eJournals unsere jugend 66/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2014.art04d
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2014
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Schulungsprojekt Traumapädagogik als Antwort auf Traumafolgestörungen bei untergebrachten Jungen und Mädchen: Die St. Mauritz KJH Münster macht sich auf den Weg

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2014
Maria Krautkrämer-Oberhoff
Joachim Klein
Michael Macsenaere
Die Zunahme aggressiver Verhaltensweisen insbesondere bei Jungen und Mädchen im Alter zwischen acht und dreizehn Jahren und die als relativ wirkungslos erfahrenen Handlungsweisen und Beziehungsangebote der MitarbeiterInnen führten zur Initiative einer traumapädagogischen Qualifizierung
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19 unsere jugend, 66. Jg., S. 19 - 32 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art04d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Maria Krautkrämer- Oberhoff Jg.1954; Dipl.-Pädagogin, Supervisorin DGSv, Traumapädagogin, Erziehungsleiterin der St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe in Münster Schulungsprojekt Traumapädagogik als Antwort auf Traumafolgestörungen bei untergebrachten Jungen und Mädchen: Die St. Mauritz KJH Münster macht sich auf den Weg Die Zunahme aggressiver Verhaltensweisen insbesondere bei Jungen und Mädchen im Alter zwischen acht und dreizehn Jahren und die als relativ wirkungslos erfahrenen Handlungsweisen und Beziehungsangebote der MitarbeiterInnen führten zur Initiative einer traumapädagogischen Qualifizierung. Die St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe in Münster ist eine Jugendhilfeeinrichtung mit einem differenzierten sozialpädagogischen Betreuungsangebot. Das Angebot umfasst diagnostisch-klärende Kleinkindgruppen, koedukative Wohngruppen, eine Mädchenwohngruppe, Intensivgruppen für Jungen und Mädchen, Jugendwohngemeinschaften, Außenwohngruppen, heilpädagogische Tagesgruppen, ein Eltern-Kind-Haus, Inobhutnahme, westfälische Pflegefamilien und Bereitschaftspflegestellen. Die St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe verfügt über 207 Plätze und beschäftigt über 100 päd- Joachim Klein Jg. 1972; Diplom-Sportwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kinder- und Jugendhilfe Mainz und der Universität zu Köln Prof. Dr. Michael Macsenaere Jg. 1959, Dipl.-Psychologe, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe, Universität Mainz, Universität zu Köln, Hochschule Niederrhein 20 uj 1 | 2014 Schulungsprojekt Traumapädagogik agogische und psychologische Fachkräfte (www.st-mauritz.de). Die Initiative zu einer traumapädagogischen Qualifizierung entwickelte sich im Sommer 2007, als eine beunruhigende Zunahme von aggressiven Verhaltensweisen insbesondere bei Jungen und Mädchen im Alter zwischen acht und dreizehn Jahren zu beobachten war. Oftmals in kleinen Gruppen betrieben sie mutwillige Sachbeschädigung auf dem Gelände des Kinderheims und im weiteren Umfeld. Gleichzeitig häuften sich die aggressiven Handlungen sowohl gegen Kinder als auch gegen Erwachsene. Die Hemmschwelle, jemanden anzugreifen, zu bedrohen oder zu beschimpfen, war offensichtlich deutlich gesunken. Es blieb nicht aus, dass sich Erschöpfungszustände aufseiten der MitarbeiterInnen einstellten, was vor allem an der empfundenen relativen Wirkungslosigkeit der unternommenen Hilfeleistungen lag. Der Eindruck war, dass die bislang angewandten Handlungsweisen und Beziehungsangebote bezüglich dieser neuen Dimension an Gewaltbereitschaft nicht mehr ausreichten. Solch eine Verunsicherung ließ automatisch nach alternativen Konzepten Ausschau halten. Die ursächlichen Bedingungen und die Genese dieser Zerstörungswut mussten genauer in den Blick genommen und verstanden werden, um zu wirkungsvollen Instrumenten der Hilfestellung zu gelangen. Dies ließ ein Interesse an der Traumaforschung und insbesondere an der sich daraus entwickelten Traumapädagogik (Weiß 2010, 89, 166; Gahleitner 2011, 93) aufkommen. Diese Interessensausrichtung entstand aus dem Bewusstsein, dass es sich bei den Jungen und Mädchen in der St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe in den überwiegenden Fällen um traumatisierte Kinder handelte, die von Eltern oder Verwandten schwerwiegende Demütigungen, Schläge, Vernachlässigungen, Misshandlungen und Erniedrigungen erfahren hatten. Es war zu vermuten, dass das beobachtete aggressive Verhalten bzw. die ungesteuerten Impulsausbrüche zu den Folgeerscheinungen der erlittenen Traumata gehörten (Schmid u. a. 2007). Nun ist es nicht so, dass die Einrichtung bislang auf solche schwer beeinträchtigten Kinder nicht eingestellt war. Es verfügt seit Jahrzehnten über einen psychologischen Fachdienst mit differenzierten Angeboten in psychologischer Diagnostik und Therapie. Zusätzlich bestehen gute Kooperationen mit externen psychologischen und psychiatrischen Praxen sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Es tauchte jedoch als ein neuer Gesichtspunkt der Gedanke auf, ob nicht der Erziehungsalltag in den Wohngruppen noch mehr als bisher und vor allem noch gezielter als bisher als ein stabilisierender und wirksamer Ort für den sicheren Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen und die Aufarbeitung der Traumata genutzt werden könnte. Der traumapädagogische Ansatz regte zu diesen Überlegungen an und gewann in der internen Diskussion als eine mögliche neue Perspektive zunehmend an Bedeutung. So reifte allmählich die Idee heran, eine hausinterne Fortbildung zum Thema Traumapädagogik für die MitarbeiterInnen zu organisieren, um diesen neuen Ansatz näher kennenzulernen. Im Januar 2008 wurde dann ein dreitägiger „Schnupperkurs“ zum Thema „Pädagogischer Umgang mit traumatisierten Mädchen und Jungen“ angeboten, an dem 30 pädagogische MitarbeiterInnen von St. Mauritz teilnahmen. Diese erste Fortbildung wurde durchgeführt vom Zentrum für Traumapädagogik (ZTP) in Hanau. Die Veranstaltung hatte zum Ziel, Antworten auf die folgenden Fragen zu geben: Was ist ein Trauma? In welchen Facetten zeigt es sich? Was ist unter Traumapädagogik zu verstehen? Was bietet die Traumapädagogik für den Umgang im Alltag? 21 uj 1 | 2014 Schulungsprojekt Traumapädagogik Erste organisatorische Schritte Die TeilnehmerInnen kehrten aus dieser Fortbildung sehr angeregt in ihren Arbeitsalltag zurück. Die Diskussionen über das Erfahrene gingen auf der Mitarbeiterebene weiter, aber nicht nur dort. Auch die Leitung des Hauses diskutierte intensiv die Frage, ob ein traumafokussierter pädagogischer Ansatz für die St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe geeignet sein könnte und wenn ja, welche Bedeutung und Verbindlichkeit ihm zukommen sollte. Als der Träger signalisierte, dass er einer traumapädagogischen Qualifizierung der MitarbeiterInnen wohlwollend gegenüberstünde und eine halbe Dienststelle für die Leitung der umfassenden Qualifizierungsmaßnahme zur Verfügung stellte, war die Entscheidung gefallen. Traumapädagogik sollte nicht nur interessierten MitarbeiterInnen überlassen bleiben, sondern zu einem zentralen Konzept des pädagogischen Handelns der gesamten Institution werden. Und das hieß, dass alle hauptamtlichen pädagogischen und psychologisch-therapeutischen Fachkräfte in diese Schulungsmaßnahme einzubeziehen seien. Damit war das Qualifizierungsprojekt Traumapädagogik in der St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe aus der Taufe gehoben. Eine der beiden ErziehungsleiterInnen wechselte mit der Hälfte Ihres Deputats in die Projektleitung und begann damit, ein Design für die traumapädagogische Qualifizierung von insgesamt 80 MitarbeiterInnen zu entwerfen. Als ein wichtiges Strukturelement wurde die Bildung einer Projektbegleitgruppe (PBG) ins Auge gefasst. In diesem Gremium sollten alle relevanten Bereiche und Ebenen der Einrichtung vertreten sein: GruppenpädagogInnen, GruppenleiterInnen, therapeutische Fachkräfte, TeamberaterInnen, ErziehungsleiterInnen, Heimleiter, Projektleiterin. Die Aufgabe und Funktion wurden in Gestalt einer griffigen Trias umschrieben. Die Projektbegleitgruppe soll das Schulungsprojekt: mittragen - mitreflektieren - mitsteuern. In regelmäßigen monatlichen Sitzungen reflektierte die PBG den Prozess, wertete den aktuellen Lernstand aus und erarbeitete Vorschläge für das weitere Vorgehen. Aktiv eingebunden waren die Mitglieder in der Vermittlung von Inhalten in den Transfermodulen sowie in der Evaluation. Ferner erschien es sinnvoll, traumapädagogisch erfahrene SupervisorInnen hinzuzuziehen, welche die MitarbeiterInnen bei der Implementierung des neuen Konzepts und der Umsetzung des Gelernten unterstützen sollten. Und schließlich war an eine wissenschaftliche Evaluation der Auswirkungen und Effekte der Qualifizierungsmaßnahme durch das Institut für Kinder- und Jugendhilfe Mainz gedacht (www.ikj-mainz.de). Struktur, Prozess und Inhalte der geplanten Qualifizierungsmaßnahme Die folgende Abbildung soll einen Überblick über den strukturellen Rahmen und die Ablauforganisation der Schulungsmaßnahme vermitteln. Die insgesamt 80 sozialpädagogischen und therapeutischen Fachkräfte der St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe erhielten eine Basisschulung (s. Abb.1), die nach erfolgreicher Absolvierung mit einem Zertifikat „Fortgebildete Fachkraft in Traumapädagogik“ abgeschlossen werden konnte. Wer von den TeilnehmerInnen den Abschluss „Zusatzausbildung zur Traumapädagogin bzw. zum Traumapädagogen“ angestrebt hat, musste noch ergänzende Leistungen erbringen. 22 uj 1 | 2014 Schulungsprojekt Traumapädagogik Das zentrale Strukturelement der Schulungsmaßnahme waren die sechs dreitägigen Module, die von DozentenInnen des Zentrums für Traumapädagogik Hanau (ZTP) als Inhouse-Veranstaltung durchgeführt wurden. Es begann mit einer Einführung in die Psychotraumatologie: Wann liegt ein Trauma vor? Welche Folgeerscheinungen gibt es, und womit hat die stationäre Jugendhilfe zu tun? Ausführlich wurde die Traumapädagogik besprochen als eine Pädagogik, die im Wohngruppenalltag eine Traumabearbeitung ermöglicht. In diesem Kontext wurden die Rolle der GruppenpädagogenInnen, ihre Haltung und Beziehungsfähigkeit, die destabilisierende ebenso wie die tragende Kraft der Gruppe sowie die haltgebenden Strukturen thematisiert. Darüber hinaus ging es um Selbstbildungsprozesse, die den Kindern und Jugendlichen die Kontrolle über ihr Verhalten, ihre Gefühle und Empfindungen zurückgeben sollten. Anforderungen an die Elternarbeit wurden formuliert und die spezifischen Belastungen der PädagogenInnen in den Blick genommen. Der Nacharbeitung und Umsetzung des Gelernten in die Praxis dienten die zehn Transfer-Module, die von der Projektleiterin bzw. den Mitgliedern der Projektbegleitgruppe angeboten wurden. Hier fanden zusätzliche Themen Beachtung, die über das Angebot des ZTP hinausgingen. Dazu gehörten die Biografiearbeit, die Einbindung der Traumatherapie und die Entwicklung von Standards in der Heimerziehung. Bei letzterem Angebot ging es darum, die pädagogische Arbeit mit den Mädchen und Jungen von der Aufnahme bis zu ihrer Entlas- Einführung Gruppe Haltung Bindungspädagogik Selbstbildung Elternarbeit Trauma/ Traumafolgen Sicherer Ort Gruppe Haltung Therapie und Pädagogik Sekundäre Traumatisierung Elternarbeit Biografiearbeit Standards in der Heimerziehung 12 Sitzungen Supervision mit traumapäd. Fokussierung Wissenschaftliche Evaluation durch IKJ Schulungsmodule durch ZTP Transfermodule durch PL, PBG Abb. 1: Basisschulung für den Abschluss „Fortgebildete Fachkraft in Traumapädagogik“ (ZTP: Zentrum für Traumapädagogik Hanau; PL: Projektleiterin; PBG: Projektbegleitgruppe; IKJ: Institut für Kinder- und Jugendhilfe Mainz) 23 uj 1 | 2014 Schulungsprojekt Traumapädagogik sung unter traumapädagogische Gesichtspunkte zu stellen. Die Kinder und Jugendlichen sollten von Beginn an das Kinderheim als einen sicheren Ort erleben, von dem sie Aufmerksamkeit und Hilfe bezüglich ihrer erlittenen Traumata erfahren können. Neben den Transfer-Modulen dienten die begleitenden zwölf Sitzungen Supervision der Umsetzung traumapädagogischer Haltung und Methodik in die alltägliche Erziehungspraxis. Es wurden bevorzugt SupervisorInnen mit Erfahrung in Traumatologie und Traumapädagogik akquiriert, um eine Fokussierung der Supervision auf traumapädagogisches Handeln zu erreichen. Eine enge Verzahnung und Abstimmung zwischen Schulungsprozess und Supervisionsprozess sollte die Wirksamkeit und den Erfolg der Qualifizierung fördern. Den Abschluss der dreijährigen Qualifizierungsmaßnahme bildete dann ein dreitägiges Prüfungskolloquium, das im Januar 2011 stattfand. Von den insgesamt 80 AbsolventInnen des Schulungsprojektes hatten sich 45 TeilnehmerInnen zusätzlichen Prüfungsleistungen unterzogen und damit das Zertifikat zum Traumapädagogen bzw. zur Traumapädagogin durch das von der Deutschen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Traumapädagogik anerkannte Institut erworben. Beim Prüfungskolloquium wurden die einzelnen Teamgruppen aufgefordert, einen traumapädagogischen Theoriebeitrag sowie ein handlungsbezogenes Thema zu präsentieren, worüber sich im Anschluss ein Gespräch mit den DozentInnen entwickelte. Es ging vor allem darum, sich einen Eindruck darüber zu verschaffen, ob und wie der Transfer des Gelernten in die pädagogische Praxis gelungen ist. Die Vergabe der Zertifikate geschah in einem entsprechend feierlichen Rahmen. Damit fand das Schulungsprojekt Traumapädagogik seinen würdigen Abschluss. Ein erstes Fazit: Was hat sich im Gruppenalltag verändert? Die Ausgangslage, die zur Entscheidung für die umfassende traumapädagogische Inhouse- Fortbildung geführt hat, war die Erfahrung der PädagogInnen, dass traumatisierte Kinder und Jugendliche mit den bis dahin praktizierten Erziehungskonzepten nicht genügend stabilisiert werden konnten, was in etlichen Fällen Erschöpfungszustände und Gefühle von Ohnmacht und pädagogischer Unwirksamkeit hervorbrachte. Diese resignative Stimmung hat sich im Verlaufe der traumapädagogischen Qualifizierung sichtlich aufgehellt, und es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass an deren Stelle eine neue hoffnungsvolle Zuversicht getreten ist, auf die auftretenden Folgestörungen wirksam Einfluss nehmen zu können. Die Gründe für diese neu erwachte Zuversicht lassen sich konkret benennen und hängen wesentlich mit der Implementierung von traumapädagogischen Standards zusammen, welche die neue Grundlage für das pädagogische Handeln bilden. Dreh- und Angelpunkt ist eine bestimmte Haltung, die sogenannte traumapädagogische Haltung (Weiß 2011, 92), die durch das Verständnis charakterisiert ist, dass die Verhaltensweisen der Mädchen und Jungen als eine Überlebensstrategie und als Schutzmechanismus gegenüber den erlittenen körperlichen und seelischen Verletzungen zu verstehen sind. Diese„Annahme des guten Grundes“ lässt das Verhalten der Kinder als Überlebensstrategie erscheinen, die als eine positive Lebensleistung zu würdigen und der mit Wertschätzung zu begegnen ist. Die Haltung gibt den PädagogInnen eine Sicherheit darin, das oftmals äußerst heftige Verhalten einordnen und verstehen zu können, und schafft die notwendige innere Ruhe, in geeigneter Weise auf die ent- 24 uj 1 | 2014 Schulungsprojekt Traumapädagogik standene Situation zu reagieren. Wo früher aus einer Situation der Hilflosigkeit und Überforderung heraus unmittelbar nach TherapeutInnen gerufen wurde, können jetzt erst einmal die traumapädagogischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um die Erregung des Kindes zu beruhigen. Es gilt zusammen mit dem Kind einerseits die Trigger herauszufinden, die zur Erregung führen können und andererseits geeignete Gegenmaßnahmen zu besprechen, die geeignet sind, das Kind im Falle einer akuten Flashbacksituation ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Die traumapädagogische Haltung gilt es immer aufs Neue bewusst zu machen und als eine professionelle Einstellung zu verinnerlichen. Sie ist grundlegend für alle pädagogischen Beziehungsangebote. Das Erreichen dieser inneren Haltung ist nicht nur Aufgabe der einzelnen Fachkraft, sondern des ganzen Teams, ja die Gesamtorganisation steht diesbezüglich in der Verantwortung. Als ein zweiter Standard ist die Pädagogik des sicheren Ortes (Weiß 2011, 90) zu nennen, die sich darum bemüht, ein soziales Umfeld zu schaffen, das die Kinder vor Retraumatisierung schützt und das auf eine Traumabearbeitung im Alltag ausgerichtet ist. Gahleitner (2010, 43) erwähnt „die schützende Inselerfahrung inmitten des Alltags“, Schmid u. a. (2007, 333) sprechen von der„Sicherstellung eines stabilisierenden ‚sicheren‘ Milieus“ und Uttendörfer (2008, 50) schreibt von der Entwicklung der Kultur eines „sicheren Ortes“. In der Praxis greift dieser Standard bereits im Aufnahmeprocedere, indem nicht nur die Erwachsenen, sondern auch das Kind bzw. der Jugendliche nach seiner Einschätzung der Gründe für die Unterbringung befragt wird. Speziell für Jugendliche wurde ein Fragebogen entwickelt, der mit ihnen alleine bearbeitet wird, um ihnen die Chance zu geben, unabhängig von den Erziehungsberechtigten und dem Jugendamt sich zu ihren Gedanken, Gefühlen und Überlebensstrategien zu äußern. Für Jugendliche kann es entlastend sein, zu hören, dass die Fachkräfte in der St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe darum wissen und damit umgehen können, dass es z. B. junge Menschen gibt, die sich ritzen. Im Zusammenhang mit dem Schulungsprojekt hat sich bei den PädagogInnen mehr Achtsamkeit für die Gestaltung von Übergängen entwickelt. Beim Übergang vom Gruppenalltag zur Spieltherapie z. B. werden klare Vereinbarungen zwischen PädagogInnen und TherapeutInnen getroffen, wer das Kind bringt, wer es zurückbringt und welche Person anschließend für das Kind da ist. Gerade das verlässliche und einfühlsame Beziehungsangebot durch den/ die ErzieherIn lässt beim Kind die innere Sicherheit wachsen, die mit der äußeren Sicherheit korreliert. Die gleiche Achtsamkeit erfahren die Übergänge zur Schule und von der Schule oder auch zum Besuchskontakt zu den Eltern und wieder zurück in die Wohngruppe. Es gilt die Befindlichkeit des Kindes jeweils wahrzunehmen und darauf einzugehen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Transparenz im Alltag. Zur Orientierung für die Kinder wird über die An- und Abwesenheit der BetreuerIn verlässlich und visuell anschaulich informiert. Es wird für wichtig erachtet, dass das Kind weiß, wann, mit wem und wie lange eine Aktion stattfindet. Der „sichere Ort“ entsteht nicht dadurch, dass ein Schild mit dieser Aufschrift an der Wohngruppe hängt, sondern dadurch, dass er tagtäglich mit den Mädchen und Jungen gestaltet werden muss. Wer stationäre Wohngruppen kennt, weiß wie störanfällig diese Systeme sind. Eine Kultur der Sicherheit konnte nur dadurch entstehen, dass für die Kinder wie für die Erwachsenen Angebote zur Gefühlsregulation und zur Partizipation entwickelt wurden, wie auch eine Transparenz 25 uj 1 | 2014 Schulungsprojekt Traumapädagogik der Alltagsorganisation. Ganz entscheidend tragen hierzu die regelmäßige Durchführung von Reflektionsgruppen mit den Kindern und Jugendlichen bei. Sie erleben dort, dass erfahrene Unsicherheit reguliert werden und wieder in spürbare Sicherheit münden kann. Dazu gehören die tägliche Ampelrunde, die mit den Farben rot, gelb und grün das Verhalten der Kinder durch Selbst- und Fremdfeedbacks in den Blick nimmt, die Bigtalk-Runde, bei der die Jugendlichen eingeladen werden, sich zu ihren Gefühlen und Verhaltensweisen zu äußern, oder die Familienrunde in der familienanalogen Wohngruppe, die den Mädchen und Jungen ermöglicht, sich mit ihren Loyalitätsgefühlen gegenüber den leiblichen Eltern auseinanderzusetzen, ihre Beziehungsängste wahrzunehmen und ganz real ihren gemeinsamen Familienalltag zu gestalten. Die Kinder machen dabei die Erfahrung, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind, dass sich auch andere schwer damit tun, Impulsausbrüche zu kontrollieren, nichts mehr sagen zu können, sich zurückzuziehen oder mit körperlichen Symptomen zu reagieren. Ein weiterer wichtiger Standard ist die Etablierung eines hausinternen Schutzkonzeptes, das im Falle von Grenzüberschreitungen sowohl zum Schutz der Kinder wie der MitarbeiterInnen zur Anwendung kommt. Im Schutzprotokoll wird festgehalten, was genau passiert ist und wie es zu den Übergriffen kommen konnte. Es werden Kindersicht und Mitarbeitersicht nebeneinander gestellt. Ferner wird danach gefragt, an welcher Stelle es möglich gewesen wäre, anders zu handeln. Und schließlich wird der/ die VerursacherIn dazu aufgefordert, Maßnahmen der Wiedergutmachung und Versöhnung zu benennen. Indem das Schutzkonzept von Kindern wie MitarbeiterInnen gekannt und verinnerlicht ist, trägt es dazu bei, die Wohngruppe zu einem sicheren Ort zu machen, weil es ein systematisiertes Regularium darstellt, wie Gewalt zu vermeiden und im eingetretenen Konfliktfall zu lösen und wiedergutzumachen ist. Darüber hinaus ist es natürlich wichtig, dass auch das Kind lernt, eine eintretende Gefühlsüberflutung wieder unter Kontrolle zu bekommen und sich in Selbstwirksamkeit (Weiß 2011, 133) einzuüben. Die wichtigste Grundlage dafür ist ein sensibler Kontakt zum eigenen Körper und zu den eigenen Gefühlen, wie auch ein möglichst stabiles Selbstbewusstsein, um kritische Situationen zu meistern. Zu den Maßnahmen, die geeignet sind, die Selbstwirksamkeit der Kinder zu erhöhen, gehören z. B. regelmäßige körperliche Aktivitäten wie Rad fahren, Schwimmen, Skaten, Wandern, Laufen, Voltigieren, Trommeln, Klettern, Fußballtraining, erlebnispädagogische Maßnahmen etc. All diese Aktivitäten verhelfen dazu, dass das Kind sich spüren lernt, Gefühle und Empfindungen im Körper zu lokalisieren und möglichst auch zu benennen weiß. Es geht grundsätzlich darum, die Ressourcen der Kinder zu entwickeln, d. h. die Talente der Kinder hervorzuheben und diesen ein Betätigungs- und Entwicklungsfeld zu geben. Dies kann im Gruppenalltag geschehen oder aber auch in speziellen Förderangeboten in Sportclubs, Musikgruppen, Zirkusprojekten, Feriencamps etc. oder aber durch eine aktive Mitarbeit im Kinder- und Jugendparlament. Selbstwirksamkeit entwickelt sich auch dadurch, dass die Kinder die Ursachen dafür verstehen lernen, dass bei Impulsausbrüchen ihre Steuermöglichkeiten eingeschränkt sind, z. B. weil sie ein auftretendes Ereignis vorschnell als eine Gefahr einstufen. Nützlich können in solchen Situationen bestimmte Hilfen sein, wie z. B. ein Notfallgepäck, das dabei unterstützt, die Fähigkeit zur Selbstregulierung zurückzugewinnen. Und es gehört ebenso dazu, Glücksmomente mit den Kindern gemeinsam zu erleben und Erfolge gebührend zu feiern. Wer sich selbstwirksam erleben möchte, muss sich selbst verstehen. Dies ist durch das Angebot der Biografiearbeit (Krautkrämer-Oberhoff 2013, 126ff ) möglich, das von den Kindern ger- 26 uj 1 | 2014 Schulungsprojekt Traumapädagogik ne und aktiv angenommen wird. Eine Form ist die Arbeit mit dem Lebensbuch „Meine Geschichte“, wobei die Kinder- und Jugendlichen u. a. verstehen lernen, warum sie fremd untergebracht sind, wo ihre familiären Wurzeln sind, wie sie die Gegenwart gestalten möchten und welche Vorstellungsbilder sie von ihrer Zukunft besitzen. Biografiearbeit lehrt sowohl das Kind wie auch die BezugsbetreuerIn, mit der Lebensgeschichte und den Traumafolgestörungen sensibel und achtsam umzugehen und in diesem Prozess weder das Kind noch sich selbst als BegleiterIn zu überfordern. Die Fortbildung hat insgesamt ein Bewusstsein dafür geschaffen, welche Bedeutung und Wichtigkeit der Gruppenalltag für die Stabilisierung und auch Bewältigung von traumatischen Erfahrungen besitzt. Damit wird keineswegs das therapeutische Setting überflüssig, sondern es wird als ein weiterer Standard eine gute Vernetzung von Pädagogik und Therapie angestrebt. Am traumapädagogischen Schulungsprojekt in der St. Mauritz Kinder- Jugendhilfe haben beide Professionen teilgenommen. Wenn hausinterne TherapeutInnen und PädagogInnen einen gleichen Kenntnisstand, ein gleiches Verständnis und eine gemeinsame Haltung gegenüber dem Auftreten traumabedingter Verhaltensweisen besitzen, so hilft dies, einerseits Spaltungs- und Abwehrprozessen bei den Kindern gezielter entgegenzuwirken, andererseits eine Situation zu schaffen, die es erlaubt, sowohl im therapeutischen Setting wie auch im Gruppenalltag in abgestimmter Weise mit den auftretenden Folgestörungen umzugehen. Das Kind erlebt dann beide Felder als Orte, an denen seine traumatischen Erfahrungen als eine Realität verstanden und anerkannt sind und wo über sie gesprochen werden kann. Das therapeutische Einzelsetting behält aufgrund seiner spezifischen methodischen Möglichkeiten weiterhin seine besondere Bedeutung und Wichtigkeit. Bei guter Vernetzung zwischen Therapie und Wohngruppe können Bemühungen an beiden Orten jedoch noch besser aufeinander abgestimmt und damit noch wirkungsvoller werden. Es gehört deshalb mittlerweile zum selbstverständlichen Alltag, dass traumapädagogische Fallberatungen zwischen Bezugspädagogin, Therapeutin und Erziehungsleiterin organisiert werden, wo gemeinsam und interdisziplinär die Stabilisierung, Förderung und Perspektivklärung für das jeweilige Kind geleistet werden. Auch in der traumapädagogischen Teamberatung gewinnt die traumapädagogische Fallberatung an Bedeutung. Evaluationsergebnisse Die Durchführung einer derart umfassenden und mit erheblichen Investitionen verbundenen Schulung, wie sie in der St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe erfolgte, wurde durch eine Evaluation begleitet. Zum einen, um die Effekte bzw. den Nutzen dieser Maßnahme wissenschaftlich fundiert zu untersuchen und damit eine objektivierte Diskussionsgrundlage über die Legitimation des zu betreibenden Aufwands herzustellen. Zum anderen können Evaluationsergebnisse wichtige Erkenntnisse zur nachhaltigen Sicherung von Schulungseffekten bzw. zur Weiterentwicklung des einrichtungsinternen pädagogischen Konzepts für die Zeit nach Beendigung des Schulungsprojekts liefern. Um diese Zielstellungen umsetzen zu können, wurde das Evaluationsdesign in Form einer prospektiv angelegten Längsschnittstudie konzipiert, in der zeitnah zu verschiedenen Zeitpunkten des Schulungsprojekts (Beginn [t 1], Mitte [t 2], Ende [t 3]) umfassende Informationen sowohl über die pädagogischen Fachkräfte als auch über die betreuten Kinder und Jugendlichen in der St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe erhoben werden sollten. Das dabei einzusetzende Evaluationsinstrumentarium wurde vom Institut für Kinder und Jugendhilfe (IKJ) in Mainz in enger Abstimmung mit den projektverantwortlichen MitarbeiterInnen in St. Mauritz entwickelt und beinhaltet die folgenden Erhebungsinstrumente: 27 uj 1 | 2014 Schulungsprojekt Traumapädagogik ➤ EVAS-Erhebungsbögen zur individuellen Erfassung der Hilfeverläufe von Kindern und Jugendlichen, ➤ Mitarbeiter-Selbstbeurteilungsbögen zur individuellen Erfassung von Prozess- und Ergebnisqualität der Schulung, ➤ Mitarbeiter-Fremdbeurteilungsbögen (SupervisorInnen-Bögen) zur individuellen Erfassung der Ergebnisqualität der Schulung auf Mitarbeiterebene, ➤ Selbstbeurteilungsbögen für Kinder/ Jugendliche zur individuellen Erfassung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (mit traumapädagogischem Schwerpunkt), ➤ Fremdbeurteilungsbögen für Kinder/ Jugendliche zur individuellen Erfassung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (mit traumapädagogischem Schwerpunkt) durch pädagogische Fachkräfte der Einrichtung. Auf Basis der Informationen, die mithilfe dieses Instrumentariums gesammelt werden konnten, erfolgte am Ende des Evaluationsprojekts eine umfassende statistische Datenauswertung, deren zentrale Ergebnisse im Folgenden dargestellt sind (Macsenaere/ Klein 2011). Ausgangslage bei Schulungsbeginn (t 1) Die aus den subjektiven Erfahrungen der MitarbeiterInnen heraus beschriebene Ausgangssituation in der St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe spiegelt sich auch in den statistischen Ergebnissen der Ausgangserhebung zum Beginn des Schulungsprojekts wider: Die zu diesem Zeitpunkt in St. Mauritz betreuten Kinder und Jugendlichen weisen zu einem hohen Anteil traumatische Lebenserfahrungen auf (s. Abb. 2). Durchschnittlich liegt die Zahl bei rund zwei traumatischen Erlebnissen pro Kind/ Jugendlichem. Dabei stehen Vernachlässigung bzw. Verwahrlosung (71 %) deutlich an der Spitze der Problematik, gefolgt von gewalttätigen Angriffen durch Personen aus dem Familien- oder Bekanntenkreis (47 %). Jeder fünfte junge Mensch (20 %) ist in seinem Leben Opfer eines - ebenfalls durch eine Person aus dem Familien- oder Bekanntenkreis begangenen - sexuellen Missbrauchs geworden. Die Kinder und Jugendlichen der Jugendhilfe St. Mauritz stellen mit dieser großen Vorerfahbegründeter Verdacht 25 % unbekannt 6 % nein 6 % ja 63 % Abb. 2: Anteil Kinder/ Jugendliche mit traumatischen Erlebnissen 28 uj 1 | 2014 Schulungsprojekt Traumapädagogik rung traumatisierender Lebensereignisse und den oftmals damit verbundenen problematischen Verhaltensweisen wie soziale Unsicherheit (67 %), Bindungsbzw. Beziehungsstörungen (54 %), Aggressivität (49 %), depressives Verhalten (40 %) oder Dissozialität (34 %) jedoch keine außergewöhnliche Klientel für stationäre Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen dar. Ähnliche Häufigkeiten vorliegender Traumatisierungen sowie vergleichbarer psychischer Problemlagen finden sich wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge quasi regelhaft in Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe (Klein/ Erlacher/ Macsenaere 2003; Schmid 2012). Die Arbeit mit diesen zum Teil stark traumatisierten Kindern und Jugendlichen stellt für die betreffenden pädagogischen Fachkräfte eine enorme Belastungssituation dar, was sich auch in den Aussagen der MitarbeiterInnen der St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe bei Schulungsbeginn zeigt. 69 % empfinden durch ihre tägliche Arbeit eine hohe oder sogar sehr hohe psychische Belastung. Sowohl im theoretischen Wissen zu traumapädagogikspezifischen Konzepten, wie z. B. zu inneren und äußeren sicheren Orten, zum Bindungsverhalten junger Menschen oder zu deren Schutz vor (Re-)Traumatisierungen, als auch in praktischen Kompetenzen, z. B. beim Umgang mit Flashbacks sowie im Erkennen von Triggern oder von Bindungsproblemen von Kindern und Jugendlichen, weisen die pädagogischen Fachkräfte in St. Mauritz nach eigener Einschätzung zu Schulungsbeginn im Schnitt zwar befriedigende, aber noch deutlich optimierbare Fähigkeiten auf. Dementsprechend liegt der von den MitarbeiterInnen erwartete Nutzen des Schulungsprojekts sehr stark in der Erweiterung praktischer Kompetenzen (82 %) und im Zuwachs von theoretischem Wissen (78 %). Eine Abnahme der individuellen psychischen Belastung (26 %) sowie eine größere Zufriedenheit in der eigenen Arbeit (29 %) wird dagegen eher nicht angenommen, insbesondere wohl aufgrund der befürchteten höheren zeitlichen Belastung (38 %) sowie möglicher personeller Engpässe für die Dienstplangestaltung (36 %). Die ausbaubaren theoretischen wie praktischen Kompetenzen der Fachkräfte in St. Mauritz im Umgang mit traumatisierten jungen Menschen stellen im Arbeitsfeld stationärer Kinder- und Jugendhilfe - ähnlich wie der hohe Anteil traumatisierter Kinder und Jugendlicher - keine Ausnahme dar. Im Gegenteil: In der Mehrzahl der Einrichtungen fehlen in der Regel „spezifische pädagogische Konzepte für diese psychisch hoch belasteten - und alle psychosozialen HelferInnen herausfordernden - Kinder und Jugendlichen“ (Schmid u. a. 2007), was die Gefahr von erfolglosen Hilfedurchführungen bzw. Hilfeabbrüchen deutlich erhöht. Dementsprechend weisen traumatisierte Kinder und Jugendliche oftmals eine langjährige „Jugendhilfekarriere“ auf (Schmid 2012) - verbunden mit einer Vielzahl an Beziehungsabbrüchen, was wiederum die Erfolgswahrscheinlichkeit der darauf folgenden Jugendhilfemaßnahme(n) nachweisbar reduziert (Macsenaere/ Esser 2012). Effekte des Schulungsprojekts (t 1 bis t 3) Veränderungen bei den MitarbeiterInnen Die Veränderungsmessungen zwischen Beginn und Ende des Schulungsprojekts zeigen auf Mitarbeiterebene ein breites Spektrum deutlicher, in vielen Teilgebieten sogar sehr starker positiver Effekte (s. Abb. 3). In allen untersuchten Theoriebereichen (innerer bzw. äußerer sicherer Ort, Konzept des guten Grundes, Bindungsverhalten junger Menschen sowie Schutz vor (Re-)Traumatisierung) zeigen sich bei den pädagogischen Fachkräften in der Selbsteinschätzung hoch signifikante (p = .000; d = 2.26) Wissenszuwächse. (Statistische Signifikanz bedeutet, dass ein Ergebnis überzufällig ist. Das Ausmaß der Signifikanz wird durch den p-Wert beschrieben. Ein p von 0,01 sagt bei- 29 uj 1 | 2014 Schulungsprojekt Traumapädagogik spielsweise aus, dass der Effekt mit einer Wahrscheinlichkeit von nur einem Prozent zufällig auftreten kann. Der d-Wert ist ein internationales Maß für die Effektstärke.) Auch in allen untersuchten Teilaspekten der praktischen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen (z. B. Umgang mit Flashbacksituationen sowie Erkennen von dissoziativen Zuständen, Triggern oder Bindungsbedürfnissen junger Menschen) liegen die selbst beurteilten Kompetenzen der MitarbeiterInnen am Ende des Schulungsprojekts hoch signifikant über denen zu Schulungsbeginn. Diese sich in der Selbsteinschätzung der Schulungsteilnehmer ergebenden äußerst positiven Ergebnisse werden erhärtet durch die Fremdeinschätzungen der SupervisorInnen, die den pädagogischen Fachkräften ebenfalls hoch signifikante Zuwächse sowohl in ihrem theoretischen Wissen (p = .001; d = 1.21) als auch in ihren praktischen Fähigkeiten im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen (p = .001; d = 1.41) attestieren. Als weiteres positives Ergebnis des Schulungsprojekts ist ein offensichtlich sehr stark gewachsenes Verständnis der MitarbeiterInnen für traumatisierte Kinder und Jugendliche feststellbar, das sowohl in der Selbsteinschätzung der Fachkräfte (p = .000; d = .83) als auch in der Fremdeinschätzung der SupervisorInnen (p = .017; d = 1.20) statistisch wie praktisch bedeutsam ausfällt. Die im Vorfeld der Schulung erhoffte und im Laufe der Schulung vonseiten der Projektleitung subjektiv wahrgenommene Haltungsänderung (siehe oben) lässt sich demzufolge auch aus objektivierter statistischer Sicht bestätigen. Auch in der Zusammenarbeit der MitarbeiterInnen untereinander ist es im Laufe des Schulungsprojekts aus eigener Sicht zu einer deutlich verbesserten Zusammenarbeit gekommen (p = .001; d = .63). An dieser Stelle scheinen die im Schulungskonzept integrierten Teambuildingmaßnahmen offensichtlich gefruchtet zu haben. Weniger effektiv dagegen war die Schulung offenbar hinsichtlich der Abnahme der individuellen psychischen Belastung der MitarbeiterInnen sowie in Bezug auf eine größere Zufriedenheit in der eigenen Arbeit, die lediglich von 20 % bzw. 10 % der befragten Personen als ein positiver Effekt der Schulung angegeben wurden. 80 60 40 20 M Reduzierung Indexmittelwert Zuwachs C 63,3 52,2 41,5 76,3 72,2 70,0 theoretisches Wissen; p = .000; d = 2.26 praktische Fähigkeiten; p = .000; d = 1.37 Zusammenarbeit; p = .001; d = 0.63 Beginn Abschluss Abb. 3: Globale Schulungseffekte aus Sicht der pädagogischen Fachkräfte 30 uj 1 | 2014 Schulungsprojekt Traumapädagogik Auch aus Sicht der SupervisorInnen konnte die psychische Belastung der MitarbeiterInnen kurzfristig nicht nachweisbar gesenkt werden. Dies erfordert demnach offensichtlich einen über die Schulung hinaus länger andauernden Entwicklungsprozess, der vonseiten der Einrichtung im Rahmen der zukünftigen konzeptionellen Ausrichtung weiter im Fokus der Aufmerksamkeit stehen muss. Unterstützt werden kann dies möglicherweise durch die Tatsache, dass sich im Selbstverständnis der MitarbeiterInnen über die Teilnahme an der traumapädagogischen Schulung nachweisbare Veränderungen ergeben haben: Die Bedeutung der Selbstfürsorge als ein zentraler Aspekt einer gelingenden psychischen Gesundheitsvorsorge wurde in der Selbstbewertung der Fachkräfte signifikant erhöht (p = .047; d = .46), sodass der Umgang mit den vorhandenen Belastungsfaktoren in der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zukünftig möglicherweise als weniger stark beanspruchend erlebt wird. Veränderungen bei den Kindern Die beschriebene veränderte Haltung der MitarbeiterInnen und insbesondere ihr im Schulungsverlauf gestiegenes Verständnis für traumatisierte Kinder und Jugendliche spiegeln sich auch in den Selbstauskünften der betreuten jungen Menschen bei Abschluss des Schulungsprojekts wider: Sie fühlen sich tendenziell besser von ihren BetreuerInnen respektiert bzw. angenommen und beschützt und können mit ihnen signifikant besser über Erlebnisse und Gefühle reden (p = .002; d = .49). Weitere positive Effekte sind die signifikante Reduzierung länger anhaltender trauriger Phasen (p = .033; d = .31) sowie der tendenzielle Abbau von Schamgefühlen der Kinder und Jugendlichen für eigene schlimme Erlebnisse. Bestätigt werden diese positiven Effekte durch die Fremdeinschätzungen der pädagogischen Fachkräfte: Traurige Phasen ohne unmittelbar erkennbaren Grund kommen bei den betreuten Kindern und Jugendlichen am Ende des Schulungsprojekts signifikant seltener vor (p = .041; d = .24) und auch die unangemessenen Schamgefühle für Erlebnisse in der eigenen Vergangenheit konnten tendenziell reduziert werden. Neben diesen traumaspezifischen Aspekten wurden im Rahmen der statistischen Abschlussauswertung weitere Personenbzw. Hilfemerkmale zur Analyse der Effektivität des Schulungsprojekts herangezogen. Dazu wurde insbesondere ein Vergleich der Änderungen in der Effektivität der Jugendhilfemaßnahmen in der St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe über den Verlauf der Schulung hinweg vorgenommen. So wurden Änderungen in verschiedenen EVAS-Effektmaßen, wie z. B. dem Effektindex (Macsenaere/ Knab 2004), dem Ressourcenindex sowie dem Defizitindex, für die Jahrgänge 2008, 2009 und 2010 miteinander verglichen. Setzt man dabei die Werte für den Jahrgang 2008 (Schulungsbeginn) als Referenzwerte (oder Nullwerte), zeigen sich über diese Jahrgänge hinweg im Schnitt tendenzielle Zuwächse und damit Verbesserungen in allen Untersuchungsbereichen: Sowohl der Ressourcenaufbau als auch der Defizitabbau gelingen im Rahmen der zur Analyse herangezogenen Jugendhilfemaßnahmen mit zunehmender Dauer der Schulung immer besser und somit fällt auch die Gesamteffektivität der untersuchten Hilfen zunehmend höher aus (s. Abb. 4). Diese Veränderungen sind allerdings statistisch nicht signifikant (p > .05) und können daher lediglich als tendenzielle Hinweise und nicht als gesicherte Entwicklungen im Hinblick auf mittelbare Schulungseffekte auf der Ebene der betreuten Kinder und Jugendlichen betrachtet werden. Zur wissenschaftlichen Absicherung ist eine weitere kontinuierliche Dokumentation und Analyse der Effektivität der Hilfemaßnahmen in der St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe erforderlich. Über den gesamten Projektzeitraum betrachtet zeigen die Evaluationsergebnisse mitarbeiterwie auch kindbezogen eine Reihe positiver und zumeist statistisch signifikanter Entwicklungen 31 uj 1 | 2014 Schulungsprojekt Traumapädagogik auf. Diese Effekte benötigen allerdings hinreichend Zeit - insofern scheint der hier gewählte, mehrjährige Weg sinnhaft zu sein. Wie kann es weitergehen? Nach Abschluss des Schulungsprojektes Traumapädagogik hat sich eine neue Phase angeschlossen, in der es gilt, das Erlernte im pädagogischen Alltag nachhaltig zu etablieren und zu sichern. Die gewonnenen traumapädagogischen Kompetenzen stehen schnell in der Gefahr, von Alltagsstress wieder aufgefressen zu werden, wenn sie nicht eine systematisch geplante „Auffrischung“ erfahren. Deshalb bedarf es einer institutionellen Absichtserklärung und zugleich weiterer Investitionen, die erkennen lassen, dass die Traumapädagogik auch nach wie vor wichtig bleibt und ihre Weiterentwicklung ein angestrebtes Ziel ist. Für die Zukunft sind seitens der Institution St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe für die Mitarbeiter/ innen sowohl innerorganisatorische wie externe Angebote vorgesehen. Dazu gehören: die traumapädagogische Beratung der Teams, weitere Fortbildungseinheiten zu Traumapädagogik, die Fortführung der Arbeitsgruppe „Traumapädagogik“ und„Biografiearbeit“, ebenso die Weiterführung der Transfermodule mit allen MitarbeiterInnen sowie Angebote, die sowohl der Weiterqualifizierung bereits fortgebildeter wie der Nachschulung neuer Fachkräfte dienen. Als Fazit bleibt festzuhalten: Das Schulungsprojekt Traumapädagogik hat die pädagogische Arbeit in der St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe auf eine neue und fachlich fundierte Grundlage gestellt, die von allen als ein hoffnungsvoller Weg in die Zukunft betrachtet wird. Traumapädagogik ist mehr als die Anwendung von nur traumazentrierten Methoden. Es geht vielmehr um eine containende professionelle Haltung, welche sowohl Wissen über Traumata impliziert und die Auswirkungen erlittener Traumata auf die Entwicklung eines Kindes versteht, als auch ein pädagogisches Erfahrungsfeld anzubieten weiß, wo sich Kinder mit ihren Traumafolgestörungen sicher, geschützt und gefördert erleben können. 6 5 4 3 2 1 0 -1 -2 - Effektivitätsänderung + 5,85 4,48 4,37 1,71 1,67 0,92 2008 2009 2010 Hilfebeginn Ressourcenaufbau Defizitabbau Gesamteffektivität Abb. 4: Jahreskohortenspezifische Änderungen der EVAS-Effektmaße im Vergleich zum Schulungsbeginn 2008 32 uj 1 | 2014 Schulungsprojekt Traumapädagogik Literatur Gahleitner, S. B., 2010: Das therapeutische Milieu in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Trauma und Beziehungsarbeit in stationären Einrichtungen. Bonn Klein, J./ Erlacher, M./ Macsenaere, M., 2003: Die Kinderdorf-Effekte-Studie. Mainz Krautkrämer-Oberhoff, M./ Haaser, K., 2013: Traumapädagogik und Jugendhilfe. Eine Institution macht sich auf den Weg. In: Bausum, J./ Besser, L./ Küh, M./ Weiß, W. (Hrsg.): Traumapädagogik. Weinheim, S. 68 - 90 Krautkrämer-Oberhoff, M., 2013: Biografiearbeit mit dem Lebensbuch „Meine Geschichte“. In: Bausum, J./ Besser, L./ Küh, M./ Weiß, W. (Hrsg.): Traumapädagogik. Weinheim, S. 126 - 137 Macsenaere, M./ Klein, J., 2011: Evaluation des traumapädagogischen Schulungsprojekts in der Kinder- und Jugendhilfe St. Mauritz in Münster. Vortrag im Rahmen der Fachtagung „Traumapädagogik - ein hoffnungsvoller Weg in der stationären Jugendhilfe“ in Münster am 20.10.2011. www.st-mauritz.de/ downloads/ cate gory/ 3-fachtag-20-11-2011, 12. 8. 2013, 45 Seiten Maria Krautkrämer-Oberhoff St. Mauritz Kinder- und Jugendhilfe Mauritz-Lindenweg 56 48145 Münster Krautkraemer@st-mauritz.de Joachim Klein Prof. Dr. Michael Macsenaere IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH Saarstraße 1 55122 Mainz klein@ikj-mainz.de macsenaere@ikj-mainz.de Macsenaere, M./ Knab, E., 2004: EVAS - Eine Einführung. Freiburg Macsenaere, M./ Esser, K., 2012: Was wirkt in der Jugendhilfe? München Schmid, M./ Wiesinger, D./ Lang, B./ Jaszkowic, K./ Fegert, J. M., 2007: Brauchen wir Traumapädagogik? - Ein Plädoyer für die Entwicklung und Evaluation von traumapädagogischen Handlungskonzepten in der stationären Jugendhilfe. In: Kontext, 38 Jg., H. 4, S. 330 - 257 Schmid, M., 2012: Betreuungssettings für (komplex) traumatisierte Kinder. Konzepte und Strukturen optimieren. Vortrag auf der ConSozial in Nürnberg am 7. 11. 2012. Online unter www.equals.ch/ dateien/ betreuungssettings-fuer-traumatisierte-kinder.pdf, 12. 8. 2013, 42 Seiten Uttendörfer, J., 2008: Traumazentrierte Pädagogik. In: Unsere Jugend, 60. Jg., H. 2, S. 50 - 65 Weiß, W., 6 2011: Philipp sucht sein ich. Zum pädagogischen Umgang mit Traumata in den Erziehungshilfen. Weinheim