unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2014.art65d
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2014
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Zwischenruf zum Buch von Michael Tsokos und Saskia Guddat „Deutschland misshandelt seine Kinder“
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2014
Dieter Kreft
Die Reduktion von Komplexität ist ein durchaus bewährtes Darstellungsmittel, um höchst komplizierte Sachverhalte gewissermaßen "in einem ersten Verständigungsschritt" vorzustellen.
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501 unsere jugend, 66. Jg., S. 501 - 505 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art65d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dieter Kreft Diplom-Kameralist und Diplom-Pädagoge. Staatssekretär a. D., Honorarprofessor der Leuphana Universität Lüneburg Zwischenruf zum Buch von Michael Tsokos und Saskia Guddat „Deutschland misshandelt seine Kinder“ Die Reduktion von Komplexität ist ein durchaus bewährtes Darstellungsmittel, um höchst komplizierte Sachverhalte gewissermaßen „in einem ersten Verständigungsschritt“ vorzustellen. Das versuchen M. Tsokos und S. Guddat am Beispiel der „Kindesmisshandlung“, indem sie 1) sich auf die gängige Definition von physischen Misshandlungen zurückziehen („eine nicht zufällige körperliche Verletzung eines Kindes infolge von Handlungen von Eltern oder Erziehungsberechtigten“) und nur diese - abgesetzt vom psychischen und sexuellen Missbrauch - in ihrem Titel behandeln; 2) aus rechtsmedizinischer Sicht ein „Debattenbuch“ vorlegen, in dessen Mittelpunkt Fallberichte, Überlegungen und Forderungen zu den unterschiedlichen Formen körperlicher Misshandlungen mit und ohne Todesfolge stehen. Gewissermaßen ein der qualitativen Empirie verpflichtetes Buch (zahlreiche Fallberichte), in dem die beiden AutorInnen vor dem Hintergrund ihrer alltäglichen Berufserfahrungen - sie sind beide Rechtsmediziner der Berliner Charité - fachliche Urteile über alle anderen am Komplex „Kindesmisshandlung“ beteiligten Professionen fällen sowie fachliche und politische Forderungen entwickeln. Zum Inhalt Nach einer bereits sehr skandalisierend aufgebauten Einleitung, die schon den Rahmen für alle folgenden Ausführungen liefert, werden in zwölf Kapiteln diese Einzelthemen behandelt: 1) Generation Kevin - aus Opfern werden Täter 2) Vorkämpferin gegen Kindesmisshandlung: die Rechtsmedizin 3) Ritter mit stumpfen Schwertern: Warum der Kinderschutz versagt 4) Freispruch zweiter Klasse: Das Gesetz schützt die Täter 5) Das Schweigen der Ärzte 6) Friede den Toten - nicht den Tätern 7) Zum Fressen gern: Verletzung der Aufsichtspflicht 502 uj 11+12 | 2014 Zwischenruf zum Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ 8) Der Elterntest - Wunschbild und Wirklichkeit 9) Nicht nur Misshandler haben Rechte: Das Opfer-Entschädigungsgesetz 10) Rechtzeitig helfen - nicht nachträglich reparieren 11) Was sich ändern muss 12) Eingreifen, nicht wegschauen M. Tsokos und S. Guddat haben mich immer dann beeindruckt, wenn sie die Fälle aus ihrer rechtsmedizinischen Praxis beschreiben. Ich konnte ihre Schilderungen kaum ertragen, ihre immer wieder aufblitzende Empörung verstehen, dass so brutale Vorgehensweisen überhaupt möglich sind und dass misshandelte Kinder immer wieder nicht den gebotenen Schutz finden. Ich habe mir auch ihre gelegentlich recht „platten“ Beurteilungen zum Handeln Dritter (etwa der StaatsanwältInnen, RichterInnen, Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe und des Kinder- und Jugendschutzes) zunächst noch damit erklärt. Aber nacheinander: Die Kinder- und Jugendhilfe im Handlungsfeld „Kinderschutz/ Kindesmissbrauch“ In kaum einem anderen Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe sind so viele Akteure beteiligt wie beim Kinderschutz: mindestens Familien (in allen Konstellationen von der Ehebis zur Regenbogenfamilie), Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe (im Jugendamt, in den vielen Einrichtungen und Diensten), JuristInnen (StaatsanwältInnen, RichterInnen, RechtsanwältInnen und RechtsmedizinerInnen) sowie PsychologInnen. Die Tendenz des Buches, die Rechtsmedizin als die allein wissende Profession herauszustellen, hat mich schon etwas verwundert, die gelegentliche Überheblichkeit gegenüber anderen Beteiligten fand ich dann höchst unangemessen und weit über das Ziel hinausschießend. Beispiele? Immer wieder ist mir aufgefallen, dass HelferInnen/ Beteiligte anderer Professionen als „unsympathisch“ (im Sinne von inkompetent, unengagiert), beteiligte PolizistInnen/ RechtsmedizinerInnen hingegen als „sympathisch“ (im Sinne von engagiert und wissend) dargestellt werden. Etwa im Fall Amon (S. 62ff ), im Fall Chantal (S. 92ff ) und schließlich im Unterkapitel „Absichtlich ahnungslos“ dieser Text: „Nicht nur Jugendamtsmitarbeiter und Familienhelfer …, auch die Ärzte in den Kliniken, Staatsanwälte, Richter und Schöffen in Kindesmisshandlungsprozessen legen vielfach eine erschütternde Ignoranz an den Tag. Auf das Schweigen der niedergelassenen Kinderärzte … kommen wir (später) noch ausführlich zu sprechen“ (S. 120). Und auf S. 185 findet sich dieser (mich jedenfalls) provozierende Halbsatz: „… wie das im Jargon der Sozialpädagogen heißt“. Das ganze Unterkapitel „Komplizen der Misshandler“ und „Goldene Tipps für Sadisten“ ist dann geradezu unerhört in seiner undifferenzierten Allgemeinheit: „Ein krasser Fall von Pflichtvergessenheit - und doch sehr viel eher die Regel als die Ausnahme in deutschen Jugendämtern“ (S. 105). Das entspringt nicht mehr verständlicher Empörung, sondern ist pure ignorante Arroganz. Etwas genauer in der Sache Christian Schrapper, ein ausgewiesener Fachkollege, hat die Vielfalt der Aufgaben der MitarbeiterInnen der Kinder- und Jugendhilfe am Beispiel des Allgemeinen Sozialen Dienstes (der i. d. R. für die Fälle von Kindesmissbrauch zuständig wird) einmal so prägnant beschrieben: „Beraten und entscheiden, unterstützen, schützen und kontrollieren, knappe Güter verteilen“ (Schrapper 2013, 59); der Kinderschutz („schützen“) ist eine besonders wichtige Hauptaufgabe des Jugendamtes/ ASD, wie schon ein kurzer Blick in die Aufgabenbeschreibung der §§ 2, 8 a, 8 b SGB VIII zeigt. 503 uj 11+12 | 2014 Zwischenruf zum Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ So versucht „moderner Kinderschutz, die Lebensbedingungen von Kindern und Familien positiv zu verändern, indem er die Eigenkräfte der Familien stärkt, soziale Konflikte und Notlagen erkennt und konkrete Hilfe leistet“ (Wolff 2013, 534). Kinderschutz hat also zwei Aufgaben, die der präventiven Hilfe und bei Gefährdung die Nothilfefunktion (nach Wolff 2013, 531ff ). Und dieser Christian Schrapper (2012, 58ff ) hat in einem überaus gelungenen Beitrag („Kinder vor Gefahren für ihr Wohl schützen“) auch alles das aufgeführt, was Kinderschutz inhaltlich bedeutet und fachlich von den Handelnden fordert: „Werden Lebensumstände eines Kindes bekannt, die Anhaltspunkte für eine akute Gefährdung anzeigen … so muss sofort und umfassend eingeschätzt werden, ob diese Gefahren zuverlässig abgewendet werden können oder das Kind unverzüglich vor diesen Gefahren in Sicherheit gebracht werden muss. Dabei ist allerdings, wie bei allen Kriseninterventionen zu bedenken, dass möglichst wenig zerstört oder verletzt wird, was vor allem Eltern (noch) an Zugängen zum Kind, Vertrauen in die eigene Kompetenz und Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Helfern haben“ (Schrapper 2012, 85). Das genau ist der Kern sozialpädagogischer/ sozialarbeiterischer Professionalität - in Übereinstimmung mit unserer (Verfassungs-) Rechtsordnung. Aber: Das verfassungsrechtlich garantierte Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz/ GG) ist ein sog. pflichtiges Recht und damit primär ein Recht im Interesse und zum Wohl des/ der Minderjährigen. Sind die Eltern nicht willens oder nicht in der Lage, ihrer Elternverantwortung nachzukommen (oder verstoßen sie grob dagegen), tritt die staatliche Schutzpflicht zugunsten des Kindes/ Jugendlichen ein, das sogenannte staatliche Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG). Kinder sind also nicht „schrankenloses Eigentum“ ihrer Eltern (Sorgeberechtigten)! Die immer wieder in der sozialpädagogischen Diskussion betonte Notwendigkeit, auch in Krisensituationen die Bande zu den Eltern möglichst zu erhalten (sinngemäß auch Schrapper zuvor), endet sofort, wenn das Kindeswohl erheblich gefährdet ist. Bei dringender Gefahr ist das Jugendamt sogar verpflichtet, das Kind oder den/ die Jugendliche/ n in Obhut zu nehmen und das Familiengericht anzurufen (§§ 8 a, 42 SGB VIII, § 1666 BGB). Hier ist mit einem weit verbreiteten Missverständnis aufzuräumen: Auch die Inobhutnahme, auch die Herausnahme des Kindes aus seiner Herkunftsfamilie durch richterlichen Beschluss sind schützende Hilfeleistungen der Kinder- und Jugendhilfe/ der Familiengerichte, die überdies unter Umständen überhaupt erst dazu führen, dass anschließend mit den Eltern gearbeitet werden kann. Fast alle Fälle von Tsokos/ Guddat belegen, dass bei einer dringenden Gefahr der Schutz des (schutzlosen) Kindes immer Vorrang vor dem Elternrecht hat. Deshalb gehört ebenfalls zur sozialpädagogischen/ sozialarbeiterischen Kernkompetenz, dass der Kindesschutz bei Gefährdung Vorrang vor einem familienideologischen Rechtsverständnis hat. Also, wie so oft: Einerseits gibt es in diesem Buch sowohl erschreckende Beispiele für Behördenversagen (etwa im Fall Nadine ab S. 105ff - übrigens dafür immer noch exemplarisch der Fall „Kevin aus Bremen“, analysiert von Christoph Hoppensack 2012, 144ff ) als auch viele aus der Erfahrung beider AutorInnen sich begründende Vorschläge unter„Was sich ändern muss“ (ab S. 230) sowie „Eingreifen, nicht wegsehen“ (ab S. 247), die mich überwiegend überzeugt haben: ➤ Jugendämter als Anwälte des Kindes auf gewaltfreie Erziehung ➤ HelferInnen schulen und stärken ➤ Kontrolle der Kontrolleure und Kontrolleurinnen ➤ Wirkungslose „Hilfen“ abschaffen 504 uj 11+12 | 2014 Zwischenruf zum Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ ➤ Ahnungslose EntscheiderInnen aufklären ➤ Begehen durch Unterlassen statt Freispruch zweiter Klasse (vgl. § 13 StGB, weil eine Tat zwar eindeutig begangen wurde, diese sich aber bei zwei Erwachsenen nicht eindeutig einem zuordnen lässt) ➤ Kinderschutzambulanzen einrichten ➤ Leichenschaupflicht bei minderjährigen Verstorbenen ➤ Mehr Realismus im Adoptionsrecht ➤ Krippen und Kitas nach skandinavischem Standard Andererseits ist die sich durch das ganze Buch ziehende Forderung nach „zero tolerance“ gegenüber KindesmisshandlerInnen wohl grundsätzlich richtig (und zudem überaus populär), aber im sozialpädagogischen/ sozialarbeiterischen Handlungsalltag gibt es nicht nur die einfache Lösung „Kind rausnehmen, TäterInnen anzeigen, einsperren“. Der ist tatsächlich viel schwieriger und anfordernder (s. Schrapper oben und den Kasten zuvor). Wenn eine Profession sich urteilsmäßig über eine andere stellt, kann schließlich auch „dummes Zeug“ dabei herauskommen: Ich verweise nur auf die Kritik der AutorInnen an der m. E. (sozialpädagogisch und rechtlich) richtigen Entscheidung im Fall Jenny, den begleiteten (also geschützten! ) Umgang mit dem Vater zu erlauben (S. 202). Abschließend noch zwei Anmerkungen Anmerkung 1: Dass die vielen Daten/ Fakten, die zur permanenten Skandalisierung eingesetzt werden, nicht mit den sehr soliden Daten von KOMDAT, den kommentierten Daten der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik an der TU Dortmund, übereinstimmen und/ oder immer wieder nicht belegt sind, will ich nur erwähnen (früher bereits KOMDAT Oktober 2006 - Sonderheft zum Fall Kevin und neuerlich KOMDAT 3/ 2013). Anmerkung 2: „Jedes Kind hat ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Gewalt gegen Kinder ist kein Kavaliersdelikt und schon gar kein ‚Elternrecht‘, sondern ein strafbares Vergehen - nicht anders als Gewalt gegen erwachsene Menschen“ (Tsokos/ Guddat - gewissermaßen als Schlusswort auf S. 253). Richtig! Die Debatte darum hat allerdings in der Kinder- und Jugendhilfe schon vor vielen Jahren begonnen. Um den sogenannten Osnabrücker Fall (1994 bis 1996 - dokumentiert von Mörsberger/ Restmeier 1997) hat sie begonnen, verstärkt dann durch die spektakulären Fälle von Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung mit Todesfolge seit Ende der 1990er Jahre. Es hat daraufhin über die Fachliteratur (ein gelungenes Beispiel ist das Buch des ISS-Frankfurt/ M. von 2012), im Handeln in den Jugendämtern und in den ASDs, durch Rechtsänderungen (der § 8 a SGB VIII wurde ab 2005 eingeführt, das Bundeskinderschutzgesetz trat am 1. 1. 2012 in Kraft) sowie durch vielfältige Fort- und Weiterbildungen einen erheblichen Professionalisierungsschub gegeben. Gewiss nicht bei allen, das zeigt das Buch von Tsokos/ Guddat an vielen Stellen, aber gewiss bei vielen in Einrichtungen und Diensten um den Kinderschutz herum. Ein fairer Umgang mit den Menschen, die in diesem schwierigen Handlungsfeld tätig sind, wäre m. E. angebracht gewesen - jedenfalls habe ich ihn an vielen Stellen dieses insgesamt wichtigen und provozierenden Buches vermisst. Prof. Dieter Kreft Nürnberg kremie.nuernberg@t-online.de 505 uj 11+12 | 2014 Zwischenruf zum Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ Literatur Hoppensack, C. (2012): Kevins Tod - Ein Fallbeispiel für missratene Kindeswohlsicherung. In: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS) (Hrsg.): Vernachlässigte Kinder besser schützen, Sozialpädagogisches Handeln bei Kindeswohlgefährdung. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München, 144 - 171 Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS) (Hrsg.) (2012): Vernachlässigte Kinder besser schützen. Sozialpädagogisches Handeln bei Kindeswohlgefährdung. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München Mörsberger, T., Restemeier, J. (1997): Helfen mit Risiko. Zur Pflichtenstellung des Jugendamtes bei Kindesvernachlässigung. Dokumentation eines Strafverfahrens gegen eine Sozialarbeiterin in Osnabrück. Luchterhand, Neuwied/ Kriftel/ Berlin Schrapper, C. (2012): Kinder vor Gefahren für ihr Wohl schützen - Methodische Überlegungen zur Kinderschutzarbeit sozialpädagogischer Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS) (Hrsg.): Vernachlässigte Kinder besser schützen, Sozialpädagogisches Handeln bei Kindeswohlgefährdung. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München, 58 - 102 Schrapper, C. (2013): Allgemeiner Sozialdienst. In: Kreft/ Mielenz (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. 7. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 57 - 62 Tsokos, M., Guddat, S. (2014): Deutschland misshandelt seine Kinder. Droemer, München Wolff, R. (2013): Kinderschutz. In: Kreft, D./ Mielenz, I. (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. 7. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 531 - 534 www.dormagen.de/ kinder-jugend-familie/ familien netzwerk/ ? print=1, 10. 6. 2014 Vorschau auf die kommende Ausgabe Sexualpädagogik in der stationären Jugendhilfe Theorie der Sexualpädagogik Sexualpädagogik im Heim Professionelles Handeln in der Sexualerziehung
