unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
111
2014
6611+12
Das Projekt „Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes - Wissenschaftliche Grundlagen“
111
2014
Bianca Bertsch
Regine Derr
Sandra Ebner
Silvia Schürmann
Mike Seckinger
Im Projekt "Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes - Wissenschaftliche Grundlagen" wird die Mehrzahl der Regelungen des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) auf ihre Wirkungen hin untersucht.
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457 unsere jugend, 66. Jg., S. 457 - 465 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art59d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Bianca Bertsch Jg. 1987; Soziale Arbeit M. A., Sozialpädagogin, Sozialarbeiterin B. A., wissenschaftliche Referentin am DJI Das Projekt „Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes - Wissenschaftliche Grundlagen“ Im Projekt „Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes - Wissenschaftliche Grundlagen“ wird die Mehrzahl der Regelungen des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) auf ihre Wirkungen hin untersucht. Der Evaluation liegt die Annahme zugrunde, dass die Umsetzung eines Bundesgesetzes, das so viele unterschiedliche NormadressatInnen hat und in erster Linie vor Ort in originären Zuständigkeitsbereichen von Ländern und Kommunen umgesetzt werden muss, einer gewissen Zeitspanne bedarf, bis sich die Praxis im Sinne des Gesetzes nachhaltig verändert hat. Zudem hatten einige Bundesländer bereits vor dem Inkrafttreten des BKiSchG am 1. 1. 2012 eigene gesetzliche Regelungen zur Verbesserung des Kinderschutzes verabschiedet und Regine Derr Jg. 1970; Dipl.-Soziologin, wissenschaftliche Referentin am DJI Sandra Ebner Jg. 1976; Soziologin M. A., wissenschaftliche Referentin am DJI Dr. Mike Seckinger Jg. 1965; Dipl.-Psychologe, Leiter der Fachgruppe „Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe“ der Abteilung Jugend und Jugendhilfe Julia Zimmermann Jg. 1978; Dipl.-Soziologin, wissenschaftliche Referentin am DJI Silvia Schürmann Jg. 1976; Sozialwissenschaftlerin M. A., wissenschaftliche Referentin am DJI 458 uj 11+12 | 2014 Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes das BKiSchG selbst ist ein Ergebnis fachlicher Diskurse. Deshalb ist es aus methodischen Gründen nicht möglich, einen streng kausalen Zusammenhang zwischen Veränderungen im Kinderschutz und dem BKiSchG herzustellen, zumal sich die Praxis des Kinderschutzes auch unabhängig von gesetzlichen Regelungen weiterentwickelt. Ansatz der Wirkungsevaluation ist es folglich, aufzuzeigen, inwiefern sich die Praxis im Sinne des BKiSchG weiterentwickelt. Das Projekt fokussiert deshalb zwei Dimensionen retrospektiver Gesetzesfolgenabschätzung (Böhret/ Konzendorf 2001): a) zeigt das Gesetz die beabsichtigte Wirkung und b) verfügt es über Akzeptanz bei den NormadressatInnen? Darüber hinaus werden auch mögliche nicht intendierte Wirkungen des Gesetzes in den Blick genommen. Das Projekt ist in der Abteilung Jugend und Jugendhilfe am Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI) in München angesiedelt und wird bis Ende 2015 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert. Es wird in enger Kooperation mit dem Projekt „Jugendhilfe und sozialer Wandel“ am DJI durchgeführt. Methodisches Vorgehen Die große Bandbreite der Regelungen des BKiSchG hat zur Folge, dass zum einen eine Vielzahl unterschiedlicher NormadressatInnen in die Evaluation einbezogen werden muss. Es handelt sich dabei um NormadressatInnen sowohl innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe als auch um solche, die bisher viele, nur wenige oder gar keine Berührungspunkte mit der Kinder- und Jugendhilfe hatten, aber in beruflichem Kontakt mit Kindern bzw. Jugendlichen stehen. Zum anderen beziehen sich die Einzelregelungen auf völlig unterschiedliche Sachverhalte, die zum Teil auch nur einen indirekten Bezug zum Kinderschutz haben, wie zum Beispiel die Regelungen zu § 86 c SGB VIII (Fortdauernde Leistungsverpflichtung und Fallübergabe bei Zuständigkeitswechsel des Jugendamts). Die Evaluation ist als retrospektive Gesetzesfolgenabschätzung angelegt, bei der folgende vier Regelungsbereiche im Zentrum stehen: die Stärkung präventiver Maßnahmen, die Herstellung einer größeren Handlungs- und Rechtssicherheit, die Definition verbindlicher Standards und die Verbesserung der Kooperation all derjenigen Berufsgruppen, die in ihrem beruflichen Alltag mit Kinderschutzfragen zu tun haben. Entlang dieser vier Regelungsbereiche lassen sich Wirkungen im oben dargestellten Sinne beschreiben und es kann aufzeigt werden, inwiefern die vom Gesetzgeber getroffenen Regelungen auf Akzeptanz bei den NormadressatInnen stoßen. Die Auswahl derjenigen Handlungsfelder, die in die Evaluation einbezogen werden, wurde von mehreren Fragestellungen geleitet. Es musste sichergestellt sein, dass zentrale Akteure der Kinder- und Jugendhilfe in die Evaluation einbezogen werden, da ein Großteil der Regelungen des BKiSchG sich auf das Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII) bezieht. Desweiteren war unumstritten, dass auch aus dem Gesundheitswesen verschiedene Akteursgruppen in der Evaluation berücksichtigt werden müssen. Schließlich wurde in der öffentlichen Diskussion zu möglichen Verbesserungen im Kinderschutz gerade dieser Zielgruppe eine besondere Bedeutung zugemessen (Meysen/ Eschelbach 2012; Wiesner/ Mörsberger/ Wapler 2014). Die Schule als ein Ort, an dem Kinder durch den Ausbau des Ganztagesangebots (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 78ff ) immer mehr Zeit verbringen, kann selbstverständlich bei einer solchen Erhebung nicht außen vor bleiben. Als weitere Gruppe wurden die stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe ausgewählt, da diese zum einen durch die Einführung des § 21 (Abs. 1 Nr. 7) SGB IX gezielt angesprochen werden und zum anderen, weil sie als ein Typus von NormadressatInnen angesehen werden können, der auf den Ebenen oberhalb der einzelnen Einrichtung 459 uj 11+12 | 2014 Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes über Strukturen verfügt, die es wahrscheinlicher machen, dass gesetzliche Änderungen auch außerhalb des „Hauptgesetzes“ zur Kenntnis genommen werden. Als eine weitere Gruppe wurden die BerufsbetreuerInnen in die Studie einbezogen, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit Einblick in innerfamiliäre Beziehungen haben und möglicherweise relativ frühzeitig von Entwicklungen Kenntnis erhalten, die eine Kindeswohlgefährdung darstellen können. Zudem arbeiten sie überwiegend selbstständig und sind kaum in überregionale Strukturen eingebunden, was die Kenntnisnahme der gesetzlichen Änderungen erschweren dürfte. Beschreibung der Einzelerhebungen Die Hinweise zum methodischen Vorgehen machen deutlich: Es wurde für das Projekt „Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes - Wissenschaftliche Grundlagen“ ein multiperspektivischer und multimethodischer Ansatz gewählt. Im Folgenden wird auf den methodischen Zuschnitt der Teilstudien und -erhebungen genauer eingegangen. Für die Beurteilung der Wirkungen des BKiSchG ist es wichtig, die Einzelergebnisse der jeweiligen Teilerhebungen aufeinander zu beziehen, um systematische Effekte und daraus eventuell resultierende Änderungsbedarfe erkennen zu können. Landesjugendämter Im Zentrum der Erhebung bei den Landesjugendämtern stehen ihre Aufgaben, Jugendämter, freie Träger und auch andere Organisationen, die mit Minderjährigen arbeiten, zu beraten, Empfehlungen für einen verbesserten Kinderschutz zu entwickeln und Aufgaben zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen wahrzunehmen. Infolge der Diskussionen der Runden Tische „Sexueller Kindesmissbrauch“ und „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ wurden mit dem BKiSchG die Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen durch Maßnahmen zur Beteiligung und Beschwerde und zum Schutz vor Gewalt in verschiedenen Regelungen verankert (Deutscher Bundestag 2011). Sie betreffen die Beratung von Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten (§ 8 b Abs. 2 SGB VIII), die Betriebserlaubnis (§§ 45 - 48 a SGB VIII), die Personalauswahl (§ 72 a SGB VIII) sowie die Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe (§ 79 a SGB VIII). Das Forschungsprojekt untersucht über einen primär qualitativen Zugang, wie die Landesjugendämter ihren Auftrag in diesen Bereichen begreifen, welche Aktivitäten zur Umsetzung sie unternehmen und welche Erfahrungen sie dabei machen. Dabei geht es sowohl um positive Erfahrungen als auch um mögliche Hürden. Die Ergebnisse werden zudem Aufschluss darüber geben, ob und inwiefern die Neuregelungen die Arbeit und Rolle der Landesjugendämter verändern. Es werden zwei Fokusgruppen mit VertreterInnen von Landesjugendämtern durchgeführt, an die sich voraussichtlich weitere Analysen anschließen werden. Jugendämter und andere Akteure der Kinder- und Jugendhilfe Um Erkenntnisse zu den Auswirkungen des BKiSchG in der Kinder- und Jugendhilfe zu erhalten, werden quantitative Erhebungen in verschiedenen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe durchgeführt, und zwar bei Jugendämtern, stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, bei Jugendringen, bei Pflegekinderdiensten und bei Kindertageseinrichtungen. Die Grundlage dafür bilden die Erhebungen des Projektes „Jugendhilfe und sozialer Wandel - Leistungen und Strukturen“, 460 uj 11+12 | 2014 Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes die in regelmäßigen Abständen bundesweit durchgeführt werden. In der vorangegangenen Projektphase wurden bereits Fragen zum Thema Kinderschutz und der Umsetzung der Regelungen des KICK (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz) in die Befragungen aufgenommen (Pluto/ Gadow/ Seckinger/ Peucker 2012). Im Einzelnen war dies, ob die Träger der Kinder- und Jugendhilfe den Vorgaben nachkommen, Vereinbarungen nach § 8 a SGB VIII und § 72 a SGB VIII zu schließen, welche Veränderungen die Arbeitsfelder infolge der Einführung von § 8 a SGB VIII registrieren und wie die Jugendämter bezogen auf § 8 a SGB VIII kooperieren. So ist es möglich, zu einigen Fragestellungen auch über einen längeren Zeitraum Veränderungen, bezogen auf die Umsetzung der gesetzlichen Regelungen, zu beschreiben. Gesundheitswesen Das Gesundheitswesen ist im Kinderschutz ein wichtiger Partner der Kinder- und Jugendhilfe beim Erkennen von familiären Belastungssituationen und Anzeichen von Vernachlässigung oder Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die jüngeren Kinder, die im Regelfall mehrmals im Jahr in den Kontakt mit dem Gesundheitswesen kommen, sei es durch die Begleitung von Hebammen in der Zeit nach der Geburt, im Rahmen von U-Untersuchungen oder durch Förderangebote durch ErgotherapeutInnen bzw. LogopädInnen. Eine wichtige Rolle spielen auch die Notaufnahmen in Krankenhäusern, bei denen Kinder mit Verletzungen vorgestellt werden, die eine Folge von Misshandlung sein können. MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens sind auch als ExpertInnen für die Beurteilung von körperlichen und psychischen Folgen von Kindesmisshandlungen, -missbrauch und -vernachlässigung gefragt und erfüllen eine wichtige Funktion in der Begutachtung und Beweissicherung im Rahmen von gerichtlichen Verfahren. In den Diskussionen um die Einführung des BKiSchG haben im Zusammenhang mit dem Gesundheitswesen insbesondere die Themen Umgang mit der Schweigepflicht, die einem Einbezug weiterer Stellen gegen den Willen der Eltern entgegenzustehen schien, und Zugang zu Familien, die für die Kinder- und Jugendhilfe nur schwer zu erreichen sind, einen besonderen Stellenwert eingenommen. Diese Themen haben insofern auch eine besondere Bedeutung für die Evaluation des Gesetzes. Mittels qualitativer Methoden wird insbesondere die Perspektive von niedergelassenen Kinder- und JugendärztInnen, VertreterInnen aus Kinderschutzgruppen an Kliniken sowie die Perspektive von FachärztInnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie erfasst. Niedergelassene Kinder- und JugendärztInnen sind in der Regel nicht in ein ärztliches Team eingebunden und haben keinen systematischen Zugang zu Informationen über etwaige gesetzliche Änderungen (insbesondere Gesetze außerhalb des Gesundheitsbereichs). Bei der Wahrnehmung von Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung haben niedergelassene Kinder- und JugendärztInnen aufgrund ihres geringen Institutionalisierungsgrades meist keine Möglichkeit, sich bei Bedarf zeitnah in einem (internen) Team über die Wahrnehmungen auszutauschen und sich zum weiteren Vorgehen zu beraten. Es ist deshalb anzunehmen, dass sie in besonderer Weise von der Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft profitieren könnten. Geplant ist, mittels qualitativer Verfahren wie Interviews und Fokusgruppen folgende Fragestellungen zu diskutieren: ➤ Wie gehen niedergelassene Kinder- und JugendärztInnen in Fällen vor, in denen sie Zweifel haben, ob das Wohl eines Kindes ausreichend gewährleistet ist, ohne dass sie eindeutige Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung haben? 461 uj 11+12 | 2014 Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes ➤ Mit welchen Stellen treten sie in Kontakt? ➤ Was ist für die Entscheidung, das Jugendamt einzubeziehen, ausschlaggebend? ➤ Welche Erfahrungen gibt es in der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt? ➤ Inwieweit sind die Regelungen des BKiSchG unter niedergelassenen Kinder- und JugendärztInnen bekannt? ➤ Welche Veränderungen bemerken niedergelassene Kinder- und JugendärztInnen seit Inkrafttreten des BKiSchG bei der Wahrnehmung gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung? ➤ Bei wem sehen niedergelassene Kinder- und JugendärztInnen welche Weiterentwicklungsbedarfe? Die Situation stellt sich an Kliniken für Kinder- und JugendärztInnen, aber auch für weitere dort tätige Berufsgruppen (andere Facharztrichtungen, Pflegefachkräfte, SozialpädagogInnen, PsychologInnen) etwas anders dar. Sie haben gegenüber niedergelassenen Berufsgruppen den Vorteil, ihre Wahrnehmungen auf Stationsbesprechungen, im Team oder sogar in eigens gegründeten interdisziplinären Kinderschutzgruppen (Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin 2010, Hermann 2013) austauschen, das weitere Vorgehen beraten und die Aufgaben auf mehrere Schultern verteilen zu können. Für die Gruppe derer, die in Kinderschutzgruppen arbeiten, wurde eine Fokusgruppe durchgeführt. Die dabei diskutierten Fragestellungen waren ähnlich denen, die mit den niedergelassenen ÄrztInnen besprochen wurden. Sie wurden der anderen Arbeitssituation angepasst. FachärztInnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie arbeiten in der Regel unter Einbezug der Bezugspersonen und des näheren Umfeldes eines Kindes bzw. Jugendlichen. Ihre Arbeit umfasst in vielen Fällen auch die Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe unabhängig von Kinderschutzfragen, da die Kinder- und Jugendhilfe für Kinder zuständig ist, die von einer seelischen Behinderung bedroht oder betroffen sind. MitarbeiterInnen der Kinder- und Jugendpsychiatrie können in unterschiedlichen Settings mit mutmaßlichen Kinderschutzfällen konfrontiert werden, z. B. wenn ein bereits gefährdetes Kind in die Einrichtung aufgenommen wird, wenn während der Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten dahinterliegende Ursachen auf Misshandlung, Vernachlässigung oder Missbrauch hindeuten oder wenn sie von Jugendämtern zur Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung um Stellungnahme gebeten werden. Auch mit dieser Zielgruppe ist eine Fokusgruppe geplant, mit der ähnliche Fragestellungen wie mit den KinderärztInnen sowie den Kinderschutzgruppen diskutiert werden. Für die systematische Beobachtung gesetzlicher Änderungen und ihrer Interpretation sowie für die Setzung von Impulsen zur Veränderung von Praxis kommt übergeordneten Organisationen und Zusammenschlüssen eine wichtige Funktion zu. Im medizinischen und psychotherapeutischen Bereich sind dies die Landesärztekammern, Landespsychotherapeutenkammern, medizinische Fachgesellschaften und Berufsverbände im Bereich des Gesundheitswesens. Eine quantitative Online-Befragung dieser Organisationen soll Erkenntnisse darüber liefern, wie das BKiSchG von ihnen wahrgenommen wird, welche Aktivitäten es auf der Ebene dieser Organisationen bislang ausgelöst hat und welchen (Weiter-)entwicklungsbedarf sie ggf. sehen, um die gesetzlichen Änderungen in das Bewusstsein ihrer Mitglieder zu rücken. Im Verlauf der Erhebungen erschlossen sich weitere Berufsgruppen aus Bereichen des Gesundheitswesens, deren Situation und Handlungspraxis für die Weiterentwicklung des Kinderschutzes zukünftig Berücksichtigung finden sollte. Hierzu zählen die medizinischen Fachberufe, wie beispielsweise LogopädInnen oder ErgotherapeutInnen. 462 uj 11+12 | 2014 Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes Schulen Wie bereits oben angedeutet, gibt es für die Befragung von Schulen im Kontext des Projekts „Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes - Wissenschaftliche Grundlagen“ im Wesentlichen zwei Begründungen: Erstens sind Schulen ein Beispiel für eine sehr stark institutionalisierte, durch zentrale Regelungen beeinflussbare und relativ gut mit Informationen zu erreichende Gruppe von Akteuren. Diese müssten deshalb relativ schnell auf gesetzliche Änderungen reagieren können. Zweitens kommt der Institution Schule aufgrund der Schulpflicht von Kindern ab sechs Jahren und einer Ausweitung der Zeitspanne, die Kinder und Jugendliche täglich in der Schule verbringen (Stichwort: Ganztagsschule), eine besondere Bedeutung im Kinderschutz zu. Beispielsweise wurden sowohl Verdachtsfälle auf sexuellen Missbrauch durch eine an der Schule beschäftigte Person als auch Verdachtsfälle auf sexuelle Übergriffe zwischen SchülerInnen in über 50 % der Fälle dadurch bekannt, dass sich ein als Opfer betroffenes Kind an eine Lehr- oder Fachkraft wandte (Helming u. a. 2011). Ziel der Untersuchung ist es, die schulischen Aktivitäten zur Sicherung des Kindeswohls sichtbar werden zu lassen sowie empirische Aussagen zu positiven Veränderungen und Herausforderungen für Schulen, die mit den gesetzlichen Regelungen im Kinderschutz verbunden sind, zu ermöglichen. Die Erhebung soll Schulleitungen die Möglichkeit geben, auf die spezifischen Unterstützungsbedarfe von Schulen aufmerksam zu machen und auf etwaigen Nachbesserungsbedarf in den gesetzlichen Regelungen im Kinderschutz hinzuweisen. Die Erhebung ist als bundesweite Befragung von Schulen (Schulleitungen bzw. Personen, die an der Schule für Kinderschutzfragen zuständig sind) konzipiert und fokussiert auf folgende Inhalte: ➤ Bestandsaufnahme der Aktivitäten zum Kinderschutz ➤ Erfahrungen in der Kooperation mit Externen ➤ Erfahrungen im Umgang mit Verdachtsfällen von Kindeswohlgefährdung ➤ Allgemeine Bewertung der im Bundeskinderschutzgesetz verankerten gesetzlichen Regelungen ➤ Strukturdaten der Schule Die Befragung wird zu Beginn des Schuljahres 2014/ 2015 bundesweit an Förderschulen, Grundschulen und weiterführenden Schulen erfolgen (öffentlich und privat). Nicht berücksichtigt werden Abendschulen, Kollegs sowie berufsbildende Schulen. Für jede der drei Schularten - Förderschulen, Grundschulen und weiterführende Schulen - wurden separate Stichproben gezogen (geschichtete Stichprobe). Ausgehend von einer Bruttostichprobe von bundesweit 3.500 zu befragenden Schulen wurde die Stichprobengröße auf Grundlage des Anteils der relevanten Schularten an der Grundgesamtheit der Schulen in Deutschland bemessen. Dazu wurden Daten der amtlichen Statistik herangezogen (Destatis. Statistisches Bundesamt). Daraus ergab sich eine Stichprobengröße von bundesweit 350 Förderschulen, 1.785 Grundschulen und 1.365 weiterführenden Schulen. Das Stichprobendesign spiegelt die prozentuale Verteilung der Schulen über die Bundesländer proportional wider. Als Ergänzung zur nach Schularten geschichteten und nach Bundesländern proportional gezogenen Stichprobe ist die Befragung bei den Freien Waldorfschulen vorgesehen (bundesweit 232; Bund der Freien Waldorfschulen e.V. 2014). Die Erhebungsinstrumente sind durch die Kultusministerien der an der Befragung teilnehmenden Bundesländer geprüft und genehmigt. Auch der Schulausschuss der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) unterstützt das Erhebungsvorhaben. 463 uj 11+12 | 2014 Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes Behindertenhilfe Stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe tragen die Verantwortung, bei ihnen lebende und zum Teil besonders vulnerable Kinder und Jugendliche zu schützen und bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung tätig zu werden. Kindeswohlgefährdungen können dabei von externen Personen, von anderen in der Einrichtung lebenden Personen sowie von Mitarbeitenden der Einrichtung ausgehen. Seit der Einführung des BKiSchG haben stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe, in denen Kinder und Jugendliche leben, wie eine Reihe anderer Akteure das Recht, sich bei Verdachtsfällen von Kindeswohlgefährdung von einer insoweit erfahrenen Fachkraft beraten zu lassen. Anders als bei anderen Akteuren außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe, wie etwa Schulen, wurde dieses Beratungsrecht nicht nur im Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII), sondern auch im Gesetz zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX), dem für die Einrichtungen in besonderer Weise relevanten Gesetz, fixiert. Geplant ist eine bundesweite quantitative Erhebung bei stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe, in denen Kinder und Jugendliche leben. Durch die Erhebung werden neben Aussagen zu den Wirkungen des BKiSchG auch Anhaltspunkte dafür gewonnen, welche Rolle der Kinderschutz in der Praxis der stationären Behindertenhilfe spielt und welche Aktivitäten es zur Sicherung des Kindeswohls gibt. Die Feldphase beginnt voraussichtlich Anfang 2015, mit ersten vorläufigen Ergebnissen ist im Frühsommer 2015 zu rechnen. Für die Erhebung sind folgende Themenschwerpunkte geplant: ➤ Bestandsaufnahme der Aktivitäten zum Kinderschutz ➤ Zusammenarbeit und Kooperation im Kinderschutz mit Externen (insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe) ➤ Erfahrungen im Umgang mit Verdachtsfällen von Kindeswohlgefährdung ➤ Bekanntheit des Bundeskinderschutzgesetzes und dessen Bewertung ➤ Strukturdaten der stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe (Träger, Angebotsformen, Betriebserlaubnispflicht, Personal etc.) Gesetzliche Betreuung Gesetzliche BetreuerInnen gehören zu einer Berufsgruppe, die in ihrem beruflichen Alltag mit Anhaltspunkten für eine mögliche Kindeswohlgefährdung konfrontiert sein können, sofern sie Eltern betreuen. Nehmen gesetzliche BetreuerInnen dabei Anhaltspunkte für eine mögliche Kindeswohlgefährdung bzw. einen Hilfebedarf bei einem Kind wahr, können sie in ein Dilemma geraten, da ihre Aufgabe die gesetzliche Betreuung und Vertretung der Interessen des Erwachsenen sind - nicht aber die des Kindes. Hinzu kommt, dass sie oft als Selbstständige und somit als Einzelperson arbeiten und häufig nicht in größere Institutionen oder multiprofessionelle Teams eingebunden sind. Beratungsmöglichkeiten zur Entscheidung über das weitere Vorgehen oder fachliche Austauschmöglichkeiten zu Fällen mutmaßlicher Kindeswohlgefährdung sind häufig nicht gegeben. Zur Untersuchung dieses Bereichs führte das Projekt in verschiedenen Regionen Deutschlands drei Fokusgruppen durch. Anhand der inhaltlichen Diskussionen soll herausgefunden werden, wie sich die genannten Herausforderungen in der täglichen Arbeit darstellen. Zudem sollen die Resonanzen sichtbar gemacht werden, die das BKiSchG in diesem Feld 464 uj 11+12 | 2014 Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes ausgelöst hat. Das Projekt erhofft sich, Hinweise auf eventuell notwendige Weiterentwicklungen in diesem Feld in Bezug auf den Kinderschutz zu erhalten und übertragbare Ergebnisse in Bezug auf andere Berufsgruppen in vergleichbaren strukturellen Situationen zu gewinnen. Aktueller Stand des Projektes und Ausblick Im vergangenen Jahr hat das Projekt für die verschiedenen Erhebungen in unterschiedlichen Bereichen Fragebögen und Gesprächsleitfäden erarbeitet und verschiedene ExpertInnenworkshops und Fokusgruppen konzipiert und durchgeführt. Weitere Erhebungen sowie die Auswertung der quantitativ und qualitativ erhobenen Daten stehen bevor. Die Erkenntnisse des Projektes werden in einem Bericht für das BMFSFJ zusammengefasst, das wiederum dem Deutschen Bundestag bis Ende 2015 einen mit den Bundesländern abgestimmten Bericht über die Wirkungen des BKiSchG vorlegen wird. Für das Projekt gestalten sich die Zugänge zum Feld in manchen Bereichen eher schwierig. Teilweise sind Zugänge mit besonderen Herausforderungen verbunden und bedürfen im Vorfeld längerer Prozesse und Abstimmungen. Andererseits nutzen seit Projektbeginn einzelne Berufsgruppen oder Arbeitsbereiche das Projekt, um ihre jeweilige Perspektive in die Evaluation des BKiSchG einzubringen. Das Projekt selbst hat bereits jetzt zu zwei Nebeneffekten geführt, die durchaus im Sinne des Gesetzes sind: 1. Es sind weitere Berufsgruppen, die bisher in der Kinderschutzdebatte keine oder nur wenig Aufmerksamkeit erhalten haben, in die fachliche Aufmerksamkeit gerückt; 2. Angeregt durch die Projektaktivitäten hat eine Sensibilisierung für die Regelungen im BKiSchG bei verschiedenen NormadressatInnen stattgefunden. Bianca Bertsch Regine Derr Sandra Ebner Silvia Schürmann Dr. Mike Seckinger Julia Zimmermann Deutsches Jugendinstitut e.V. Abteilung Jugend und Jugendhilfe Projekt „Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes“ Nockherstraße 2 81541 München bertsch@dji.de derr@dji.de ebner@dji.de schuermann@dji.de seckinger@dji.de zimmermann@dji.de Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2014): Bildung in Deutschland 2014. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung von Menschen mit Behinderungen, Autorengruppe Bildungsberichterstattung. In: http: / / www.bildungsbericht.de/ daten 2014/ bb_2014.pdf , 22. 8. 2014 Böhret, C., Konzendorf, G. (2001): Handbuch Gesetzesfolgenabschätzung (GFA). Gesetze Verordnungen, Verwaltungsvorschriften. Nomos, Baden Baden Bund der Freien Waldorfschulen e.V.: Waldorf- und Rudolf-Steiner-Schulen sowie Lehrerbildungsstätten in Deutschland. Adressverzeichnis März 2014. In: http: / / www.waldorfschule.de/ fileadmin/ downloads/ brd. pdf, 22. 8. 2014 DESTATIS. Statistisches Bundesamt (2013): Publikationen im Bereich Schule. Allgemeinbildende Schulen. Fachserie 11 Reihe 1 - Schuljahr 2012/ 2013. In: https: / / www.destatis.de/ DE/ Publikationen/ Thematisch/ Bil- 465 uj 11+12 | 2014 Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes dungForschungKultur/ Schulen/ Allgemeinbildende Schulen.html, 22. 8. 2014 Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DAKJ) und Arbeitsgemeinschaft Kinderschutz in der Medizin (AG KiM) (2010): Vorgehen bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Empfehlungen für Kinderschutz an Kliniken. In: http: / / dakj.de/ media/ stellungnahmen/ dakj/ dakj-empfehlungen-kinder schutz-kliniken-2010.pdf, 22. 8. 2014 Deutscher Bundestag (2011): Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz - BKiSchG). Drucksache 17/ 6256, Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft, Köln Helming, E., Kindler, H., Langmeyer, A., Mayer, M., Entleitner, C., Mosser, P., Wolff, M. (2011): Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen. Rohdatenbericht. Im Auftrag der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Dr. Christine Bergmann. DJI, München Herrmann, B. (2013): Medizinischer Kinderschutz: Misshandlungen erkennen und überlegt intervenieren. Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Bd. 16, Ausgabe 1, 52 - 63 Meysen, T., Eschelbach, D. (2012): Das neue Bundeskinderschutzgesetz. Nomos, Baden-Baden Pluto, L., Gadow, T., Seckinger, M., Peucker, C. (2012): Gesetzliche Veränderungen im Kinderschutz - empirische Befunde zu § 8 a und § 72 a SGB VIII. Perspektiven verschiedener Arbeitsfelder. DJI, München Wiesner, R., Mörsberger, T., Wapler, F. (o. J.): SGB VIII, § 4 KKG Rn. N 15. In: http: / / rsw.beck.de/ cms/ ? toc=Wies nerSGB.20&docid=330469, 14. 8. 2014 2., durchgesehene Auflage 2008. 213 Seiten. 15 Abb. 2 Tab. (978-3-497-02021-8) kt Das Wohl des Kindes schützen Wir reagieren mit Entsetzen, wenn Eltern ihr Kind vernachlässigen oder misshandeln - manchmal gar bis zum Tod. Schnell werden Forderungen nach gesetzlichen Maßnahmen und einer Verbesserung des Kinderschutzes laut. Wie greift man wirksam ein, bevor die familiäre Situation eskaliert? Wie erkennt man Risiken, wie fördert man frühzeitig die Erziehungskompetenz der Eltern? Wie lassen sich institutionelle Hilfen verbessern? In diesem Buch werden interdisziplinäre Lösungsansätze gebündelt und von Experten aus den Bereichen Recht, Medizin, Psychologie und Pädagogik beschrieben. a www.reinhardt-verlag.de
