eJournals unsere jugend 66/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2014.art52d
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2014
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„Außerdem habe ich gelernt: Wir müssen Schritt für Schritt hinter unseren Kindern her sein.“

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Victoria Schwenzer
Die Familienklasse stellt ein innovatives Angebot im Rahmen der Hilfen zur Erziehung an einer Schule dar, das sich sowohl an Eltern als auch an ihre Kinder richtet. Der Artikel beschreibt Ergebnisse einer qualitativen Evaluation, die der Berliner Träger familie e. V. bei Camino gGmbH in Auftrag gegeben hat.
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421 unsere jugend, 66. Jg., S. 421 - 428 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art52d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Victoria Schwenzer Jg.1968; Europäische Ethnologin M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH „Außerdem habe ich gelernt: Wir müssen Schritt für Schritt hinter unseren Kindern her sein.“ Evaluationsergebnisse des Angebots „Familienklasse“ von familie e.V. Die Familienklasse stellt ein innovatives Angebot im Rahmen der Hilfen zur Erziehung an einer Schule dar, das sich sowohl an Eltern als auch an ihre Kinder richtet. Der Artikel beschreibt Ergebnisse einer qualitativen Evaluation, die der Berliner Träger familie e.V. bei Camino gGmbH in Auftrag gegeben hat. 1 familie e.V. ist ein freier Träger der Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt aufsuchende Familienberatung. Die Familienklasse, die von familie e.V. an einer Grundschule in Berlin-Kreuzberg seit November 2011 durchgeführt wird, knüpft an das Konzept der Multifamilientherapie (Asen/ Scholz 2009) an. Bei der Familienklasse handelt es sich um ein Angebot, dessen Ziel es ist, dass verhaltensauffällige Kinder lernen, die Regeln der Schule zu akzeptieren und ihren Schulalltag zu bewältigen. Die Eltern unterstützen die Kinder aktiv dabei, sie durchlaufen aber auch eigene Lernprozesse, indem sie stärker Verantwortung für ihr Kind übernehmen. Mit der gemeinsamen Teilnahme von Kindern und Eltern an der Familienklasse sollen eine positive Schulentwicklung ermöglicht, der Verbleib in der Regelklasse gesichert und Schulersatzprojekte vermieden werden. In der Grundschule lernen sechs bis acht SchülerInnen, die starke Verhaltensauffälligkeiten aufweisen, einmal in der Woche in Begleitung mindestens eines Elternteils in einem separaten Klassenzimmer. Die SchülerInnen werden von einer Sonderpädagogin der Schule in der Bearbeitung von schulischen Aufgaben unterstützt. Zwei TrainerInnen von familie e.V. sorgen für die konzeptionelle Umsetzung der Familienklasse. Sie haben die Aufgabe, Gruppenprozesse in der Familienklasse zu initiieren und so zu 1 Der vorliegende Artikel beruht auf der Kurzfassung des Berichtes, der für familie e.V. erstellt wurde. Die ausführliche Fassung, die auch Zitate der Befragten enthält, ist bei dem Träger erhältlich. 422 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien gestalten, dass immer wieder Kontexte hergestellt werden, in denen die Eltern voneinander lernen können. Die Aufgabe der Eltern ist es, im Rahmen der Familienklasse ihre Kinder dabei zu unterstützen, ihre individuellen Arbeitsziele zu erreichen, die sich vor allem auf die Verbesserung sozialer Kompetenzen und die Akzeptanz von schulischen Regeln beziehen. Die Eltern sollen aber auch selbst Lernprozesse durchlaufen, wie z. B. die Übernahme von mehr elterlicher Erziehungsverantwortung und die Erweiterung von Erziehungsmethoden. Grundsätzliches Anliegen der Evaluation war es zu prüfen, inwiefern die Familienklasse die im Konzept entwickelten Ziele erreicht, welche weiteren Effekte durch das Angebot der Familienklasse bei den Kindern und ihren Eltern erzielt werden und inwiefern sich das Verhältnis der „Unterstützer“ des Kindes verbessert. Außerdem sollte geprüft werden, inwiefern das Konzept auf einen urbanen multikulturellen Kontext in einem von sozialen Verwerfungen geprägten Berliner Kiez übertragbar ist und welche Anpassungen ggfs. vorgenommen werden müssen, um die Wirksamkeit des Konzeptes in diesem sozialen Kontext zu erhöhen. Methodisches Vorgehen Im Rahmen der Evaluation wurden unterschiedliche Methoden angewandt, um die verschiedenen Akteursgruppen und ihr Verhältnis zueinander zu berücksichtigen. Die Auswertung erfolgte anonymisiert anhand der unterschiedlichen Perspektiven (Eltern, Schule, Jugendamt); sie konzentrierte sich also nicht auf individuelle, sondern auf gruppenbezogene Effekte der Familienklasse. Es wurden leitfadengestützte Interviews mit Eltern nach Abschluss (in einem Fall nach Abbruch) der Familienklasse geführt. Der Abschluss der Familienklasse lag bei den Familien zwischen einem Monat und einem Jahr zurück. Mit den Eltern der Kinder aus der laufenden Familienklasse wurde ein Gruppeninterview geführt. Insgesamt konnten so 13 Mütter und Väter von elf Kindern (darunter zwei Mädchen) befragt werden. Der überwiegende Teil der Befragten hatte einen arabischen oder einen türkischen Migrationshintergrund. Dies spiegelt die Zusammensetzung der Schülerschaft an der Grundschule wider, an der laut einer Statistik aus dem Jahr 2011 88,6 % der Kinder keine deutschen MuttersprachlerInnen sind (Kleine Anfrage 2011). Es wurden weiterhin zwei Gruppeninterviews mit acht Klassenlehrerinnen sowie ein Einzelinterview mit der Betreuungslehrerin der Familienklasse geführt. Auch drei Jugendamtsmitarbeiterinnen wurden nach ihrer Wahrnehmung und Bewertung der Maßnahme befragt. Außerdem wurden zwei Hospitationen in der Familienklasse durchgeführt. Einschätzung der Problemlagen aus unterschiedlichen Perspektiven Eltern, Lehrerinnen und Vertreterinnen des Jugendamtes wurden danach gefragt, welche Gründe dazu führten, dass die SchülerInnen mit ihren Eltern an der Familienklasse teilgenommen haben. Alle drei befragten Gruppen beschrieben übereinstimmend Verhaltensauffälligkeiten der SchülerInnen. Diese Auffälligkeiten umfassten unter anderem Störungen des Unterrichts, Konzentrationsschwierigkeiten, Unaufmerksamkeit, keine Akzeptanz von Grenzen und Schulregeln, respektloses Verhalten und verbale Aggressionen, distanzloses Verhalten, körperliche Aggressionen, Wutanfälle, Mangel an Verantwortungsübernahme und an Selbstorganisation (z. B. fehlende Arbeitsmaterialien und Hausaufgaben), Arbeitsblockaden und Arbeitsverweigerung. In der Regel resultierten aus den Verhaltensauffälligkeiten auch Lernschwierigkeiten. Die individuellen Probleme der SchülerInnen waren jedoch jeweils unterschiedlich und umfassten nicht die gesamte aufgeführte Palette an Problemen. 423 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien Lehrerinnen und Jugendamtsmitarbeiterinnen beschrieben darüber hinaus das Problem, dass zu Beginn der Familienklasse in vielen Fällen kaum Kontakt zwischen Schule und Elternhaus bestand und die Eltern kaum in die Schule einbezogen waren. Weiterhin wurden von Jugendamt und Schule übereinstimmend zum einen bei einem Teil der Eltern Tendenzen zu Vernachlässigung als Problemlage in den Familien genannt sowie Strukturlosigkeit in der Erziehung beschrieben. Zum anderen wurde bei einigen Eltern auch die Tendenz zur Überfürsorge gesehen, sodass eine selbstständige Entwicklung der Kinder gefährdet erschien. Einige Kinder haben Gewalterfahrungen in der Familie gemacht. Speziell von einigen migrantischen Eltern wurde der hohe Migrationsanteil in den Klassen als Problem benannt, weil sie die sprachliche Entwicklung ihrer Kinder, die Deutsch als Zweitsprache erlernen, gefährdet sehen. Darüber hinaus wurden von einigen Eltern auch in der Institution Schule selbst Probleme gesehen, z. B. mangelnde Wertschätzung von SchülerInnen und fehlende Berücksichtigung von Elternanliegen. Dokumentation der individuellen Zielerreichung Zu Beginn der Familienklasse werden mit dem Kind max. drei individuelle Arbeitsziele entwickelt. Die Erreichung der Ziele wird von den Klassen- und FachlehrerInnen, den TeilnehmerInnen der Familienklasse und dem/ der SchülerIn auf speziellen Bewertungsbögen bewertet. Auf dieser Grundlage wird eine Wochenpunktzahl ermittelt. Diese intersubjektiv ermittelten Wochenpunktzahlen werden in einen Graphen umgesetzt und dokumentieren so den Grad der individuellen Zielerreichung. Insgesamt lagen zehn Kurven von zehn SchülerInnen, die die Familienklasse abgeschlossen haben, für eine Auswertung im Rahmen der Evaluation vor. Während bei einem Teil der SchülerInnen eher eine kontinuierliche Aufwärtsbewegung zu verzeichnen ist, die von kleinen Schwankungen geprägt ist, gab es bei vier SchülerInnen einen sehr bewegten Kurvenverlauf mit starken Auf- und Abwärtsbewegungen. Dies macht deutlich, dass die Entwicklung der Kinder nicht aufsteigend linear erfolgt, sondern von Höhen und Tiefen geprägt ist. Veränderungen des Sozialverhaltens der SchülerInnen Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die meisten Eltern eine positive Bilanz zogen. Auch wenn von einigen Eltern die Entwicklung als noch nicht stabil eingeschätzt wird, ist jedoch grundsätzlich eine positive Veränderung zu verzeichnen. Diejenigen Eltern, deren Kinder erst seit ca. einem Monat die Familienklasse besuchen, konnten zu möglichen Veränderungsprozessen noch nichts sagen, weil sie Aussagen hierzu noch als zu früh empfanden oder weil ihnen die Rückmeldung der Lehrerin fehlte. Eine negative Bilanz zogen die Eltern des Jungen, der die Familienklasse aufgrund gesundheitlicher Probleme der Mutter vorzeitig abbrechen musste, da der Sohn sich zwar in der Familienklasse selbst gut an die Regeln halten konnte, aber der Transfer in die Regelklasse ausblieb. Viele Lehrerinnen konnten positive Veränderungen bei den SchülerInnen beschreiben, solange die Maßnahme stattfand. Zu diesen positiven Effekten gehörten u. a. eine verbesserte Konzentration im Unterricht, eine stärkere Eigenkontrolle, das Erlernen von alternativen Handlungsstrategien bei Provokationen durch andere, ein stärkeres Selbstbewusstsein, ein Einhalten der Klassenregeln und die Akzeptanz von Grenzen. 424 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien Weiterhin hat die Familienklasse nach Ansicht einiger Lehrerinnen bei einigen SchülerInnen Selbstreflexionsprozesse in Gang gesetzt, die noch über die Dauer der Maßnahme hinausreichen und das eigene Sozialverhalten, aber auch das Lernverhalten betreffen. Die SchülerInnen haben so gelernt, Frustrationen vorzubeugen, indem sie ihre Stärken und Schwächen besser einschätzen können. Die Mehrheit der Lehrerinnen konnte bislang keine dauerhaften Verhaltensänderungen bei den SchülerInnen feststellen; vielmehr wurde der (zeitweilige) Rückfall in alte Verhaltensmuster beschrieben. Allerdings muss hier einschränkend gesagt werden, dass einige Lehrerinnen aufgrund von Lehrerwechsel, von Wechsel auf die weiterführende Schule oder weil die SchülerInnen die Familienklasse gerade erst abgeschlossen hatten, diese Frage nicht beurteilen konnten. Einige Lehrerinnen waren der Meinung, dass die Maßnahme länger dauern müsste oder eine Weiterarbeit mit Eltern und SchülerInnen auch außerhalb des schulischen Rahmens erfolgen sollte, um stärkere Effekte zu erzielen. Effekte der Familienklasse auf das Verhältnis zwischen Eltern und Schule Ein Teil der Befragten - und dies betrifft Eltern, Lehrerinnen und Jugendamt - hat positive Veränderungen bezüglich des Verhältnisses zwischen Eltern und Schule durch die Familienklasse wahrgenommen. Zu diesen positiven Effekten gehören erstens die Verbesserung des Kontaktes zwischen Eltern und Lehrerin und daraus folgend auch eine bessere Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus mit dem Ziel, das Kind in seiner Entwicklung zu unterstützen. Zweitens erhielten die Eltern einen besseren Einblick in den Ablauf des Schulalltags mit seinen Anforderungen und können so die Kinder besser unterstützen. Drittens entwickelten einige Eltern eine realistischere Perspektive auf das eigene Kind und können Aussagen des Kindes nun besser einschätzen. Viertens fand bei einigen Eltern ein Perspektivwechsel statt und sie können die Lehrerin besser verstehen und ihre Arbeit stärker wertschätzen, da sie nachvollziehen können, wie schwierig die Arbeit unter den gegebenen Bedingungen ist. Fünftens erhielten einige Lehrerinnen einen besseren Einblick in familiäre Strukturen und sechstens konnten zumindest einige von ihnen neue Ressourcen bei den Eltern entdecken. Damit konnte das Ziel der Verbesserung der Kooperation zwischen Schule und Elternhaus für einen Teil der Eltern erreicht werden. Nach Einschätzung des anderen Teils der befragten Eltern und Lehrerinnen haben sich durch die Familienklasse keine Veränderungen im Verhältnis von Schule und Eltern ergeben, da entweder das Verhältnis schon vor der Familienklasse gut war oder die Probleme im Kontakt auch durch die Familienklasse nicht gelöst werden konnten oder die Befragten dazu keine Angaben machten bzw. aufgrund von Lehrer- und Schulwechsel keine Aussagen dazu machen konnten. Effekte der Familienklasse auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Familienklasse eine gemeinsame positive Erfahrung für Eltern und Kind war, da die Kinder von ihren Eltern während der Familienklasse viel Aufmerksamkeit, aber auch Unterstützung und Geborgenheit erfuhren. Dies gilt für alle Familien, die an der Familienklasse teilnahmen bzw. teilnehmen. Bei einigen Eltern konnte zudem auch noch ein verbessertes Verständnis für das eigene Kind festgestellt werden und es kam auch zu einer Intensivierung der Beziehung durch größere 425 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien Aufmerksamkeit und größere Konzentration auf das Kind. Diese Eltern übernahmen mehr Verantwortung, indem sie ein größeres Interesse für das Kind und sein Verhalten zeigten. Dies ist ein Effekt, der über den Besuch der Familienklasse hinaus in den Alltag der Familien hineinreicht und zu einer Verhaltensänderung bei einigen Eltern geführt hat und insofern als besonders wichtig einzuschätzen ist. Die Mehrzahl der Eltern reflektierte jedoch keine Veränderung in der Beziehung zu ihren Kindern, insbesondere mit dem Argument, dass das Verhältnis auch vorher schon gut gewesen sei. Effekte der Familienklasse auf die Erziehungskompetenzen der Eltern Einige Eltern haben in der Familienklasse gelernt, mehr Verantwortung für die Entwicklung ihrer Kinder zu übernehmen, und haben eine Stärkung ihrer Elternrolle erfahren. Sie erlebten sich in der Familienklasse selbst als wirksam, weil sie ihre Kinder unterstützen können. Bei einer Mutter hat zudem eine verstärkte Selbstreflexion eingesetzt, die sie auf die Familienklasse zurückführt. Der überwiegende Teil der Eltern reflektierte jedoch keine Stärkung ihrer Erziehungskompetenzen. Anders als die Fachkräfte, die den Aspekt des gegenseitigen Lernens als besonders wichtig am Konzept der Familienklasse herausstellten, beschrieben zwar einige Eltern, dass dies in der Familienklasse stattfand, sie beschrieben jedoch keine konkreten Erfahrungen der Unterstützung durch andere Eltern. So entsteht der Eindruck, dass das Potenzial des Ansatzes der Familienklasse, insbesondere des methodischen Ansatzes im Sinne der Multifamilienarbeit, noch nicht voll ausgeschöpft wird. Hier setzt auch die Empfehlung von den Fachkräften aus dem Jugendamt an, die sich eine verstärkte Arbeit an den Erziehungskompetenzen der Eltern wünschen, z. B. durch zusätzliche methodische Bausteine. Dies empfiehlt auch ein Teil der Lehrerinnen. Zu den weiteren Effekten der Familienklasse auf die Eltern gehört, dass einzelne Eltern betonten, dass sie neue Kontakte zu anderen Eltern knüpfen konnten, was z. B. zwei Müttern half, eine gemeinsame Strategie im Umgang mit Konflikten ihrer Kinder zu entwickeln. Einbeziehung der Lehrerinnen in die Familienklasse Für die Lehrerinnen besteht die Möglichkeit, in der Familienklasse zu hospitieren. Dies wurde grundsätzlich als sinnvoll erachtet. Einige Lehrerinnen konnten jedoch nicht in der Familienklasse hospitieren. Mit einem vollen Stundenplan war bzw. ist es für die Lehrerinnen schwer, Hospitationen zeitlich zu organisieren. Auch war nicht allen Lehrerinnen die Möglichkeit zur Hospitation tatsächlich bewusst. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass aus den Rückmeldungen der Lehrerinnen deutlich wird, dass die Einbeziehung der Lehrerinnen in die Familienklasse noch verbessert werden kann. Dazu wurden konkrete Vorschläge gemacht, wie z. B. regelmäßige gemeinsame Treffen zwischen KlassenlehrerInnen und TrainerInnen der Familienklasse. Einbeziehung des Jugendamtes in die Familienklasse Die Rückmeldungen der Lehrerinnen zur Kooperation mit dem Jugendamt sind unterschiedlich. Gibt es bei einigen Lehrerinnen einen engen Kontakt zum Jugendamt, ist dieser bei anderen auf die bloße Berichtsverfassung beschränkt. Spiegelbildlich berichten die Mitarbeiterinnen des Jugendamtes ebenfalls, dass der Kontakt zur Schule personenbezogen unterschiedlich gut verläuft. Die Familienklasse wurde von einem Jugendamt als „Türöffner“ bezeichnet, da durch die 426 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien Maßnahme die Hemmschwelle gesenkt wird, weitere Maßnahmen in Anspruch zu nehmen, und den Eltern die Angst vor dem Jugendamt genommen wird. Dies führt allerdings dazu, dass Maßnahmen, die die Problemlage der Familien intensiver bearbeiten können, erst nach Abschluss der Familienklasse bzw. erst nach eingehender Problem- und Bedarfsanalyse nach Beginn der Familienklasse eingesetzt werden können. Die Zusammenarbeit des Jugendamtes mit dem Träger der Familienklasse verläuft gut. Die Eltern äußerten sich nicht sehr ausführlich zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt. Die beiden Eltern, die sich dazu äußerten, sprachen von einer guten Zusammenarbeit. Aufgrund der vorliegenden Ergebnisse lassen sich allerdings nur schwer Aussagen dazu treffen, ob es durch die Familienklasse gelingt, das Wirkungsdreieck Schule - Eltern - Jugendamt im Sinne einer„wohlwollendenVerantwortungsübernahme“ zu verbessern. Einerseits entsteht der Eindruck, dass die Maßnahme ein mögliches Misstrauen der Eltern gegenüber dem Jugendamt abbaut und sich die niedrigschwellige Maßnahme förderlich auf die Kooperation zwischen Eltern und Jugendamt auswirkt. Andererseits sind die Rückmeldungen zur Kooperation zwischen Jugendamt und Schule sehr divers; hier besteht offensichtlich noch Verbesserungsbedarf in der konkreten Zusammenarbeit. Rückmeldungen zum Konzept und seiner Umsetzung Alle Eltern und auch die befragten SchülerInnen zeigten sich begeistert von der Arbeit der TrainerInnen und der Betreuungslehrerin. In den Interviews entstand der Eindruck, dass insbesondere die wertschätzende Haltung und die Sensibilität der TrainerInnen für die Bedürfnisse der Eltern und Kinder entscheidende Faktoren für diese begeisterte Rückmeldung darstellen. Weiterhin gab es insbesondere von den Lehrerinnen positive Rückmeldungen zur Entwicklung der Arbeitsziele und zu dem Einsatz der Bewertungsbögen. Erstens ermöglichen die Bewertungsbögen eine Kontrolle und Bewertung der Arbeitsziele nicht nur am Tag der Familienklasse, sondern auch während der restlichen Schultage in der Regelklasse. Die Bewertungsbögen stellen einen Gesprächsanlass dar; für die LehrerInnen besteht dadurch die Möglichkeit, die SchülerInnen an ihr Arbeitsziel zu erinnern. Zweitens ergibt sich für die Lehrerinnen die Notwendigkeit, sich jeden Tag kurz mit dem/ der SchülerIn zu beschäftigen und sein/ ihr Verhalten zu bewerten und gemeinsam mit dem/ der SchülerIn zu reflektieren. Dadurch entsteht ein regelmäßiger persönlicher Kontakt. Drittens können die Lehrerinnen auch den/ die SchülerIn um eine Selbsteinschätzung bitten. Viertens bietet der Bewertungsbogen auch die Möglichkeit für die Klassenlehrerinnen, durch die Bewertung der anderen LehrerInnen einen Einblick zu erhalten, wie der/ die SchülerIn sich in den anderen Stunden verhält; gleichzeitig ermöglicht es den Eltern einen Einblick in das Verhalten und die Entwicklung des/ der SchülerIn. Als besonders positiv am Konzept der Familienklasse wurde von unterschiedlichen Befragten aus Schule und Jugendamt hervorgehoben, dass durch die Familienklasse die Schule für die Eltern erlebbar gemacht wird, da sie regelmäßig zur Schule kommen und einen Einblick in das Schulgeschehen erhalten. Auch wurde die bereits ausgeführte Förderung des realistischeren Blicks auf das Kind als wichtiger Aspekt des Konzepts betont. Auch die Aspekte des Konzeptes, die der Multifamilientherapie entlehnt sind, wurden als besonders wichtig hervorgehoben: die gegenseitige Unterstützung der Eltern und das Feedback zum Verhalten der Eltern gegenüber dem eigenen Kind, das als effektiver eingeschätzt wird als ein Feedback von Fachkräften, sowie das gegenseitige Beobachten der Kinder und die Übernahme von temporären Patenschaften. 427 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien Einige Lehrerinnen merkten an, dass die Maßnahme zu kurz ist, um langfristige Veränderungen zu erzielen, und deshalb mindestens ein Jahr dauern sollte. Eine Jugendamtsmitarbeiterin schätzte an der Maßnahme allerdings gerade die kurzfristige Impulsgebung. Zum konkreten Ablauf der Familienklasse gab es einige Rückmeldungen von den Eltern. Die wichtigste kritische Rückmeldung, die von fast allen Eltern kam, war die, dass das Sitzen neben dem Kind, während das Kind die schulischen Aufgaben zu bewältigen hat, als sehr lang und langweilig empfunden wurde. Aus den Rückmeldungen wurde deutlich, dass die Eltern ihre Rolle als zu passiv und zu reglementiert empfanden und sich mit der Aufgabe nicht ausgelastet fühlten. Es gab den Vorschlag von einigen Eltern, in der Zeit, in der die Kinder an ihren Aufgaben arbeiten, den Eltern in einem separaten Raum die Möglichkeit zu geben, sich auszutauschen und konkrete Probleme gemeinsam zu besprechen. Zudem gab es weitere Vorschläge, die Familienklasse abwechslungsreicher zu gestalten, z. B. über mehr gemeinsame Spiele mit Eltern und Kindern oder die gemeinsame Diskussion von Themen und Problemen. Außerdem wurde vorgeschlagen, mehr Ausflüge als bisher zu machen, damit die Kinder noch besseren Kontakt zueinander bekommen und lernen, sich auch bei einem Ausflug an die Regeln zu halten. Einige Eltern betonten, wie wichtig es war, dass es sich bei den TrainerInnen um ein gemischtgeschlechtliches Team handelte. Die Eltern äußerten zwar nicht den Wunsch nach arabisch- oder türkischsprachigen TrainerInnen, aber aufgrund geringer Deutschkenntnisse war es zumindest für einige Eltern nicht ganz einfach, der Familienklasse zu folgen. Zwar konnten einige Eltern für andere Eltern übersetzen, aber das klappte nicht in allen Fällen. An einigen Ausführungen in den Interviews lässt sich ablesen, dass das Gefühl der Stigmatisierung für zumindest einige der migrantischen Eltern eine große Rolle spielt: Sie hatten nach Aussagen eines Vaters das Gefühl, aufgrund ihrer migrantischen Herkunft für die Familienklasse ausgewählt worden zu sein. Dies wiederum lässt darauf schließen, dass die Eltern entsprechende Diskriminierungserfahrungen im Alltag gemacht haben. Einige Eltern übten Kritik am grundsätzlichen Ansatz der Familienklasse, weil nicht innerhalb der Regelklassen mit den SchülerInnen gearbeitet wird, sondern außerhalb des normalen Unterrichts, was als konzeptionell falsch empfunden wurde. Außerdem schätzten einige Eltern die Problemlagen der Kinder als zu divers ein, um gemeinsam in einer Gruppe daran zu arbeiten. Gesamtbilanz der Befragten In keinem Punkt waren die Befragten sich so sehr einig wie in diesem: Eltern, Lehrerinnen und Jugendamtsmitarbeiterinnen würden die Maßnahme weiterempfehlen, ziehen eine grundsätzlich zustimmende Bilanz und/ oder sind der Meinung, dass die Maßnahme weiter gefördert werden sollte. Auch das Jugendamt möchte die Hilfe weiter einsetzen. Selbst der Vater, der sich kritisch zur Maßnahme äußerte und bei seinem Sohn keine Erfolge sah, gab die Rückmeldung, dass er die Maßnahme schon empfehlen würde, auch wenn sie für seinen Sohn nicht das Richtige war. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse der Familienklasse aus Sicht der Befragten zusammengestellt. ➤ Die Eltern entwickelten einen realistischeren Blick auf das Kind. ➤ Der Kontakt bzw. die Kooperation zwischen Lehrerinnen und Eltern hat sich verbessert. ➤ Die Eltern wurden sich darüber bewusst, was die Kinder in der Schule leisten müssen, und lernen die Strukturen der Schule kennen. ➤ Die Eltern lernten die Arbeit der Lehrer kennen und wertschätzen. 428 uj 10 | 2014 Arbeit mit Familien ➤ Die Familienklasse diente als Gesprächsanlass, Erinnerung und Aufmunterung im Kontakt mit den Eltern (Schule). ➤ Die Eltern wurden in ihrer Freizeit aktiver und kümmerten sich mehr um das Kind (Schule). ➤ Es gab positive Entwicklungen bei den Kindern. ➤ Weitere Gewaltmeldungen der Schule blieben aus. ➤ Die Kontakte zu anderen Eltern haben sich verbessert. ➤ Die Eltern konnten ihre Deutschkenntnisse anwenden. ➤ Schule und Jugendhilfe arbeiteten zusammen und konnten sich in ihren unterschiedlichen Kompetenzen ergänzen. ➤ Bei den Eltern gab es eine steigende Bereitschaft, weitere Hilfen anzunehmen. Bei den hier aufgeführten Aussagen handelt es sich zum Teil um einzelne Statements; eine Gewichtung ist nur schwer zu vollziehen, da nicht alle InterviewpartnerInnen die explizite Frage nach den wichtigsten Ergebnissen der Familienklasse beantwortet haben. Auffällig ist, dass insbesondere die Verbesserung des Verhältnisses zwischen Eltern und Lehrerinnen, der verbesserte Einblick in die Schulstrukturen und die realistischere Einschätzung des eigenen Kindes im Mittelpunkt der Rückmeldungen standen. Handlungsempfehlungen Zentrale Handlungsempfehlungen beziehen sich auf folgende Punkte: ➤ Stärkere Einbeziehung der Schule in die Familienklasse Es ist sinnvoll, die Schule stärker als bisher in die Familienklasse einzubeziehen, insbesondere durch konkrete und strukturell verankerte Maßnahmen sowie mehr Transparenz (z. B. Endauswertung mit den Lehrer/ innen). Es ist möglich, dass eine stärkere Einbeziehung der LehrerInnen in die Familienklasse dazu führt, dass positive Veränderungen bei SchülerInnen und Eltern stärker wahrgenommen werden. ➤ Intensivierung der Arbeit mit den Eltern Die Ergebnisse zeigen, dass die Arbeit mit den Eltern in der Familienklasse intensiviert werden kann, um die Wirkungen der Familienklasse bei den Eltern zu verstärken. ➤ Stärkere Berücksichtigung von Diversity und Reflexion des Gefühls von Stigmatisierung Einige Rückmeldungen von Eltern zeigen, wie wichtig die Berücksichtigung von Vielfalt in der Familienklasse ist, gerade weil die Schule selbst bezüglich ihres Personals sehr homogen aufgestellt ist. Dies spricht für den Einsatz eines möglichst vielfältigen Trainerteams. ➤ Weiterführung des pädagogischen Ansatzes in der Schule Um nachhaltigere Effekte zu erzielen, sollte der pädagogische Ansatz der Familienklasse auch über die Familienklasse hinaus weitergeführt werden. Das umfasst z. B. die Weiterführung der Bewertungsbögen durch die Schule. Victoria Schwenzer Camino gGmbH Boppstraße 7 10967 Berlin victoriaschwenzer@camino-werkstatt.de Literatur Asen, E., Scholz, M. (2009): Praxis der Multifamilientherapie. Carl Auer, Heidelberg Bracht, K. (2012): Die Multifamilientherapie (MFT) und die Familienklasse. Neue Angebote als ambulante Hilfen zur Erziehung. Unsere Jugend 64, 325 - 331 familie e. V. (Hrsg.) (2011): Jahresbericht 2011 zu „Multifamilienarbeit“. Berlin Kleine Anfrage vom 17. Mai 2011, Drucksache 16/ 15485 Schwenzer, V. (2013): Evaluation der Familienklasse. Evaluationsergebnisse zu einem Angebot von familie e. V. Berlin