eJournals unsere jugend 66/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2014.art53d
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2014
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Das Netzwerk als Identitätsschmiede?

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2014
Stefan Fischer
Um auf aktuelle Anforderungen, die das Thema Familie an die Fachlichkeit stellt, strukturierter und schneller reagieren zu können, und um Familienthemen aktiv zu gestalten, wurde im Stadtjugendamt München eine Projektgruppe "Familie" eingesetzt, die unterschiedliche Organisationsmodelle überprüfte und sich für das Organisationsmodell eines Netzwerkes entschied.
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429 unsere jugend, 66. Jg., S. 429 - 435 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art53d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Stefan Fischer Jg. 1954; Dipl.-Sozialpädagoge (FH), Leiter der Abteilung Kinder, Jugend und Familie beim Stadtjugendamt München, im ersten Jahr Geschäftsführung des Netzwerks Familie Das Netzwerk als Identitätsschmiede? Um auf aktuelle Anforderungen, die das Thema Familie an die Fachlichkeit stellt, strukturierter und schneller reagieren zu können, und um Familienthemen aktiv zu gestalten, wurde im Stadtjugendamt München eine Projektgruppe „Familie“ eingesetzt, die unterschiedliche Organisationsmodelle überprüfte und sich für das Organisationsmodell eines Netzwerkes entschied. Viele Bereiche der öffentlichen Verwaltung sind gekennzeichnet durch eine zunehmende Differenzierung der Arbeitsfelder und eine steigende Komplexität der Organisationsstruktur. Dies trifft im sozialen Bereich insbesondere auf die öffentliche Jugendhilfe zu, die vielerorts eine sehr differenzierte und komplexe Struktur entwickelt hat. Bedingt ist dies zum einen durch die fachliche Entwicklung, die zunehmende Spezialisierung, zum anderen aber auch durch die Ideen des „Neuen Steuerungsmodells“, die, entgegen der ursprünglichen Absicht, nicht dazu beigetragen haben, öffentliche Organisationsstrukturen zu vereinfachen. Die Jugendämter haben sich häufig aus der unmittelbaren Leistungserbringung zurückgezogen und sich auf Aufgaben der Steuerung, Koordination und Finanzierung konzentriert. Gleichzeitig ist das Personalvolumen der kommunalen Jugendämter seit 1994 um über 20 % gestiegen (BMFSFJ 2013, 288, 291). Für große Kommunen ist es eine Herausforderung geworden, die differenzierteren Angebote und Aktivitäten zu koordinieren und zu bündeln. Allerorts laufen Bemühungen, die „Versäulung“ der Angebote zu überwinden. Für Leitung und Mitarbeiterschaft stellt sich auch die Frage, wie in strukturell und fachlich so ausdifferenzierten Organisationen eine gemeinsame Identität bewahrt werden kann, die die Organisation zusammenhält und ebenso die Vielfalt der zu steuernden Angebote. Der Artikel beschreibt, wie es gelingen kann, den Problemen der Koordination und Identitätsbildung mit einem Netzwerk innerhalb einer hierarchisch gegliederten öffentlichen Verwaltung zu begegnen. Ausgangslage Das Stadtjugendamt München ist zuständig für eine Großstadt mit 1,4 Mio. EinwohnerInnen. Das Amt hat ca. 1.000 MitarbeiterInnen. Es ist gegliedert in fünf Abteilungen mit je- 430 uj 10 | 2014 Das Netzwerk Familie weils fünf bis 15 Untergliederungen. Im Zuge der Einführung des neuen Steuerungsmodells wurde vor ca. 10 Jahren eine Trennung von operativen Aufgaben und Steuerungsaufgaben vollzogen. Die Leistungserbringung für viele Aufgaben und Arbeitsfelder ist an freie Träger vergeben, so arbeitet das Jugendamt kontinuierlich mit ca. 400 Trägern und Einrichtungen zusammen. Auch der Allgemeine Sozialdienst bzw. die Bezirkssozialarbeit ist nicht Teil des Jugendamtes, sondern in einer getrennten regionalen Struktur organisiert, wird aber in seiner Aufgabenwahrnehmung im Rahmen der Jugendhilfe vom Jugendamt gesteuert. Das Jugendamt ist wiederum Teil einer Stadtverwaltung mit 30.000 MitarbeiterInnen, gehört dem Sozialreferat an, einem Referat mit vier Ämtern und mit ca. 3.000 MitarbeiterInnen. Problemstellung und Gründung des Netzwerks Familie Alle Abteilungen des Stadtjugendamtes München sind mit dem Thema Familie inhaltlich befasst. Jede Abteilung, jede Untergliederung bearbeitet dabei einen anderen Aspekt, hat unterschiedliche Vorstellungen von Problemen, die Familien betreffen, bietet unterschiedliche Unterstützungsmöglichkeiten an, hat unterschiedliche Zugänge zu den Familien. Gerade die Diskussionen zum Thema Kinderschutz in der Jugendhilfe haben nochmals dazu beigetragen, die Angebote und Zugänge zu Familien weiter zu differenzieren und zu entwickeln. Vor ca. zwei Jahren begann in der Organisation eine Diskussion darüber, wie die Organisationsstruktur des Jugendamtes verändert werden könnte, um auf Anforderungen, die das Thema Familie an die Fachlichkeit stellt, strukturierter und schneller reagieren zu können. Eine Projektgruppe „Familie“ wurde eingesetzt, diskutierte und prüfte unterschiedliche Organisationsmodelle einer neuen Linienorganisation: die Bildung neuer Sachgebiete, die Bildung einer neuen Abteilung, die Zusammenführung von Steuerung und operativen Angeboten sowie die Verstärkung einer Stabstelle in Bezug auf dieses Thema. Letztendlich entschied sich die Projektgruppe für das Organisationsmodell eines Netzwerkes und führt zur Begründung im Projektbericht an: „Eine Netzwerkorganisation ermöglicht Familienthemen aktiv zu gestalten - ohne dass auf Zuständigkeiten der Organisation Rücksicht genommen werden muss. … Die Netzwerkorganisation setzt nicht an einer Umstrukturierung der Linienorganisation an, sondern es werden Themen und Ziele für den Themenbereich Familie definiert, die über eine - teilweise neu zu etablierende - Gremien- und Kommunikationsstruktur erarbeitet werden“ (Hauber 2011, 2). Der Vorschlag der Projektgruppe überzeugte das Leitungsgremium des Jugendamtes. Anfang 2012 wurde das Netzwerk Familie im Stadtjugendamt etabliert. TeilnehmerInnen sind Vertretungen aller Abteilungen des Jugendamtes. Auftrag und Struktur des Netzwerkes Familie Das Netzwerk hat die Aufgabe, die Aktivitäten des Jugendamtes zum Thema Familie zu bündeln, Aufträge zu koordinieren, Vorschläge für neue Planungen zu entwickeln und insgesamt das Thema Familie in der Stadt fachlich weiterzuentwickeln. Insofern soll das Netzwerk auch Vorschläge für eine strategische Ausrichtung der Aktivitäten zum Thema Familie erarbeiten, Prioritäten vorschlagen und in der Lage sein, schnell auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Das Netzwerk des Jugendamtes bildet keine eigenständige Organisationseinheit. Die Teil- 431 uj 10 | 2014 Das Netzwerk Familie nehmerInnen vertreten verantwortlich ihre jeweilige Abteilung und können in dieser Funktion eigenständig Entscheidungen in der Arbeitsgruppe treffen. Sie informieren die Abteilungen über Entwicklungen und Entscheidungen des Netzwerkes und übernehmen die Verantwortung für die Weitergabe von Aufträgen. Die Umsetzung von Aufträgen erfolgt wiederum in der Verantwortung der einzelnen Abteilungen. Das Netzwerk ist dazu aufgerufen, einvernehmlich zu entscheiden. Bei Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Netzwerkes bzw. bei einer Meinungsdifferenz mit den Leitungen der Abteilungen entscheidet formell die Amtsleitung. In der Praxis ist dies allerdings bisher nicht notwendig gewesen. Die Geschäftsführung des Netzwerkes rotiert, sie wird jeweils für ein Jahr abwechselnd von jeder Abteilung des Jugendamtes wahrgenommen. Die Moderation übernimmt die jeweilige Abteilungsleitung. Die geschäftsführende Abteilungsleitung informiert auch Amtsleitung und Führungsebene des Jugendamtes. Das Netzwerk Familie als Wissenspool und Ratgeber Im ersten Jahr wurde viel Zeit darauf verwendet, eine Bestandsaufnahme aller Aktivitäten im Jugendamt zum Thema Familie zu machen. Dabei wurde deutlich, dass es viele sich überschneidende Arbeitsaufträge gibt, einige sind deckungsgleich, andere widersprechen sich. Vor allem wurde deutlich, wie wenig über die Details der bisherigen Arbeit zum Thema Familie in den einzelnen Organisationseinheiten im Jugendamt untereinander bekannt ist, obwohl innerhalb des Amtes viel Wert auf die Kommunikation der Abteilungen untereinander gelegt wird und eine gute kollegiale Zusammenarbeit herrscht. In Organisationen dieser Größe, auch in der öffentlichen Verwaltung, braucht es neben den Hierarchiewegen zunehmend auch organisierte horizontale Wege der Kommunikation, um Informationen zu koordinieren und Themen zu entwickeln. Wie sich gezeigt hat, ist es die Stärke des Netzwerks, abteilungsübergreifend zu priorisieren, strategisch zu planen und innovativ auf Situationen reagieren zu können. Das Netzwerk hat sich zu einem Klärungs- und Entwicklungsforum für fachliche Fragen der einzelnen TeilnehmerInnen aus den Abteilungen entwickelt. Zum einen kann das Netzwerk als Wissenspool genutzt werden. Zum anderen dient es auch als Ratgeber bei Unklarheiten über das weitere Vorgehen. Das Netzwerk bietet durch seine Struktur schnelle, zeitnahe und abteilungsübergreifende Kooperationszusammenschlüsse für die Themen. Es hat selbst eine feste Kommunikationsstruktur. Die Gruppe trifft sich regelmäßig einmal im Monat für drei Stunden. Das Netzwerk schafft so eine Art Matrixstruktur: quer zu den bestehenden Abteilungen wird eine virtuelle Abteilung Familie geschaffen. Das Netzwerk Familie als Identitäts-Schmiede Identitätsfragen wurden bei der Auftragserteilung nicht diskutiert, sie nahmen und nehmen aber im Netzwerk, eher unausgesprochen, eine zentrale Rolle ein. Die entsprechenden Fragen bezogen sich zunächst auf die Struktur des Netzwerkes und auf seine Rolle im Gesamtsystem: Was ist das Netzwerk, wer sind wir, was wollen wir, was ist unsere Rolle für die Abteilung, für das Jugendamt, wie selbstständig sind wir, wie viel Einfluss und Macht haben wir, was können wir bewirken? 432 uj 10 | 2014 Das Netzwerk Familie Diese Fragen spielten zu Anfang eine große Rolle, flackern im Prozess, auch nach einem Jahr, immer wieder auf. Sie werden stets neu beantwortet. Das Netzwerk bestimmt seine Funktion und seine Rolle im Gesamtsystem in der jeweiligen Situation immer wieder neu. Dies unterscheidet das Netzwerk von einer Abteilung, von einer Linienorganisation. Die Identität des Netzwerkes ist insofern fließend.„Netzwerkförmige Organisationen sind immer eines und viele zugleich“ (Glatze/ Lieckweg 2012, 22). Die verschiedenen Abteilungen des Jugendamtes arbeiten, wie eingangs erwähnt, mit sehr unterschiedlichen Aufträgen und unterschiedlichen Perspektiven an dem Thema Familie. So ist das Netzwerk auch der Ort, an dem Identitätsfragen des Jugendamtes diskutiert, geklärt und entwickelt werden: Wofür steht das Jugendamt bezüglich der Familien, was sind seine Wertvorstellungen, seine Prioritäten zwischen Wächteramt und Unterstützungsangebot für alle? Im Rahmen der fachlichen Diskussion zwischen den verschiedenen Abteilungen werden kontinuierlich Wertfragen, Ziele, Prioritäten diskutiert und entschieden. Das Netzwerk liefert so „nebenbei“ immer wieder Entwürfe für die Identität des Amtes. „Identitätsbildung ist in netzwerkförmigen Organisationen somit ein permanentes Thema und stellt sie vor die Aufgabe, kontinuierlich an der Reproduktion einer gemeinsamen Konstruktion von Identität zu arbeiten - und dies vor dem Hintergrund sehr verschiedener Ausgangssituationen in den jeweiligen Organisationen, die das Netzwerk bilden“ (Glatze/ Lieckweg, 2012, 22). Von den TeilnehmerInnen wurde dieser Prozess erlebt als ein Schritt vom „Ich zum Wir“, von der Abteilung zum Jugendamt, vom „Häuserdenken zum Themendenken“. Das Netzwerk als Parallelteam Die Strukturen in der Arbeitswelt, in Betrieben, auch in Non-Profit-Organisationen, haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten entscheidend verändert. Häufige Umorganisationsprozesse, schnell aufeinander folgende Veränderungen, der Zwang zu Einsparungen haben zu anderen Formen des Zusammenarbeitens geführt. Auch Teams und andere Organisationseinheiten, im Non-Profit-Bereich oder im öffentlichen Dienst, sind gezwungen, ihre Strukturen schnell Veränderungen anzupassen, sind weniger stabil, sind kurzlebiger geworden. Die Heterogenität von Aufgaben und die Spezialisierung einzelner MitarbeiterInnen haben zugenommen. Teams bzw. Organisationseinheiten, in denen alle in etwa den gleichen Arbeitsauftrag haben, alle gemeinsam ein Ergebnis erarbeiten und all dies auch noch in einer seit Jahren kontinuierlichen Zusammensetzung, sind selten geworden. Feste Teams und Gruppierungen lösen sich zugunsten von losen Strukturen auf. Das Team ist oftmals ein formeller Zusammenschluss von Einzelindividuen mit sehr unterschiedlichen Arbeitsaufträgen und immer weniger fachlichen Berührungspunkten. Die Verantwortung für die/ den Einzelne/ n wird größer, der individuelle Zwang zum Erfolg steigt, der Rückhalt und die Unterstützung durch die TeamkollegInnen lässt zwangsläufig nach. Geißler (2006, 19ff ) nennt dies die Entwicklung zur „Ich-AG im Betrieb“. Für die Teammitglieder bedeutet dies Vereinzelung. Sie haben weniger Gelegenheit, sich kollegial über Themen auszutauschen, vertraulich Rat zu suchen, finden immer weniger Gelegenheit, sich am Beispiel anderer zu orientieren. Für einige mag dies mehr Freiheit bedeuten, für viele bedeutet es mehr Verunsicherung, mehr psychische Belastung (Kraus/ Edding 2006, 7ff ). Für die TeilnehmerInnen des Netzwerkes eröffnet diese Organisationsstruktur einen Ersatz für einen verlorengegangenen Teamzusammenhang: Hier finden sie KollegInnen, die am glei- 433 uj 10 | 2014 Das Netzwerk Familie chen Thema arbeiten, die Zeit für einen Austausch, für einen Rat haben, mit denen Verantwortung für eine Entscheidung geteilt werden kann. Führung ohne Macht? Das Netzwerk Familie ist keine neue Organisationseinheit im Amt. Es gibt keine Leitung des Netzwerkes, die verantwortlich Entscheidungen trifft. Gleichwohl trifft das Netzwerk Entscheidungen, erarbeitet Vorschläge, erteilt Arbeitsaufträge, nimmt Stellung zu Fachfragen. Insofern kommt der Geschäftsführung des Netzwerkes eine wichtige Rolle zu, sie macht das Netzwerk handlungsfähig. Sie moderiert die Treffen des Netzwerkes, informiert über neue Entwicklungen auf Leitungsebene, argumentiert fachlich und steuert so die Themen und die Entscheidungsfindung, ohne selbst als hierarchische Leitung entscheiden zu können bzw. zu müssen. Die Geschäftsführung des Netzwerkes Familie hat nicht die Verantwortung für die Ergebnisse und die Entscheidungen, sie hat aber die Verantwortung für den Prozess: Sie strukturiert die Diskussionen, treibt die Prozesse voran, drängt auf klare Entscheidungen zu Fragen, stellt die Verbindlichkeit von gemeinsam getroffenen Entscheidungen her und regelt die Kommunikation nach außen. Ein wichtiger Baustein für das Gelingen der Arbeit im Netzwerk in der hierarchischen Struktur ist die Klarheit der Geschäftsführung in dieser Moderationsrolle und der damit verbundenen Haltung. Gelingt es der Geschäftsführung, die eigene Rolle in der Linienorganisation abzulegen, gelingt es auch den TeilnehmerInnen im Netzwerk, das vernetzte fachliche Denken und Handeln in den Vordergrund zu stellen. Das Denken in Abteilungssäulen tritt in den Hintergrund. So sind im Laufe des ersten Jahres schon zwei neue Produkte bzw. Angebote für Familien entstanden, die als Einzelleistungen einer Abteilung nicht möglich gewesen wären: ➤ Die Abteilungen haben eine gemeinsame Datenbank entwickelt, den „Familienwegweiser Online“, der Münchner Familien einen leicht verständlichen Überblick über alle Angebote ermöglicht. In einem zweiten Schritt soll daraus ein interaktives Portal entstehen, in dem Familien sich untereinander über Angebote austauschen können bzw. dem Jugendamt Rückmeldungen und Wünsche mitteilen können. ➤ Die Abteilungen haben eine kleine Broschüre aufgelegt „Gut leben im teuren München“ für Familien mit geringem Einkommen, die keine SGB II-Leistungen erhalten, die aber Schwierigkeiten haben, im teuren München mit ihren Kindern über die Runden zu kommen. Als neue Leistung der Stadt soll Kindern aus diesen Familien z. B. die Möglichkeit eröffnet werden, Schwimmen und Fahrradfahren zu erlernen. Das Netzwerk entdeckt Lücken, die bisher übersehen wurden, und entwickelt pragmatische Lösungen dafür. TeilnehmerInnen: delegiert oder eigenständig? Die Balance zwischen der Zugehörigkeit zur eigenen Abteilung und der Zugehörigkeit zum Netzwerk Familie war und ist für die TeilnehmerInnen eine kontinuierliche Herausforderung. Sie vertreten ihre jeweilige Abteilung, aber auch ihre eigene fachliche Position. Ihre Rolle ist es, die Diskussionen und Entscheidungen des Netzwerks in den Abteilungen deutlich zu machen. Umgekehrt informieren sie im Netzwerk die anderen TeilnehmerInnen über 434 uj 10 | 2014 Das Netzwerk Familie Entwicklungen in ihrem Bereich, aber auch über Meinungen und Einschätzungen zum Thema. Diese Kommunikation unter den TeilnehmerInnen ist es letztlich, die das Netzwerk mit der Linienorganisation verbindet, die Identität in der Organisation schafft, die die Koordination von Abläufen sichert. Aufgabe der Führungskräfte ist es deshalb, dafür zu sorgen, dass die MitarbeiterInnen, die die Organisationseinheit im Netzwerk vertreten, dafür auch die notwendige Aufmerksamkeit und Beachtung erhalten. Lohn und Belohnung für die Arbeit im Netzwerk Familie ist deren Wertschätzung durch Führungskräfte und KollegInnen, aber auch der Spaß an dieser Form der Zusammenarbeit. Als Mitglied der Gruppe müssen die TeilnehmerInnen Kooperation und Konkurrenz der verschiedenen Organisationseinheiten, die oftmals eine lange Tradition aufweisen, wirkungsvoll miteinander verknüpfen - eine Aufgabe, die Distanz zur eigenen Rolle erfordert. Gruppendynamische Aspekte Das Netzwerk Familie ist keine Linienorganisation mit feststehenden Machtstrukturen, festgelegten Rollen und Strukturen. Das Netzwerk ist in vieler Hinsicht eine sich selbst steuernde Gruppe, die Rollen, Funktionen, Macht und Einfluss selbst festlegt und immer wieder verändert. Die Dynamik des „Doppelgesichtes“ eines Arbeitsteams, Arbeitsinstrument versus soziales System (König/ Schattenhofer 2006, 18), wird insofern im Netzwerk besonders deutlich. Ohne Klärung der Zugehörigkeit gibt es keine Gruppenidentität, deshalb muss die Frage der Zugehörigkeit zum Netzwerk eindeutig geklärt sein. So hat sich im Netzwerk Familie innerhalb der ersten drei Monate entschieden, wer dauerhaft dem Kreis angehört. Im Netzwerk gibt es keine formelle Leitung, keine strukturelle Differenzierung. Macht und Einfluss sind nicht durch formelle Rollen festgelegt. Das Auftreten der einzelnen Personen mit ihrer Fachlichkeit, Argumentationsfähigkeit und Konfliktfähigkeit entscheiden über die Position in der Gruppe. Konflikte werden im Netzwerk diskursiv gelöst. Bei Differenzen gibt es keine hierarchisch gesetzte Entscheidungsmacht. Entscheidend für die Konsensfindung ist deshalb neben der Fachlichkeit und Argumentationsfähigkeit auch die Fähigkeit zur Bündnisbildung der/ des Einzelnen. Rolle der Prozessbegleitung In der Phase der Implementierung der Netzwerkgruppe war es die Aufgabe der Prozessbegleitung, Entwicklungen zu beobachten, Feedback zu geben und beratend für die Geschäftsführung und die Gruppe tätig zu sein. Im Fokus der Beobachtung und Reflexion standen die Dynamik in der Gruppe, die Rolle der Mitglieder und der Geschäftsführung, die Gestaltung von Arbeits- und Lernprozessen. Die Erkenntnisse aus der Prozessbeobachtung wurden regelmäßig in Feedback- und Planungsgesprächen mit der Geschäftsführung besprochen und zeitnah in den Gruppenprozess zurückgegeben. Fazit Feste Netzwerke passen nicht in die Logik hierarchischer Strukturen der öffentlichen Verwaltung. Netzwerke durchkreuzen die Organisationslogik. Sie ermöglichen eine andere Form der Kommunikation: Entscheidungen werden anders getroffen, die Leitung und die Hierarchie der Organisation ist an vielen Prozessen weniger beteiligt, verliert an Einfluss- und Kontrollmöglichkeit. Sie gewinnt aber an Fachlichkeit und organisatorischem Lernen. 435 uj 10 | 2014 Das Netzwerk Familie Das Netzwerk führt aber gleichzeitig zu einer dauerhaften Entlastung für beide Seiten: MitarbeiterInnen finden hier fachliche Orientierung, Information und Unterstützung, oft vielleicht ein zusätzliches Team, eine Art paralleles Fachteam. Die Führungskräfte lernen mit dem Netzwerk, erhalten zusätzliche Informationen, werden entlastet in der Entscheidungsfindung und Beratung von MitarbeiterInnen. Das Netzwerk leistet einen wichtigen Beitrag zur Identitätsfindung, es verbindet auf diskursive Weise unterschiedliche Organisationseinheiten und Kulturen innerhalb der Organisation hin zu einem einheitlichen Leitbild. Stefan Fischer Stadtjugendamt München Leiter der Abteilung Kinder, Jugend und Familie Prielmayerstraße 1 80335 München stefan.fischer@muenchen.de Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bundesanzeiger, Berlin Edding, C., Kraus, W. (2006): Ist der Gruppe noch zu helfen? Gruppendynamik und Individualisierung. Barbara Budrich, Opladen Geißler, K.-H. (2006): Vom „Teamwork“ zum „Netzwork“. In: Edding, C., Kraus, W.: Ist der Gruppe noch zu helfen? Gruppendynamik und Individualisierung. Barbara Budrich, Opladen, 19 - 42 Glatzel, K., Lieckweg, T. (2012): Identitätsbildung in netzwerkförmigen Organisationen. In: Organisationsentwicklung 31, 19 - 27 Hauber, R. (2011): Stadtjugendamt München, Projektbericht Netzwerk Familie. Unveröffentlichtes Manuskript. München König, O., Schattenhofer, K. (2006): Einführung in die Gruppendynamik. Carl Auer, Heidelberg Kraus, W., Edding, C. (2006): Vom Wir zum Ich. Individualisierung und Gruppe. In: Edding, C., Kraus, W.: Ist der Gruppe noch zu helfen? Gruppendynamik und Individualisierung. Barbara Budrich, Opladen, 7 - 17 2., überarb. und erw. Auflage 2014. 230 Seiten. 5 Abb. 7 Tab. (978-3-497-02484-1) kt Die biografische Wunde Die Notwendigkeit eines neuen traumaspezifischen Fallverstehens spiegelt sich in dem Erfolg dieses Buches wider, das nach kurzer Zeit bereits in der 2. Auflage erscheint. Die Autorinnen zeigen, wie pädagogische Fachkräfte stabilisierend und ressourcenorientiert mit traumatisierten Menschen arbeiten können, die Traumata durch extrem belastende oder bedrohliche Situationen durchlebt haben, wie z. B. Gewalterfahrungen, Verletzungen, Verlust, Flucht. Neu: Informationen zu dissoziativen Phänomenen, Übungen zur Genussfähigkeit, aktuelle Ergebnisse zur Traumaerfahrung auf Seiten der Fachkräfte. a www.reinhardt-verlag.de