unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Zwischenruf: „Wie weiter, wenn die SPFH endgültig ruiniert ist?“
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Klaus Wolf
Es erscheint außerordentlich plausibel, Familien in Schwierigkeiten rechtzeitig und intensiv genug so zu unterstützen, dass die Entwicklungschancen der Kinder nachhaltig verbessert und die Bewältigungsversuche der Familienmitglieder angeregt und gefördert werden. Alle mir bekannten postmodernen Gesellschaften haben solche Unterstützungsformen entwickelt – einige sehr differenziert, andere erst rudimentär.
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229 unsere jugend, 66. Jg., S. 229 - 232 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art24d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. Klaus Wolf Jg. 1954; Professor für Erziehungswissenschaft/ Sozialpädagogik an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Aufwachsen und Entwicklungsverläufe unter ungünstigen Bedingungen, Interventionen Sozialer Dienste, stationäre und ambulante Erziehungshilfen Zwischenruf: „Wie weiter, wenn die SPFH endgültig ruiniert ist? “ Es erscheint außerordentlich plausibel, Familien in Schwierigkeiten rechtzeitig und intensiv genug so zu unterstützen, dass die Entwicklungschancen der Kinder nachhaltig verbessert und die Bewältigungsversuche der Familienmitglieder angeregt und gefördert werden. Alle mir bekannten postmodernen Gesellschaften haben solche Unterstützungsformen entwickelt - einige sehr differenziert, andere erst rudimentär. Die Antwort auf die gesellschaftliche Frage „Was tun wir mit den Kindern, die von ihren Eltern - aus welchen Gründen im Einzelfall auch immer - nicht hinreichend betreut werden? “ lautet dann: Neben der Herausnahme der Kinder und ihrer Betreuung an einem anderen Ort haben wir die Option geschaffen, die Lebens- und Entwicklungsbedingungen in der Familie so zu verbessern, dass die Kinder dort verbleiben können. Dazu werden dann Organisationen geschaffen und beauftragt, geeignete Programme entwickelt und Finanzierungsformen institutionalisiert, die dies ermöglichen sollen. Welche Organisationsformen, Programme und Finanzierungsformen dafür besonders geeignet sind, das kann umstritten sein, darüber dass eine solche Unterstützung grundsätzlich notwendig und sinnvoll ist, besteht ein breiter Konsens. In Deutschland ist die Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) spätestens mit dem Inkrafttreten des KJHG (heute: SGB VIII) als eine der Hilfen zur Erziehung rechtlich etabliert: Wenn es die richtige und geeignete Hilfe ist, besteht ein individueller Rechtsanspruch darauf. Das wollen einige Länder ändern - nach meinem Eindruck besonders die, die erhebliche Schwierigkeiten mit der Qualität ihrer Allgemeinen Sozialen Dienste haben und deswegen bei der Steuerung ihrer Hilfen zur Erziehung versagen -, aber bis eine Gesetzesänderung beschlossen und in Kraft gesetzt ist, gilt bekanntlich die bisherige Rechtsgrundlage. Öffentliche Verwaltungen, die sich nach dem Motto verhalten„die Gesetzeslage ist uns egal“ verhalten sich illegal und folgen vielleicht dem alten Spontispruch „legal, illegal, scheißegal“, zu dem das Staatsschauspiel Dresden übrigens ein anregendes Theaterstück aufführt (im Schauspielhaus - ob es auch in der Praxis der Sozialen Arbeit läuft, mögen die Sachsen beurteilen). 230 uj 5 | 2014 Zwischenruf Dabei kann die SPFH, wenn sie auf der Basis des aktuellen Wissens stattfindet und eine hinreichende Ausstattung vorhanden ist, durchaus die Bewältigungschancen von Familien in schwierigen Lebenslagen erhöhen und die Entwicklungschancen der Kinder auch in sehr schwierigen Situationen so verbessern, dass ihr Verbleib in der Familie verantwortet werden kann. Das belegen die Dissertationen zur SPFH und zur aufsuchenden Familienarbeit in den vergleichbaren Systemen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie zeigen, dass es guten Fachkräften oft gelingt, Vertrauensbeziehungen auch unter ungünstigen Startbedingungen allmählich aufzubauen, die Eltern-Kind-Beziehung positiv weiterzuentwickeln, sozialisatorische Netzwerke um die Kinder herum zu fördern, die materiellen Lebensbedingungen zu stabilisieren, in Clearingprozessen passende Vorschläge für eine nachhaltige Betreuung zu entwickeln und neuerdings auch Rückkehrprozesse von Kindern aus der Heimerziehung und aus Pflegefamilien konstruktiv zu begleiten. Das Kinder-, Jugend- und Familienhilfesystem in Deutschland hat drei verschiedene Hauptmodi der Intervention entwickelt: 1. die Verbesserung der Lebenslage der belasteten und benachteiligten Familie und die Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion in der Familie, 2. die Entwicklung sozialisatorischer Netzwerke insbesondere für die Kinder, durch die Einschränkungen in den Sozialisationsleistungen der Eltern (partiell) kompensiert werden können und den Kindern der Zugang zu Resilienz fördernden Ressourcen eröffnet werden und 3. die Suche nach einem anderen Lebensort auf Zeit oder auf Dauer in Pflegefamilien oder einer der vielfältigen Heimerziehungsformen. Wir sind gerade dabei, den ersten Interventionsmodus zu ruinieren und den zweiten abzuwürgen, bevor er sich richtig entwickeln konnte. Dies geschieht durch folgende Prozesse. Missbrauch der SPFH als Kontrollinstrument der Sozialen Dienste Die SPFH ist als Hilfe für die Personensorgeberechtigten, die sie freiwillig beantragen können, im SGB VIII eingerichtet. Wenn sie die richtige und geeignete Hilfe ist, ist der Antrag zu bewilligen. Zwar hat sie es schon seit ihrer Einführung (in Vor-KJHG-Zeiten) mit dem Problem zu tun, dass die Hoffnungen der Eltern auf Verbesserungen ihrer Situation, die Not im Familienleben und die Angst vor weitergehenden Eingriffen sehr oft zu ambivalenten Motivationen führen. Die Ambivalenz konnte oft durch eine wohlwollende professionelle Begleitung zugunsten eines größeren Vertrauens, eines zunehmenden Optimismus und steigender Selbstwirksamkeitserfahrungen verschoben werden. Inzwischen wird die SPFH vielenorts aber ganz ungeniert als Kontrollinstrument eingesetzt. Die Fachkräfte der SPFH werden dann zu einer Art Spionage im privaten Lebensfeld missbraucht. Jeglicher Vertrauensschutz entfällt, wenn diese Kontrollaufträge auch noch verdeckt erfolgen. Angebliche oder tatsächliche Gefährdungen des Kindeswohls müssen als Legitimation herhalten. Dass durch den Verlust des letzten Vertrauens die Wirksamkeit der SPFH geradezu aufgehoben wird, wird hingenommen oder ignoriert. Es wird dann oft eine wirkungslose Kontrollshow inszeniert, die weniger dem Kinderschutz als dem Schutz der ASD-Verantwortlichen dient. Wenn die Interventionen in der Spirale von nicht akzeptierten Kontrollen, Vertrauensverlust, Abkapselung der Probleme durch die Familienmitglieder und Verschärfung der Kontrolle gelandet sind, hat sie ihre Option als nachhaltige Hilfe endgültig verloren. SPFH als Feigenblatt Die Finanzierung über Fachleistungsstunden sollte eine Dosierung der Betreuungsintensität passend zum Belastungsprofil des Einzelfalls eröffnen und so ein breites Spektrum sehr unterschiedlich aufwändiger Betreuungssettings 231 uj 5 | 2014 Zwischenruf eröffnen. Heute haben wir Regionen, in denen bei der auf den Einzelfall bezogenen Klärung im Hilfeplan und im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte immer das gleiche Ergebnis herauskommt: z. B. fünf Stunden pro Woche. Differenzierte, individuelle Ziele auf der Basis einer sozialpädagogisch-hermeneutischen Diagnose, komplexe Einschätzungen des Betreuungsaufwandes im Einzelfall, Evaluation einer hinreichenden Betreuungsdichte - das erscheint dann als praxisferne Flausen. Die Verwaltung hat schon vorher entschieden und bürokratisch etablierte Standardisierungen festgelegt. In diesem starren Rahmen dürfen nun die Übungen stattfinden, die in ihm möglich sind und die von einer Fachkraft durchgeführt werden, die acht oder mehr Familien betreut. Am Ende beklagt man dann, so richtig wirksam sei das Ganze nicht, das Geld könne man also eigentlich sparen. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung organisiert eine überflüssige Intervention. Freie Träger als Subunternehmer in Scheinselbstständigkeit Wenn die SPFH eingerichtet wird, haben die MitarbeiterInnen der Sozialen Dienste des Jugendamtes in der Regel einen Informationsvorsprung. Im Verlauf der Durchführung der Hilfe verschiebt sich dies zugunsten der Fachkraft in der Familie. Sie hat sich nun (hoffentlich! ) sehr differenzierte Eindrücke aus dem Alltag des Familienlebens erarbeitet, neue Einschätzungen zu den Risiken für die Entwicklung der Kinder entwickelt und die generellen Ziele hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit geprüft. In einer guten Kooperation von Fachkräften der gleichen Profession könnten diese Differenzierungen für die leistungsfähige Hilfe genutzt werden. Wenn allerdings die Kostenträgerseite nach dem Motto verfährt: „Wer bezahlt, bestimmt, was auf den Tisch kommt! “, die Freien Träger haben unsere Aufträge zu erfüllen, Rapport abzustatten (ich sage nur„8 a“) und werden von uns kontrolliert, ob sie uns nicht bei der Abrechnung betrügen (Stundenzettel, von den KlientInnen quittiert), dann arbeiten nicht zwei Fachkräfte gleichberechtigt zusammen, sondern die freien Träger werden zu Erfüllungsgehilfen des Amtes. Scheinselbstständigkeit wäre ein passender Begriff für diese Fernsteuerung. Trägervielfalt, Wunsch- und Wahlrecht, Subsidiarität? - Das sind Vorstellungen aus der Vormoderne, von denen sich kostenbewusste Verwaltungen befreit haben. Erreichen sie auf diesem Wege wenigstens Kosteneinsparungen? Ein Blick in die neuesten Daten zur Kostenentwicklung bei den Hilfen zur Erziehung zeigt, dass auch dieses Ziel verfehlt wird. Erstaunlich ist das nicht, wenn die Leistungsfähigkeit der personalintensiven sozialpädagogischen Interventionen durch ein solches obrigkeitsstaatliches Denken reduziert wird. Nach der Ehre der freien Träger fragen wir da wohl besser auch nicht. SPFH als Reparaturwerkstatt Die identitätsstiftenden Diskurse zur Lebensweltorientierung haben zu Bildern von Menschen in Schwierigkeiten und zu Interventionsmodellen als Dienstleistungen geführt, die einen Nutzen für sie haben können. Gilt das noch? Wenn Hilfepläne eher wie Reparaturlisten aussehen, in denen die Mängel und Defizite aufgelistet sind und der Erfolg als Mängelbeseitigung inszeniert wird, wird ein anderes Modell verfolgt. Die Familie erscheint dann als triviale Maschine, in die man zielgerichtet hineinintervenieren kann, klinisch orientierte Treatmentprogramme kennzeichnen das Methodenrepertoire und ein Diagnosesystem mit psychiatrischen Codes wird als Sozialpädagogische Diagnose bezeichnet - Begriffe nach Marketingstrategien kreiert, je weniger man von Sozialpädagogik versteht, desto entspannter kann man das machen. So wird das Besondere sozialpädagogischer Interventionen zugunsten semiprofessioneller klinischer Interventionen aufgegeben. Sozialpädagogische Fachkräfte arbeiten dann als LaienfamilienpsychiaterInnen, ein professioneller Überhang ist von 232 uj 5 | 2014 Zwischenruf ihnen nicht mehr zu erwarten und man sollte die Familienhilfe dann auch nicht mehr sozialpädagogisch nennen. Fazit: Was werden wir tun, wenn sie endgültig ruiniert ist? Die hier grob skizzierten Prozesse führen dazu, dass die SPFH erodiert, ihre potenzielle Leistungsfähigkeit verliert und an Ansehen weiter einbüßt. Das erfolgt nicht überall gleich schnell. Es gibt die Erosions-Avantgarde und die, die noch hinterherhinken und ordentliche Sozialpädagogische Familienhilfe leisten. Die letzte Gruppe fällt aber allmählich auf. Der/ die BeobachterIn wundert sich, wenn er/ sie auf eine Kommune trifft, in der eine Fachkraft auf einer vollen Stelle vielleicht vier Familien betreut, eine differenzierte Hilfeplanung bei echter Partizipation der Familienmitglieder erfolgt, SozialarbeiterInnen kommunaler und freier Träger auf Augenhöhe zusammenarbeiten und sozialpädagogische Kategorien bei der Erarbeitung der Ziele angewendet werden. Diese Hinterherhinker beim Ruinieren der SPFH könnten uns als Orientierung dienen, wenn wir einen radikalen Richtungswechsel vornehmen. Aber danach sieht es nicht aus. Soll ich noch ein paar Ideen entwickeln, was wir nach erfolgreicher Zerstörung der SPFH tun können? Ich denke gar nicht daran. Das sollen dann die machen, die vorher den Schaden angerichtet haben. Sie werden schon einen neuen Markt schaffen - darauf können wir uns verlassen. Prof. Klaus Wolf Universität Siegen Fakultät II Department Erziehungswissenschaft und Psychologie Adolf-Reichwein-Str. 2 57068 Siegen Klaus.Wolf@uni-siegen.de
