unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2014
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Was denken die Jugendlichen und ihre BezugsbetreuerInnen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe über partizipative Qualitätssicherung am Computer?
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2014
Martin Schröder
Benjamin Shuler
Nils Jenkel
Marc Schmid
Mit der Jugendstrafrechtsreform 2007 in der Schweiz und der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes 2012 in Deutschland werden verbindliche Fachstandards zur Sicherung und Stärkung der Kinderrechte, zum Schutz vor Gewalt und zur Qualitätsentwicklung eingeführt, welche konsequent die Umsetzung des begonnenen Reformprozesses in der Kinder- und Jugendhilfe verfolgen.
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486 unsere jugend, 66. Jg., S. 486 - 500 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art64d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Was denken die Jugendlichen und ihre BezugsbetreuerInnen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe über partizipative Qualitätssicherung am Computer? Mit der Jugendstrafrechtsreform 2007 in der Schweiz und der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes 2012 in Deutschland werden verbindliche Fachstandards zur Sicherung und Stärkung der Kinderrechte, zum Schutz vor Gewalt und zur Qualitätsentwicklung eingeführt, welche konsequent die Umsetzung des begonnenen Reformprozesses in der Kinder- und Jugendhilfe verfolgen. von Martin Schröder Jg. 1983; M. A. Educational Sciences, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der UPK Basel Die Kinder- und Jugendhilfe in der Schweiz ist stark föderalistisch geprägt. Ein Gesetz analog zum deutschen Bundeskinderschutzgesetz, welches die Leistungen des Kinderschutzes auf Bundesebene regelt, ist nicht vorgehalten. Schweizweite Regelungen gelten nur in Fällen, in denen Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe durch das Jugendstrafrecht angeordnet werden. In diesem gilt das Prinzip „Erziehung vor Strafe“. Bei Jugendlichen, welche straffällig geworden sind, können dementsprechend erzieherische Maßnahmen angeordnet werden. Eine solche Schutzmaßnahme kann unter anderem die Platzierung in einer vom Bundesamt für Justiz anerkannten sozialen Institution sein. Benjamin Shuler Jg. 1977; M. A. Soziale Arbeit, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe Basel-Landschaft Nils Jenkel Jg. 1978; lic. phil. Psychologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der UPK Basel Dr. Marc Schmid Jg. 1971; Leitender Psychologe und Bereichsleiter des Zentrums für Liaison und Qualitätssicherung der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der UPK Basel 487 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer Seit dem Inkrafttreten des revidierten schweizerischen Jugendstrafgesetzes im Jahr 2007 ist nach Art. 9 bei Unterbringungen in einer Einrichtung eine Abklärung der persönlichen Verhältnisse der Jugendlichen vorgeschrieben. Dies beinhaltet eine standardisierte psychosoziale Diagnostik bezüglich der aktuellen Lebenssituation, der psychischen und physischen Gesundheit, des psychosozialen Funktionsniveaus und der damit verbundenen sozialen Teilhabefähigkeit. Gemäß Artikel 19 des Schweizer Jugendstrafgesetzes ist zudem eine jährliche Evaluation durchzuführen, um zu prüfen, ob die Fortführung der Maßnahme weiterhin indiziert ist. In diesem Kontext wird eine transparente Erarbeitung von Zielindikatoren ebenso notwendig, wie die schriftliche Dokumentation der Entwicklungen und Veränderungen der Jugendlichen. Mit dem Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes im Jahr 2012 in Deutschland, insbesondere mit den § 79 und § 79 a SGB VIII, welche noch über die bisherigen prospektiven Vereinbarungen zu den Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen gemäß § 78 SGB VIII hinausgehen, werden ähnliche Anforderungen an die Kinder- und Jugendhilfe postuliert. Darüber hinaus wird hierdurch verbindlich geregelt, dass es einer regelmäßigen Überprüfung und Weiterentwicklung der in den Entscheidungsprozessen verwendeten Maßnahmen und Verfahren bedarf. Diese müssen sich unter anderem an den Maßstäben der Transparenz, Partizipation, dem Beschwerderecht und der Zufriedenheit der Jugendlichen messen lassen. Hierdurch rückt die Perspektive der Kinder und Jugendlichen in das Zentrum der Bewertung, welche bis anhin in einigen Verfahren zur Qualitätsentwicklung insofern vernachlässigt wurden, als die Leistungserbringer bezüglich der Einschätzung ihrer Klientel befragt wurden, anstatt die eigentliche Zielgruppe direkt selbst einzubinden. Ergebnisorientierte Qualitätssicherung in sozialpädagogischen Einrichtungen Zur Überprüfung der Umsetzbarkeit der schweizerischen gesetzlichen Anforderungen im Alltag sozialpädagogischer Institutionen wurde im Auftrag des Bundesamtes für Justiz von 2007 bis 2011 der Modellversuch zur Abklärung und Zielerreichung in stationären Maßnahmen (MAZ) durchgeführt (Schmid u. a. 2013). Darin wurden in über 60 stationären Einrichtungen ausgewählte standardisierte Verfahren zur Beschreibung und Verlaufsbeurteilung von rund 600 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf ihre Praktikabilität hin evaluiert. Die Zieldefinition und Einschätzung der Zielerreichung sowie die Beantwortung der psychometrischen Fragebögen erfolgten computergestützt. Die verwendeten Instrumente sollten dabei auch Unterstützung bei der Planung und Steuerung der (sozial)pädagogischen Maßnahmen im Dialog mit den Kostenträgern geben, unter einem partizipativen Aspekt den Jugendlichen Fortschritte veranschaulichen sowie eine gemeinsame Definition über die Ziele zwischen Fachkräften und Jugendlichen ermöglichen. Aufgrund positiver Erfahrungen mit dem Instrumentarium wurde vonseiten der beteiligten Institutionen der Wunsch geäußert, die im Projekt verwendeten Verfahren nach Abschluss der Untersuchung weiter zu verwenden (Schmid u. a. 2013, 140). Daraufhin entwickelte die Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik Basel das Kooperationsangebot EQUALS (Ergebnisorientierte Qualitätssicherung in sozialpädagogischen Einrichtungen), welches die Verwendung der optimierten Studiensoftware für die Praxis anbietet. Das Computerprogramm EQUALS (www.equals. ch) ist seit September 2011 in 30 Institutionen der stationären Kinder- und Jugendhilfe in der Schweiz und in Deutschland im Einsatz. Die Software liegt als deutsche, französische und 488 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer italienische Sprachversion vor. Dabei verfolgt EQUALS die Strukturierung der Prozessqualität unter den Prämissen der Qualifizierung der Fachkräfte, Transparenz, Partizipation des betreuten Klientels sowie eine interdisziplinäre Eingangs- und Verlaufsdiagnostik, um in der stationären Kinder- und Jugendhilfe individuelle und institutionelle Entwicklungen abbilden zu können. Zur Umsetzung dieser Aspekte begleitet das EQUALS-Team die jeweilige Einrichtung bei der Implementierung durch Einführungsworkshops in die Benutzung von EQUALS, individuelle Workshopangebote zur Zielformulierung, Testinterpretation und Rückgabegespräche und ist stets als Ansprechpartner bei fachlichen und technischen Fragen verfügbar. Im Instrument werden vor allem folgende Qualitätskriterien berücksichtigt (Schröder u. a. 2013): ➤ Alltagstauglichkeit, ➤ ökonomischer Zeitaufwand, ➤ Partizipation der Kinder und Jugendlichen sowie der Eltern, ➤ Lösungs- und Ressourcenorientierung, ➤ einprägsame und leicht interpretierbare grafische Darstellungen, ➤ Zieldefinition mit KooperationspartnerInnen (TherapeutInnen, Lehrpersonen, Eltern, Andere). Die EQUALS-Verfahren setzen sich neben einer umfassenden Anamnese aus standardisierten psychometrischen Screenings zur niedrigschwelligen Abklärung von Belastungen und Ressourcen bei den Jugendlichen selbst und in ihrem Lebensumfeld zusammen. Hierbei wurde der Mehrperspektivität ein besonders hoher Wert zugeschrieben, sodass nicht nur die BezugsbetreuerInnen, sondern auch LehrerInnen, Eltern und andere relevante Bezugspersonen ihre Beurteilungen abgeben können. Darüber hinaus werden die Jugendlichen selbst befragt, sodass sich durch die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Perspektiven die Relativierung der Betreuerperspektive vollzieht und ein umfassendes Abbild zum systemischen (Be)arbeiten bietet. Andererseits gehört zu EQUALS ein Zielerreichungsinstrument, welches sich aus der partizipativen Einschätzung allgemeiner Kompetenzen sowie der individualisierten partizipativen Zieldefinition und Überprüfung zusammensetzt. Über die gemeinsame Einschätzung der allgemeinen Kompetenzen wird ein vertrauensfördender Dialog und gegenseitiger Verstehensprozess bezüglich der Stärken und Schwächen des Jugendlichen in den vorgegebenen Bereichen initiiert. Darüber hinaus fließt in den Prozess die Erfassung der Änderungsbereitschaft ein, welche in der Hilfeplanung berücksichtigt wird, um realistische Entwicklungsschritte auszuhandeln. Hierdurch wird eine gezielte Förderung der sozialen Teilhabefähigkeit arrangiert. Auf der Grundlage der Bearbeitung der Tests und der Kompetenzeinschätzung in Kombination mit den alltäglichen Verhaltensbeobachtungen können in EQUALS gemeinsame und transparente Zielvereinbarungen definiert werden, welche den Jugendlichen eine maßgebliche und selbstbestimmte Orientierung für den weiteren Hilfeverlauf geben. Zur Unterstützung der Zielerreichung können weitere helfende Personen (Eltern, SozialpädagogInnen, LehrerInnen, PsychotherapeutInnen usw.) individuell und mit einem konkreten Auftrag versehen eingebunden werden. Es wird empfohlen, die unterschiedlichen Verfahren in regelmäßigen Abständen erneut durchzuführen, damit diese Ziele überprüft und Entwicklungen dokumentiert werden. Die hier visuell festgestellten positiven Entwicklungen, Stagnationen und Rückschläge, machen relevante Themen besprechbar und durch die Rückmeldung von Fortschritten werden Motivationen sowohl auf der Seite der Jugendlichen als auch der Fachkräfte für den weiteren Prozess geschaffen. Insgesamt bieten die teilstandardisierten Vorgaben bei EQUALS 489 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer insbesondere für BerufsanfängerInnen eine Orientierung und Sicherheit bei der bedarfsorientierten Hilfeplanung. Im Rahmen einer Prozessgestaltung, wie sie von EQUALS vorgesehen ist, werden die geforderten fachlichen Standards für alle betroffenen Akteure gewährleistet. Evaluation von EQUALS Um den Ansprüchen der Alltagstauglichkeit und der permanenten Weiterentwicklung des Instruments zu entsprechen, wurde 2013, nach einem ersten Durchlauf von zwei Jahren, eine übergreifende Evaluation von EQUALS durchgeführt. Mit der Evaluation wurden die subjektiven Erfahrungen und Einschätzungen der mit dem Programm arbeitenden Jugendlichen und deren BezugsbetreuerInnen erhoben und ausgewertet. Folgende Zielsetzungen wurden anvisiert: ➤ Die Beantwortung der Frage, wie EQUALS in der Praxis konkret angewendet wird (welche Instrumente, Form der Durchführung, Verwendung der Resultate im Alltag). ➤ Die Beantwortung der Frage, welchen Nutzen Jugendliche und Fachkräfte in der Fallarbeit mit dem Instrument ziehen. ➤ Die Überprüfung der erwarteten bzw. gewünschten Wirkung und Qualitätsmerkmale. ➤ Die Generierung von Hinweisen für die Optimierung von EQUALS. An der Evaluation haben sich drei Einrichtungen aus der Schweiz beteiligt. Die einzelnen InterviewpartnerInnen (Jugendliche und BezugsbetreuerInnen) wurden in den Institutionen intern ausgewählt. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine gewisse Vorselektion des Samples hinsichtlich der Einstellung zu EQUALS nicht ausschließen. Die Stichprobe erfüllte folgende Anforderungen: ➤ Einverständnis der Jugendlichen und der Sorgeberechtigten, ➤ beteiligt werden Jugendliche ab einem Alter von 14 Lebensjahren sowie ➤ ausgebildete sozialpädagogische BezugsbetreuerInnen der jeweils befragten Jugendlichen ➤ mehrmalige Erfahrungen der Beteiligten im Umgang mit Erhebungen und mit dem Instrument. Unter den befragten BezugsbetreuerInnen befanden sich vier Frauen und sieben Männer. Der Altersrange lag zwischen 26 bis 45 Jahren, das Durchschnittsalter betrug 34 Jahre. Zum Zeitpunkt des Interviews befanden sich vier der zehn Befragten in Ausbildung. Eine Person war Gruppenleiter, die restlichen Befragten hatten keine Führungsfunktion inne. Die Fachkräfte arbeiteten seit rund 4 Jahren in ihrer Institution. Die befragten Jugendlichen waren, bis auf eine junge Frau, alle männlichen Geschlechts, 14 bis 19 Jahre alt und bei der Aufnahme in der aktuellen Einrichtung im Durchschnitt rund 16 Jahre alt. In acht von zehn Fällen war der Auftrag der Erziehungshilfe die Unterbringung mit erzieherischer und therapeutischer Hilfe, in einem Fall war es eine Anordnung von Schutzmaßnahmen und in einem Fall handelte es sich um eine Abklärung der persönlichen Verhältnisse. Sechs der zehn befragten Jugendlichen gaben persönliche Problemlagen für Ihre Unterbringung an. Diese zeigten sich in Verhaltensauffälligkeiten, psychischen Störungen, Delinquenz und in Schulproblemen. Des Weiteren wurden familiäre Gründe (Drogensucht des Vaters mit existenzieller Lebensbedrohung der Familie), Mobbingopfer in der alten Schule, Umplatzierung aus einer anderen Einrichtung und die Überbrückung zur Verselbstständigung bis zum 18. Lebensjahr benannt. Ein Jugendlicher zog sein Einverständnis zur Auswertung seines Interviews direkt nach der Befragung zurück. Die Datenerhebung erfolgte mittels problemzentrierter Interviews (Witzel 2000, Kuckartz 490 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer u. a. 2008). Es handelte sich stets um Einzelinterviews. Der Interviewleitfaden orientierte sich an den oben dargestellten Zielstellungen und umfasste folgendes Schema: ➤ Teil 1: Konkrete Anwendung von EQUALS in der Praxis ➤ Teil 2: Nutzen von EQUALS in der sozialpädagogischen Praxis ➤ Teil 3: Fazit, Kritik und Verbesserungsvorschläge für EQUALS Sämtliche Interviews wurden in den Institutionen durchgeführt und mittels Audiorecorder aufgezeichnet. Das Material wurde anschließend nach allgemeinen Transkriptionsregeln unter Verwendung der Transkriptionssoftware f4 verschriftlicht. Die Auswertung der Transkripte erfolgte unter Anwendung der Software MAXQDA methodisch kontrolliert und in Anlehnung an die Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2008) in systematischer Weise: Daten erkunden, fallweise darstellen; Kategoriensystem erstellen und Interviews codieren; kategorienbasiert auswerten und Evaluationsbericht erstellen. Ergebnisse der Evaluation Im Folgenden werden die Ergebnisse der Stärken und Schwächen von EQUALS vorgestellt, um anhand derer den Nutzen von diesem oder äquivalenten Instrumenten zur Umsetzung der Verpflichtung zur Qualitätsentwicklung gemäß dem deutschen Bundeskinderschutzgesetz zu skizzieren. Nutzen aus der Perspektive der BezugsbetreuerInnen Abbildung 1 gibt einen Überblick über den Nutzen des Instrumentes aus der Perspektive der BezugsbetreuerInnen. Das Fallverständnis wird bei Anwendung von EQUALS gefördert. Die Mehrzahl der befragten BezugsbetreuerInnen berichtete von einem Erkenntnisgewinn sowohl bezüglich der psychischen Situation als auch der Kompetenzen und Defizite der Jugendlichen. Mehrere Befragte betonten auch den direkten Einbezug der Jugendlichen und die Standardisierbarkeit, die zu einer objektive(ren) Sicht auf die Jugendlichen beitrug: „Die Stärke liegt sicherlich darin, nochmals einen anderen Blick oder eine andere Sicht auf einen Jugendlichen zu kriegen, die ein Stück weit auch vom Jugendlichen kommt, direkt. Um das abzugleichen mit der Sicht vom Pädagogen, von außen, und da praktisch eine objektivere Sicht zu kriegen. Bislang blicken wir ziemlich stark aus Sozialpädagogen-Sicht auf den Jugendlichen und das ist natürlich auch sehr subjektiv geprägt. Und so gibt es die Hoffnung, dass es eine objektivere Sicht gibt und man damit auch besser an den Kernproblemen des Jugendlichen arbeiten kann.“ (W3, 73) Bei konkreter Nachfrage nach überraschenden Erkenntnissen durch die Arbeit mit EQUALS nannte die Mehrheit der Befragten Hinweise auf internalisierende Probleme der Jugendlichen (z. B. ernsthafte depressive Symptome), die von ihnen zuvor nicht deutlich genug wahrgenommen wurden und dementsprechend auch keine adäquate Behandlung eingeleitet werden konnte. „Ja in dem Moment des Beantwortens, grade bei so traumatischen oder auch suizidalen oder depressiven Themenbereichen öffnet mir das schon die Augen, ja. Also dementsprechend ist man auch sensibilisiert. Man weiß mehr, man kann es einschätzen, man kann es auf die letzten drei Monate einschätzen, also es ist eigentlich eine konkrete Gefühlsangabe. Nee, finde ich gut.“ (C2, 38) Neben aufgedeckten affektiven Problematiken wurde auch von weiteren teils überraschenden Resultaten berichtet: „Also was eindrücklich ist, dass manche Sachen wir anders eingeschätzt hätten, als im Testergebnis rausgekommen ist. Zum Beispiel wenn's um Selbstsicherheit oder 491 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer Selbststeuerung ging. Dass wir gesagt haben, so sehen wir A. eigentlich nicht, wie das, was da als Ergebnis rausgekommen ist. […] Bei EQUALS kam eigentlich eher mehr Kompetenz raus als wir ihm zutrauen.“ (W3, 67 - 69) Ansonsten äußerte aber die Mehrheit der Befragten, dass die in der Software abgegebenen Beurteilungen einen hohen Übereinstimmungsgrad aufweisen mit den bisherigen, von ihnen selbst oder dem Team wahrgenommenen Eindrücken und fachlichen Einschätzungen. Die Befragten werten dies einerseits als Beleg für die hohe Qualität der eingesetzten Verfahren, andererseits sehen sie ihre fachliche Einschätzung bestätigt und abgesichert. Ein Großteil der BezugsbetreuerInnen nannte als Nutzen das beziehungs- und dialogförderliche teilstandardisierte Setting beim gemeinsamen Arbeiten mit EQUALS: „Weil die Beziehung zu den Menschen mit denen man dort am Gerät sitzt, einfach intensiver wird, man lernt die besser kennen, man beschäftigt sich […] das erlebe ich als positiv.“ (C2, 77) Dagegen wurde die Umsetzung des Instrumentes im Alltag von einem Großteil der Befragten skeptisch beurteilt, da es noch an einer Optimierung der Verwendung der knappen Ressourcen im Alltag sowie einer Handlungsroutine bedarf: „Ja, also ich sehe aktuell bei uns […], dass EQUALS nochmals anders ankommen muss, oder erst in einem Prozess des Ankommens ist, um es wirklich in der Alltagsarbeit hier zu integrieren. […] Vielleicht irgendwas um die Ergebnisse noch … Ich weiß nicht ob man das EQUALS selber vorwerfen kann, also ich denke letztendlich geht es darum, die Testergebnisse noch stärker im Alltag zu integrieren.“ (B2, 60) Fallverständnis Objektiverer Blick auf Jugendliche, Standardisierbarkeit, Internalisierende Probleme Umsetzung im pädagogischen Alltag Beziehungsförderung Nutzen BezugsbetreuerInnen Abb. 1 492 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer Auch fällt es den meisten Befragten noch schwer, gewonnene Erkenntnisse für ihre pädagogische Alltagsarbeit zu übersetzen: „Das ist jetzt eben der nächste Schritt, auf den wir eigentlich warten, wir haben es jetzt schon zwei-, dreimal angeschaut im Team und diskutiert wie die Ergebnisse zu interpretieren sind, aber man muss sagen, da sind noch viele Fragen offen im Moment. […] Wenn ich jetzt zum Beispiel einen Jugendlichen hab, der auffällig ist, oder seine Skala ist im auffälligen Bereich von der Selbststeuerung zum Beispiel, was heißt das für mich dann in der Pädagogik, wie setz ich das um, welche Ziele vereinbar ich dann mit ihm, wie arbeite ich mit ihm, welche pädagogischen Ansätze wähle ich für ihn, also da sind noch ganz viele Fragen eher offen.“ (W3, 26) Nutzen aus Perspektive der Jugendlichen Abbildung 2 veranschaulicht den von den Jugendlichen benannten Nutzen des Instruments. Die Jugendlichen erreichen einen Erkenntnisgewinn. Sie sehen in EQUALS das Potenzial, sich selber besser einzuschätzen und kennenzulernen. Auch sehen sie die Möglichkeit, Verhaltensmuster zusammen mit dem BezugsbetreuerInnen zu analysieren und gemeinsam alternative Strategien zu entwickeln: „Was hilfreich ist, ist, dass man sich selber erkennt, wie man ist und so.“ (B4: 273) Des Weiteren bringen es zwei Jugendliche für sich auf den Punkt, dass EQUALS nicht unbedingt die Interaktion zwischen ihnen und den Fachkräften zu gestalten hat, sondern dass der/ die BezugsbetreuerIn über das Instrument auch ein Mehr an Wissen über sie generieren kann: „Also ich glaub, er lässt sich bei seiner Arbeit nicht durch ein Programm beirren oder so, also ich mein, er macht seinen Job gut und er darf sich glaub gar nicht von so einem Ding beirren lassen, also ich mein, letzten Endes macht es einen guten Sozialpädagogen ja auch aus, wie er mit den Jugendlichen umgehen kann, wie er auf sie zugeht, dass sie ihm auch ein gewisses Vertrauen schenken und so. Und ich denke nicht, dass so eine Studie ihm eher hilft, dass er sieht, wie er auf sie zugehen kann und nicht mehr damit zu tun, dass es ihn verändert, sondern eher, dass er mehr Wissen hat.“ (W4: 149) Auf dieser Grundlage können dann auch wiederum Veränderungen und Entwicklungen besser für alle Beteiligten nachvollzogen werden: „Ja. Das kann wirklich helfen. Auch nachher für Sozialpädagogen, zum Einschätzen. Oder wie hat man sich jetzt positiv, negativ verändert, weil man kann es schon mit Reden probieren. Aber ein Kind gibt einem niemals so viel Einsicht, wenn es nicht will. Aber wenn es nachher die Tests ehrlich beantwortet, kann man dann daran sehen ,was hat sich verbessert oder verschlechtert und danach mit dem Jugendlichen darüber reden. Also kann es extrem helfen, jetzt bei solchen Einrichtungen wirklich einzuschätzen und dann auch zu helfen.“ (W3: 120) Die Jugendlichen sehen auch das Potenzial der Gegenüberstellungen von Selbst- und Fremdeinschätzungen in standardisierten Testverfahren: „Hilfreich war für mich, dass ich meine Schwächen und Stärken besser erkennen konnte, dass ich mich selber sehen konnte, wie ich bin, wie die anderen Leute mich sehen.“ (B4: 317) Des Weiteren werden in der Wahrnehmung der Jugendlichen Inhalte thematisiert, welche ohne EQUALS in der Hilfeplanung nicht berücksichtigt worden wären. Die Fachkräfte und die Jugendlichen selbst werden somit auf ihre blinden Flecken hingewiesen: „Weil so an einer Standortbestimmung [im Hilfeplangespräch, Anm. durch Autoren], oder auch an einem Einzelgespräch mit dem Pädagogen, kommt man gar nicht auf so Themen, die in dem Programm drin stehen. Und wenn man das Programm dann ausfüllt und mit der Bezugsperson darüber redet, weiß sie, dass man mit dem Thema noch Schwierigkeiten hat und spricht dich immer wieder mal drauf an und sonst kommt es gar nicht zum Vorschein.“ (W1: 156). 493 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer Neben dem Erkenntnisgewinn erhalten die Jugendlichen durch das EQUALS-Programm ein Handwerkszeug zur Selbstreflektion, was die Hälfte der Jugendlichen positiv aufgenommen hat. Durch die Auseinandersetzung werden Reflektionsprozesse über Vergangenes und neue Themen initiiert. Dies ist den Jugendlichen zwar gelegentlich schwer gefallen, die Beschäftigung mit den Themen in einem geschützten Rahmen hat aber ihre Entwicklung positiv beeinflusst: „Eben, also gut fand ich halt einfach, dass ich weiß, wie ich selber bin, aber es bringt dir eigentlich mehr, wenn du siehst wie es wirklich ist, du kannst ruhig sagen irgendwie, ich bin das oder ich bin der, aber wenn du etwas wahrheitsgetreu beantwortest und du siehst nachher, was bei dir zutrifft, von der Statistik her und so, dann hilft einem das schon, du denkst darüber nach, über dich selber, bei mir war es auch so, ich hab mehr über mich selber nachgedacht, mir überlegt, was könnte ich ändern und so. Ich war schon etwas ein Problemkind, immer noch etwas, aber ich mein so zu sehen, an was es eigentlich liegt, dass man dann auch daran arbeiten kann, das ist gut. Das hat mir extrem geholfen. (W4: 186) Das Programm unterstützt die selbstständige Feststellung von Veränderungen. Die Hälfte der Jugendlichen schätzt die Abbildung von Veränderungen durch das Programm sehr, da sie hierdurch ihr eigenes Potenzial sehen und positive Selbstwirksamkeitserfahrungen erleben. Befürchtungen möglicher Stigmatisierungen durch abweichende Ergebnisse in psychometrischen Verfahren werden von ihnen als Ausgangspunkte für positive Veränderungen umgedeutet: „Das du selber anschauen kannst und sagen kannst, das habe ich gut gemacht und das nicht so gut. Und wenn man das dann allen zeigen kann und sagst, ich bin kein schlechter Mensch, das und das bin ich halt nicht so gut, da muss ich mich darauf achten und es verbessern, das bringt dem Selbstvertrauen viel mehr.“ (W3: 171) Erkenntnisgewinn Selbstbeurteilung, Fremdbeurteilung, Gegenüberstellung von Selbst- und Fremdwahrnehmung Anregung zur Selbstreflektion Präsenz im Alltag Beziehungsförderung Selbstständige Feststellung von Veränderungen Nutzen Jugendliche Abb. 2 494 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer Auf die Frage hin, ob sich die Beziehung zwischen den Fachkräften und Jugendlichen aufgrund der Arbeit mit EQUALS verändert hat, haben explizit zwei Jugendliche eine Verbesserung der Beziehung feststellen können. Zwei Jugendliche haben keine Angaben gemacht. Die restlichen sechs Jugendlichen haben zwar keine Veränderungen, aber auch keine entstandenen Schwierigkeiten benannt. Der Hälfte der Jugendlichen sind einige Aspekte von EQUALS im Alltag und in anderen Lebensfeldern präsent. Sowohl die Ergebnisse der Testverfahren als auch die Arbeit mit dem Zielerreichungsinstrument und die damit verbundenen Gespräche mit den Bezugsbetreuern sind benannt worden: „Oder auch für mich selber, dass ich im Alltag merke, ja wir reden ja dann über die Stärken und Schwächen, dass ich dann merke, ja doch, das ist eine Stärke von mir oder eben merke, ja da sollte ich etwas mehr darauf achten.“ (W1: 187) Stärken und Schwächen von EQUALS aus der Perspektive der Befragten In der Benennung von Stärken und Schwächen aus der Perspektive der BezugsbetreuerInnen und der Jugendlichen werden vor allem Stärken (rd. 83 %) und vergleichsweiße wenig Schwächen (rd. 17 %) benannt. Insbesondere eine Auseinandersetzung mit den angeführten Schwachpunkten erscheint jedoch lohnenswert, um einer Qualitätsentwicklung zu entsprechen. Aus beiden Bereichen werden jeweils die drei prominentesten Aspekte beider Perspektiven vorgestellt. Abbildung 3 gibt einen Überblick über die Stärken aus der Perspektive der Fachkräfte und der Jugendlichen. Die Elemente der Anamnese und des Zielvereinbarungsinstruments werden von den Bezugsbetreuern tendenziell als nützlicher eingeschätzt als die psychometrische Testbatterie. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass Anamnese und Zielvereinbarungen als Kernbestandteile (sozial)pädagogischer Arbeit den meisten Fachkräften in anderen Formen bereits vor EQUALS vertraut waren, während die Anwendung der psychologisch-psychiatrisch ausgerichteten Testbatterie eher neu ist: „Ich selber hab jetzt aber so für mich gemerkt, dass ich den direkten Nutzen für mich erst mit den Zielerreichungs-Tests hatte, oder mit dem Zielerreichungs- Instrument, weil ich das unmittelbar anwenden konnte. Bei den anderen Tests wäre es für mich jetzt interessant gewesen, mehrere Tests […] also mit allen Jugendlichen mal einen zweiten oder dritten Durchgang machen zu können um zu sehen ob sich die eigene Einschätzung des Jugendlichen oder meine Einschätzung der Lage jetzt verändert hat.“ (B2, 14). Die Mehrheit der Jugendlichen sieht in der Feststellung ihrer persönlichen Schwächen eine Stärke im Programm, um auf dieser Grundlage Ziele zu formulieren und an der Verbesserung ihrer Kompetenzen zu arbeiten. „Ja, also wir machen das Programm und wenn uns auffällt, da hab ich jetzt noch Schwächen und so, dann schreiben wir das raus und reden später nochmal darüber und machen aus dem dann ein neues Ziel, wo wir dann in einem Monat wieder angucken, wie sich was verändert hat.“ (W1: 133) Die grafischen Darstellungen der Ergebnisse und deren Veränderungen durch die Software wurde durch die BezugsbetreuerInnen überwiegend positiv beurteilt: „Also für mich ist natürlich die Zielüberprüfung ein wesentlicher Bestandteil von EQUALS, aber natürlich auch die Beantwortung der einzelnen Module. Und diese Übersicht habe ich mir schon angeschaut, was dort sich verändert hat, wo es im Normalbereich ist, wo es noch ziemlich ausschlägt, da sieht man schon die eine oder andere Veränderung. Also diese Übersicht zu haben ist schon nicht schlecht. Weil die hat man im Monatsrückblick definitiv nicht. Also das so grafisch dargestellte, das hat man bei den Monatsrückblicken nicht, das müsste man separat halt irgendwie aufzeichnen. Beim EQUALS hat man es halt auf einer Seite und man kann es gleich sehen, mit den Daten, wo hat sich 495 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer was verändert. Das vereinfacht die Sache ziemlich.“ (B4: 63) Die Mehrheit der Jugendlichen hat ebenfalls positive Rückmeldungen zu den grafischen Darstellungen gegeben. Generell bewerten sie das Programm als gut verständlich und selbsterklärend. Die Visualisierung der Ergebnisse ist leicht interpretierbar und unterstützt die Rückgabegespräche der BezugsbetreuerInnen. „Ja doch, das schon, also wo ich das Resultat gesehen hab gestern, hab ich es eigentlich sofort verstanden, von Anfang an. Da musste ich nicht lange überlegen.“ (W1: 165) Gleichwohl wünschen sich die Jugendlichen auch ausreichend Zeit, um sich mit den Ergebnissen auseinanderzusetzen. Zudem haben sie angegeben, dass sie durch die Befragungen im Programm ihre Perspektive und ihre Meinung in die Hilfeplanung einbringen konnten. Vor allem introvertierten und zurückhaltenden Jugendlichen scheint die Verankerung der Partizipation im Zielerreichungsinstrument entgegenzukommen. Abbildung 4 zeigt die von den Jugendlichen und Fachkräften meistgenannten Schwächen des Instruments. Aus der Perspektive der BezugsbetreuerInnen wurden als größte Schwäche immer wieder der vergleichsweise hohe Aufwand in der Bearbeitung des Instruments und die geringen zeitlichen Ressourcen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe genannt. Die ausführliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Themen, welche durch die Jugendlichen als Stärke ausgelegt werden, ist in den Augen der Fachkräfte zu lang und zeitaufwendig. Dies führt auch zu fehlenden Rückmeldungen der Ergebnisse an die Jugendlichen, was unter den Gesichtspunkten der Transparenz und Partizipation für den weiteren Hilfeverlauf auch aus Sicht der Jugendlichen wenig förderlich ist: „Also wenn die hier wollen, dass es mir hilft, dass ich die Fragen beantwortet hab, müsste man es schon mit mir besprechen, also mir die Resultate sagen oder zeigen.“ (C2: 187) Abb. 3 Zielerreichungsinstrument Grafische Darstellung Anamnese BezugsbetreuerInnen Identifikation von Schwächen für Zielformulierung Grafische Darstellung Partizipation des Jugendlichen Jugendliche Stärken 496 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer Zudem erachten die BezugsbetreuerInnen die Fähigkeit von leistungsschwächeren oder unmotivierten Jugendlichen zur Bearbeitung von textlastigen Selbstbeurteilungen als kritisch. In den Selbstbeurteilungen haben sich deshalb die Vorlese-, Unterbrechungs- und Rückstellungsfunktion von nicht verstandenen Fragen, welche zum Abschluss gemeinsam mit den BezugsbetreuerInnen geklärt werden, als hilfreich erwiesen. Auch der zu hohe Komplexitätsgrad der Fragen für die Jugendlichen wurde genannt. Als einen letzten Schwachpunkt benennen die BezugsbetreuerInnen, dass die Bedienung der EQUALS-Software einen sicheren Umgang mit dem Computer voraussetzt: „Es gibt so einen Satz: Der Computer ist so schlau wie der, der ihn bedient. In dem Fall hat EQUALS eigentlich gar keinerlei Stärken, sondern ist für mich eigentlich eher die Frage, wie stark das Wissen des einzelnen Mitarbeiters ist, der mit diesem Werkzeug umgeht. Also wenn ich nicht weiß wie ich einen Hammer bediene, dann werde ich ihn auch nicht benutzen. Wenn ich aber weiß, wie das Ding funktioniert, dann kann ich damit einen Nagel einschlagen und dann ist es natürlich sehr wertvoll.“ (C2: 65) Trotz der Einführungsworkshops und Supports durch das EQUALS-Team zeigt sich teilweise eine mangelnde Bedienungskompetenz der Fachkräfte, weshalb sich drei Jugendliche eine Bedienungsanleitung im Programm gewünscht haben, um alle Features zu verstehen und Frustrationen aufgrund unbeabsichtigt gelöschter Eingaben präventiv zu begegnen. Als Nebeneffekt erleben die Jugendlichen ihren Wissensvorsprung gegenüber den BezugsbetreuerInnen im Bereich der Medienkompetenz positiv. Diskussion der Ergebnisse Mit der Evaluation wird offensichtlich, dass die Jugendlichen in EQUALS ein Verfahren sehen, das ihnen erlaubt, sich selbst besser zu verste- Abb. 4 Fragen zu schwer für Jugendliche Hoher Aufwand Technische Details/ Software Lange und komplizierte Fragen Hoher Zeitaufwand Anwendungsschwierigkeiten bei Fachkräften BezugsbetreuerInnen Jugendliche Schwächen 497 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer hen, ihre Veränderungen nachzuvollziehen und ihre eigene Hilfe selbst mitgestalten zu können. Demgegenüber zeigen sich auf der Ebene der Fachkräfte trotz geäußerten Interesses vor allem Schwierigkeiten im Implementations- und Anwendungsprozess. Diese drücken sich zum Teil in Unsicherheiten in der Anwendung des Instrumentes und der mangelnden Verwendung der Ergebnisse in der sozialpädagogischen Praxis aus. Dementsprechend bedarf es einer intensiveren Begleitung der Einrichtungen durch das EQUALS-Team sowie einer stärkeren Nutzung des Serviceangebots und der Kooperation durch die Einrichtungen selbst. Es wird deutlich, dass die Jugendlichen das Ziel, die Umsetzung und das Potenzial von EQUALS aktuell besser verstehen als ihre BezugsbetreuerInnen. Dieser Umstand kann wohl auf eine skeptische Haltung der Fachkräfte gegenüber computergestützten und psychometrischen Verfahren zurückgeführt werden. Deshalb muss bereits in der Ausbildung auch Wissen über psychologische und psychiatrische Grundkenntnisse vermittelt werden. Viel schwerwiegender scheint jedoch zu wiegen, dass die Einführung einer Innovation einer zusätzlichen Auseinandersetzung mit neuen Inhalten und der Etablierung von neuen Prozessen bedarf. Dies führt im überstrapazierten Alltagsgeschäft zu einer Abwehrhaltung bei den AnwenderInnen. Werden zudem durch die Leitungsebene unzureichende Ressourcen zur Verfügung gestellt, kommt es eher zu neuen Frustrationen bei den MitarbeiterInnen als zu einer verbesserten Qualitätsentwicklung. Solche und andere Widerstandsfaktoren sind im Implementierungsprozess neuer Instrumente in der jeweiligen sozialen Institution reflexiv zu beleuchten und lösungsorientiert zu bearbeiten. Eine lernende Organisation muss für ihre Weiterentwicklung in Form von Innovationsprozessen entsprechend zusätzliche Ressourcen bereithalten, um ihren Fachkräften ausreichende Freiräume für die Auseinandersetzung mit dem Neuen zu ermöglichen. Zur Unterstützung bietet sich die Ausbildung und Etablierung von EQUALS-MentorInnen in den jeweiligen Einrichtungen an, um Fähigkeitsbarrieren ab- und einen sicheren Umgang mit dem Computerprogramm aufzubauen. Es wurde deutlich, dass der Wille, mit EQUALS zu arbeiten, grundsätzlich vorhanden ist, die Fachkräfte aber in ihrem Wissen und Können befähigt werden müssen. Sind sie in der Lage mit dem Instrument zu arbeiten, Ergebnisse auszuwerten und mit den Jugendlichen zu besprechen, so wird dieses in der Alltagsarbeit als hilfreich erlebt und als Gewinn bewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass die EQUALS-Verfahren dazu geeignet sind, den Blick auf Ressourcen und Problembereiche der Jugendlichen zu lenken, die im Alltag oftmals weniger ersichtlich sind. Zudem lassen sich die Befürchtungen vor unehrlichen Antworten der Jugendlichen und dem Kontrollverlust in einem partizipativen und ergebnisoffenen Prozess widerlegen. Die Jugendlichen schätzen diese Haltung, was gegenseitiges Verständnis und Vertrauen für eine fruchtbare Beziehungsarbeit fördert, sodass sich die Jugendlichen aktiver in den Prozess einbringen und auf Interventionen einlassen. Vor diesem Hintergrund stellt EQUALS eine gute Grundlage für einen strukturierten und vertrauensvollen Dialog zwischen BezugsbetreuerInnen und Jugendlichen dar. Dies widerlegt die teilweise geäußerte Kritik an EQUALS und ähnlichen Instrumenten, wonach die Arbeit am Computer per se unpersönlich sei. Vielmehr scheint die computergestützte Arbeit die Beziehung zu den Menschen „mit dem man dort am Gerät sitzt“ (C2: 77) zu vertiefen. Der Schlüssel dazu ist aber vermutlich weniger die eigentliche Arbeit am Computer, sondern vielmehr die exklusive Zeit mit einer systematischen Beschäftigung mit der Biografie, Persönlichkeit und den Perspektiven der Jugendlichen. Entgegenzuhalten wäre, dass dies immanente Kernbestandteile der (sozial)pädagogischen Arbeit mit einem Bezugsjugendlichen sind und 498 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer nicht zwingend durch die aufwendige Arbeit mit einer Software einhergehen muss. Gleichwohl können mit der Einführung von EQUALS entsprechende Zeitfenster zur Bearbeitung relevanter Themen institutionalisiert werden. Auf Basis dieser partizipativen Grundhaltung sind die Fachkräfte gefordert, ein Stück ihrer Autorität zugunsten von Vertrauen und Kooperation aufzugeben und sich auf einen ergebnisoffenen Prozess mit dem Jugendlichen einzulassen. Dadurch werden sich die Jugendlichen ernst genommen fühlen und sich auf weitere Interventionen eher einlassen können. Zudem kann die positive Selbstwirksamkeitserfahrung in den nächsten Entwicklungsphasen wiederum als Ressource zur Verfügung stehen. Die Jugendlichen äußerten in den Interviews, dass sie transparent über ihre aktuelle Situation informiert werden wollen und dies nicht als Stigmatisierung, sondern als Ausgangspunkt für Veränderungen sehen. Vor diesem Hintergrund sollten die Fachkräfte weiter ermutigt werden, Transparenz und Partizipation im fachlichen Alltag zu leben. Die Jugendlichen werden dies mit einer ehrlichen Beteiligung im weiteren Hilfeprozess honorieren. Hierzu empfiehlt sich, die Jugendlichen im Voraus über die Beteiligungsverfahren adäquat entsprechend Geschlecht, Alter und sozio-kultureller Herkunft zu informieren. Fazit zur Einführung computergestützter Instrumente zur Qualitätsentwicklung in der Praxis Mit der Einführung der neuen Jugendstrafrechtsreform und des Bundeskinderschutzgesetzes werden Qualitätsziele - insbesondere bezüglich der Prozess- und Ergebnisqualität - in der Kinder- und Jugendhilfe in der Schweiz und in Deutschland konsequent formuliert. Tools wie EQUALS stellen diesbezüglich adäquate computergestützte Verfahren zur Verfügung, die bei der differenzierten Erfassung der persönlichen Verhältnisse der KlientInnen, der transparenten und partizipativen Prozessgestaltung, bei der Dokumentation von Veränderungen sowie einer objektiveren und besseren Datenqualität über die Hilfe hinweg durchaus hilfreich sind. Über die Evaluation von EQUALS wird deutlich, dass unabhängig davon welche Verfahren zur Umsetzung der Verpflichtung zur Qualitätsentwicklung kommen, auf mehreren Ebenen ein schwieriger, aber gestaltbarer Implementationsprozess in der Praxis ausgelöst wird. Folgenden Aspekten ist dabei besondere Beachtung zu schenken: ➤ Mögliche Ängste vor Vergleichen auf Leitungs- und Mitarbeiterebene aufgrund standardisierter Dokumentation der individuellen und institutionellen Erfolge. ➤ Widerstände bei den Fachkräften und Institutionen aus Angst vor Überforderungen durch vermehrte Dokumentationsanforderungen, wenn die notwendigen zeitlichen und monetären Ressourcen von der Leitungsebene und den Kostenträgern nicht entgegengehalten werden und der Mehraufwand in den Tagessätzen nicht realistisch abgedeckt wird. ➤ Abgleich mit den in den Einrichtungen bereits implementierten Instrumenten zur Vermeidung von Doppelspurigkeiten. ➤ Auseinandersetzung mit den Fragen, wie mit Informationen und Ergebnissen unter Wahrung des Datenschutzgesetzes umgegangen wird, wie diese den Jugendlichen und ihren Familien rückgemeldet und in die gemeinsame Hilfeplanung einbezogen werden, um nicht auf der Stufe einer bloßen Scheinpartizipation zu verharren. ➤ Reflexionen, welchen Einfluss die Transparenz und Partizipation auf die individuelle pädagogische Beziehungsarbeit und das Machtverhältnis zwischen BezugsbetreuerInnen und Jugendlichen sowie das generelle Verhältnis zwischen Helfer- und Klientensystem haben wird. 499 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer ➤ Notwendigkeit einer um diese benannten Aspekte sensibilisierten grundständigen Aus- und kontinuierlich adäquaten Weiterbildung aller Fachkräfte. Ausgehend von dem Subsidiaritätsprinzip und der rechtlichen Grundlage resultiert für jeden einzelnen freien Träger die Pflicht sich proaktiv mit der geforderten Qualitätsentwicklung verantwortungsvoll auseinanderzusetzen, wenn diese keine zu kleinteiligen Vorgaben erhalten, sondern ihre Selbstständigkeit nach § 4 Abs. 1 SGB VIII wahren wollen. Eine Sozialpädagogik, die sich den Handlungs- und Strukturmaximen der Lebensweltorientierung verschrieben hat, welche den/ die KlientIn als ExpertIn seiner/ ihrer Selbst und somit als Korrektiv zum Fachexpertenstatus versteht, sollte diese angestoßenen Fachstandards aus einem professionellen Selbstverständnis heraus mehr als begrüßen. Mit der Evaluation des Bundeskinderschutzgesetztes Ende 2015 wird sich zeigen, wie die freien Träger diese Verantwortung wahr- und angenommen haben. Es wäre den freien Trägern zu wünschen, praxistaugliche und ökonomische Verfahren zu entwickeln oder sich für bestehende Instrumente zu entscheiden, die von ihren MitarbeiterInnen getragen werden und ihren spezifischen Bedürfnissen entsprechen. Durch eine so gestaltete Etablierung machen die Fachkräfte positive Erfahrungen mit den Jugendlichen und dem Instrument, entdecken den Mehrwert in der Kosten-Nutzen-Erwägung für sich und die Einrichtung und entwickeln daraufhin Anwendungsroutinen im Alltagsgeschäft. Auf der anderen Seite muss den gesetzgebenden Behörden bewusst sein, dass die Umsetzungsprozesse langwierig sein können und im Rahmen ihrer Möglichkeiten nach § 85 Abs. 2 SGB VIII unterstützt werden müssen. Die Verantwortung für ein Gelingen darf nicht einseitig abgeschoben werden. Um dieser Gewährleistungspflicht als öffentlicher Träger der Jugendhilfe entsprechen zu können, bedarf es ebenfalls einer Überprüfung und Weiterentwicklung der eigenen Strukturen. Des Weiteren muss die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe bei der allgemeinen Ausformulierung ihres Qualitätskonzeptes darauf achten, dass ihre fachlichen Empfehlungen und Anforderungen zur Qualitätsentwicklung in der Lage sein müssen, die Partizipation der Jugendlichen zu stärken und die pädagogischen Fortschritte vor Ort in der Einrichtung adäquat abzubilden, damit sich ein unmittelbarer Nutzen für alle Beteiligten einstellen kann. Vor diesen Hintergründen sind nicht nur die freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe gefordert, sondern auch die (Landes-) Jugendhilfeausschüsse kommen nicht umhin, sich sowohl konzeptionell als auch fachpolitisch mit der Umsetzung einer adäquaten Qualitätsentwicklung auseinanderzusetzen (vgl. AGJ/ BAGLJAE 2012). M. A. Martin Schröder Dr. Marc Schmid lic. phil. Nils Jenkel Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik (KJPK) der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Forschungsabteilung Schanzenstr. 13 4056 Basel Schweiz martin.schroeder@upkbs.ch marc.schmid@upkbs.ch nils.jenkel@upkbs.ch M. A. Benjamin Shuler Reichensteinerstr. 17 4053 Basel beni_shuler@yahoo.com 500 uj 11+12 | 2014 Qualitätssicherung am Computer Literatur AGJ, BAGLJAE (2012): Handlungsempfehlungen zum Bundeskinderschutzgesetz. Orientierungsrahmen und erste Hinweise zur Umsetzung. Eigenverlag AGJ, Berlin Kuckarts, U., Dresing, T., Rädiker, S., Stefer, C. (2008): Qualitative Evaluation. Der Einstieg in die Praxis. 2. aktualisierte Aufl. VS Verlag, Wiesbaden Schmid, M., Kölch, M., Fegert, J. M., Schmeck, K., MAZ.- Team (2013): Abschlußbericht für den Fachausschuss für die Modellversuche und das Bundesamt für Justiz. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Erkenntnisse des Modellversuches Abklärung und Zielerreichung in stationären Maßnahmen (MAZ.). In: http: / / www.equals.ch/ modellversuchmaz/ abschlussbericht-maz/ viewdownload.html, 22. 8. 2014 Schmid, M., Schröder, M., Jenkel, N. (2012): Traumatisierte Kinder zwischen Psychotherapie und stationärer Jugendhilfe - gemeinsame Falldefinition und Hilfeplanung anhand von EQUALS. In Gahleitner S. B., Homfeldt, H. G. (Hrsg.): Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf. Beispiele und Lösungswege für Kooperation der sozialen Dienste. Beltz Juventa, Weinheim, 133-158 Schröder, M., Jenkel, N., Schmid, M. (2013): EQUALS - Ein teilstandardisiertes Instrument zur interdisziplinären Zielvereinbarung und Unterstützung des Hilfeplanverfahrens in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Gahleitner, S. B., Bilke, O., Wahlen, K. (Hrsg.): Bio-psycho-soziale Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe - interdisziplinäre Zugänge. Kohlhammer, Stuttgart, 171 - 187 Witzel, A. (2000): Das problemzentrierte Interview (26 Absätze). Forum: Qualitative Social Research (Online- Journal), 1(1). In: www.qualitative-research.net, fqstexte, 1-00, 1-00witzel-d.htm, 22. 8. 2014 2014. 110 Seiten. Mit Materialbeispielen und Online- Materialien (978-3-497-02447-6) kt Beschweren erlaubt Viele Einrichtungen stehen vor der Aufgabe, Beschwerdeverfahren zu entwickeln und mit Leben zu füllen. Dieses Buch stellt verschiedene Beschwerdeverfahren vor und bietet Unterstützung für die erfolgreiche Einführung in unterschiedlichen Einrichtungen. Fallbeispiele zeigen, wie durch ein gelungenes Beschwerdeverfahren die Rechte der Kinder und Jugendlichen gestärkt werden. Hinweise zu wichtigen Implementierungsschritten und Lösungsansätze für die typischen Stolpersteine helfen auf dem Weg zum individuellen und gelungenen Entwicklungsprozess. a www.reinhardt-verlag.de
