSFJ 2008, 39). Zusätzlich kommt den dort angestellten ErzieherInnen „eine Schlüsselposition für die Vermittlung der Angebote“ (Tschöpe-Scheffler 2008, 155) zu. Zwischen-Tür-und-Angel-Gespräche mit ErzieherInnen bieten Eltern die Gelegenheit, über Schwierigkeiten bei der Erziehung oder aber auch über Probleme innerhalb der Familie zu sprechen. Eltern, die diese spontanen Gelegenheiten wahrnehmen, sind häufig nicht auf Elternabenden anzutreffen, weil sie sich in der Gruppe nicht über eigene Probleme äußern möchten (Becker-Textor 1992). Findet in der Kindertagesstätte ein Elternbildungsprogramm statt, das für diese Familie hilfreich wäre, kann die Erzieherin der Mutter oder dem Vater dieses Angebot in dem Zwischen-Tür-und-Angel-Gespräch direkt empfehlen (Tschöpe-Scheffler 2008, 155). Findet ein Elternbildungsangebot in einer Kindertagesstätte statt, ist nicht nur die Multiplikatorenfunktion der ErzieherInnen von Vorteil, sondern auch die Tatsache, dass den Eltern die Räumlichkeiten schon bekannt sind. Wie oben beschrieben, können bekannte Räumlichkeiten Zugangsschwellen senken. Zusätzlich kann das Angebot zu einem Zeitpunkt zur Verfügung gestellt werden, an dem die Kindertagesstätte geöffnet ist. So ist die Betreuung der Kinder der teilnehmenden Eltern gesichert und eine zusätzliche Zugangsbarriere beseitigt. Neben den MitarbeiterInnen von Kindertagesstätten sollte auch das Fachpersonal von Integrationskursen, Geburtsvorbereitungskursen und vor allem vom Allgemeinen Sozialdienst als Multiplikator gewonnen werden (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007, 17). Fachpersonal, das mit Eltern mit Migrationshintergrund in Kontakt kommt, sollte einen Überblick über das Familienbildungsangebot im jeweiligen Sozialraum der KlientInnen haben, um bei Bedarf im persönlichen Kontakt Informationen zu passenden Programmen weitergeben zu können. Generell hat sich die persönliche Ansprache von Eltern als eine der erfolgversprechendsten Maßnahmen herausgestellt, um sie für die Teilnahme an einem Elternbildungsprogramm zu gewinnen. Andere Werbemittel hingegen wie Internetauftritte, Radiowerbung, Flyer, Zeitungsannoncen, Aushänge oder Broschüren haben eine sehr viel geringere Effizienz (ebd., 69; BMFSFJ 2008, 25). Allerdings werden Flyer und Broschüren, besonders in der jeweiligen Muttersprache der Eltern mit Migrationshintergrund, für das Untermauern von persönlichen Einladungen zu Angeboten von Fachleuten geschätzt. Diese enthalten konkrete Informationen wie Zeit, Ort und Ansprechpartner des Angebots und können von Eltern nach dem Gespräch genutzt werden, um soeben mündlich erhaltene Informationen noch einmal nachzulesen (Straßburger/ Bestmann/ Häseler 2008, 36). Werbemittel in Schriftform sollten in Sprache und Ästhetik an die Zielgruppe angepasst sein, indem beispielsweise Bilder von Menschen gewählt werden, mit denen sich die Zielgruppe identifizieren kann (Barz u. a. 2008, 63f ). Da nicht alle Eltern mit Migrationshintergrund Angebote von sozialen oder migrationsspezifischen Einrichtungen nutzen, ist es hilfreich, wenn sich Veranstalter von Familienbildungsangeboten gezielt in das Wohnumfeld von Eltern mit Migrationshintergrund begeben (Straßburger/ Bestmann/ Häseler 2008, 35). Dabei ist es oftmals nicht notwendig, sich weit von der eigenen Einrichtung zu entfernen. Häufig ergibt sich die Gelegenheit, potenzielle TeilnehmerInnen direkt vor der Projekttür anzusprechen. Durch interessant gestaltete Schaufenster kann die Aufmerksamkeit erregt werden. Neben ansprechenden Bastelarbeiten können Informationen zu stattfindenden Programmen 418 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien ausliegen. An diesem Punkt können MitarbeiterInnen der Einrichtung Eltern, die interessiert das Schaufenster betrachten, ansprechen, um sie im persönlichen Gespräch zu ihrem Angebot einzuladen (ebd.). Haben Elternteile erfolgreich an einem Elternbildungsprogramm teilgenommen und sind davon überzeugt, für sich einen Nutzen aus dem Angebot zu ziehen, ist ihre Empfehlung zu einem Programm ein sehr wirksamer Zugang zu weiteren Eltern aus demselben Kulturkreis (Fischer/ Krumpholz/ Schmitz 2007, 15). In muslimisch geprägten Kulturen sind Familienthemen häufig tabuisiert, können also nicht mit Fremden besprochen werden (Toprak 2010, 42). Daher suchen sich Familienmitglieder in Problemlagen häufig Rat im Bekannten- und Verwandtenkreis. Kann innerhalb der Community jemand von guten Erfahrungen mit einem Familienbildungsprogramm berichten, folgen viele Eltern diesen persönlichen Empfehlungen (BMFSFJ 2008, 25). Werden die Informationen über ein Familienbildungsangebot via Mundzu-Mund-Propaganda weitergegeben, garantiert dies für potenzielle TeilnehmerInnen zum einen die Qualität eines Angebots und lässt sie zum anderen Vertrauen in die Verschwiegenheit des dort tätigen Personals erwarten (Thiessen 2007, 18). Der aufsuchende Ansatz lässt sich teilweise aufgrund von Mund-zu-Mund-Propaganda „bis ins ‚Wohnzimmer‘“ (Straßburger/ Bestmann/ Häseler 2008, 35) praktizieren. Es kann sich bisweilen ergeben, dass Fachleute von ProgrammteilnehmerInnen mit anderen Eltern aus deren Bekannten- und Verwandtenkreis in Kontakt gebracht werden (BMFSFJ 2008, 25). Straßburger/ Bestmann/ Häseler (2008) berichten, dass MitarbeiterInnen bei Hausbesuchen kurzerhand mit in das Wohnzimmer der Nachbarin genommen wurden, um direkt empfohlen zu werden. Hier lässt sich durch persönliche Ansprache, gekoppelt mit der Empfehlung einer vertrauten Person, sehr leicht der Zugang zu einem Familienbildungsprogramm eröffnen. Aufgrund des Schneeballprinzips kann der Bekanntheitsgrad eines Angebots auf diese Weise erheblich gesteigert werden (Straßburger/ Bestmann/ Häseler 2008, 35f ). Abschließend kann also festgehalten werden, dass die Informationen über Familienbildungsprogramme durch Vernetzung mit anderen Einrichtungen und daraus hervorgehenden Kooperationen sowie durch Mund-zu-Mund- Propaganda Eltern mit Migrationshintergrund besonders effektiv erreichen. Fazit Eltern mit Migrationshintergrund stehen aufgrund der Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes vor größeren Herausforderungen als einheimische Eltern. Aus dieser Lebenslage heraus ergibt sich bei diesem Teil der Bevölkerung ein besonders hoher Bedarf an Familienbildung. Der bestehende Bedarf ist allerdings nicht mit der Inanspruchnahme von Angeboten gleichzusetzen, weshalb es Aufgabe der Anbieter von Familienbildung ist, Zugangswege für Eltern mit Migrationshintergrund zu eröffnen. Mit seinen fragwürdigen Thesen rückte Thilo Sarrazin die Themen Migration und Bildung erneut in den Fokus der gesellschaftlichen Debatte. Dementsprechend beschäftigt das Bildungsverhalten von Migranten auch die pädagogische Fachwelt. Fischer/ Krumpholz/ Schmitz (2007) befragten in ihrer Studie in Nordrhein- Westfalen zum Weiterbildungsverhalten von Eltern mit Migrationshintergrund pädagogisches Fachpersonal. In einem dieser Interviews stellt eine Fachkraft dabei resignierend fest, „… dass wir die Kanäle nicht finden, um an Migranten heranzukommen“ (ebd., 51). In der Tat gestaltet es sich oft schwierig, Eltern mit Migrationshintergrund für die Teilnahme an Familienbildungsprogrammen zu gewinnen. Besonders jene sozialen Milieus, die Bildungs- 419 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien ferne und Bildungsbedürftigkeit vereinen, erreichen Weiterbildungsangebote nur selten. Dies steht im krassen Kontrast dazu, dass sich besonders Eltern in diesen schwierigen Lebenslagen Informationsveranstaltungen zu Bildungs- und Erziehungsthemen wünschen. Viele pädagogische Fachkräfte sind gewillt, auf die Zielgruppe Eltern mit Migrationshintergrund einzugehen, befürchten jedoch in diesem Zuge Mehrbelastungen in einem Ausmaß, das nicht von der aktuellen Mitarbeiterkonstellation einer Einrichtung getragen werden kann. Deshalb ist es dringend notwendig, Familienbildungsstätten mit ausreichend finanziellen und personellen Ressourcen auszustatten, um zu gewährleisten, dass auch dem gesetzlich verankerten Anspruch dieser speziellen Zielgruppe auf Unterstützung mehr als bisher entsprochen werden kann. Eltern mit Migrationshintergrund gehören schließlich wie einheimische Eltern zur Regelklientel von Familienbildungsstätten und müssen ihren Bedürfnissen entsprechend Unterstützung erhalten, damit sie ihre Erziehungsverantwortung wahrnehmen können. Um diese Zielgruppe zu erreichen, sind erfolgreiche Ansätze entwickelt worden. Diese sollten jedoch in der Praxis umfangreicher angewendet und verknüpft werden, um einen angemessenen Wirkungsgrad zu erzielen. Wenn so die Effektivität nachweislich funktionsfähiger Konzepte gesteigert würde, könnten diese Ansätze Wege darstellen, auf denen es auch in breiterem Umfang gelingen kann, unterstützungsbedürftige Eltern mit Migrationshintergrund für die Teilnahme an Familienbildungsangeboten zu gewinnen. Elisabeth Tesmer Otto-Friedrich-Universität Bamberg Lehrstuhl Elementar- und Familienpädagogik Markusstraße 8 a 96045 Bamberg elisabeth.tesmer@uni-bamberg.de Literatur Auernheimer, G. (2006): Das Ende der „Normalität“ und die soziale Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft. In: Otto, H.-U., Schrödter, M. (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft. Multikulturalismus - Neo-Assimilation - Transnationalität. Neue- Praxis-Sonderheft 8, Lahnstein, 192 - 200 Bartsch, M., et al. (2010): Bündnis der Weggucker. Der Spiegel 37. www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d-73791 863.html, 20. 5. 2012 Barz, H., von Hippel, A., Reich, J., Tippelt, R. (2008): Milieumarketing: Ergebnisse, Anfragen, Perspektiven. 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