unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2014.art38d
71
2014
667+8
Zur Theorie und Praxis der Verhaltensorientierten Sozialen Arbeit
71
2014
Mathias Blanz
Frank Como-Zipfel
Franz J. Schermer
Die professionellen Entscheidungen, die PraktikerInnen der Sozialen Arbeit in ihrem Berufsalltag fällen, haben weitreichende Folgen: sowohl gegenüber ihrer Klientel als auch gegenüber der Gesellschaft als Ganzes. Diese Entscheidungen dürfen daher nicht auf der Grundlage persönlicher Voreingenommenheit oder veralteter Hypothesen getroffen werden, sondern vielmehr auf Grundlage praxisorientierter und wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse darüber, wie menschliche Interaktionen und Verhaltensweisen entstehen und beeinflusst werden – insbesondere hinsichtlich der individuellen Lerngeschichte sowie der Einflussfaktoren aus der Lebensumwelt ihrer Klientel. Die Lerntheorien und im Besonderen die angewandte Verhaltensanalyse bieten hierfür eine Wissensgrundlage. Aufbauend auf einem funktionalen und kontextualen Verständnis darüber, wie Verhalten gelernt, generalisiert und aufrechterhalten wird, bietet die verhaltensorientierte Soziale Arbeit individuell zugeschnittene, kontextspezifische Interventionen, die ethisch fundiert, transparent und partizipativ ausgerichtet sind (vgl. Dillenburger 2013, 7f).
4_066_2014_7+8_0006
326 unsere jugend, 66. Jg., S. 326 - 342 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art38d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. Mathias Blanz Jg. 1959; Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, Dr. rer. nat., Privatdozent, Professor für Sozial-, Organisations-, Kommunikations- und Medienpsychologie sowie Forschungsmethoden und Statistik im Studiengang Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt Zur Theorie und Praxis der Verhaltensorientierten Sozialen Arbeit Die professionellen Entscheidungen, die PraktikerInnen der Sozialen Arbeit in ihrem Berufsalltag fällen, haben weitreichende Folgen: sowohl gegenüber ihrer Klientel als auch gegenüber der Gesellschaft als Ganzes. Diese Entscheidungen dürfen daher nicht auf der Grundlage persönlicher Voreingenommenheit oder veralteter Hypothesen getroffen werden, sondern vielmehr auf Grundlage praxisorientierter und wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse darüber, wie menschliche Interaktionen und Verhaltensweisen entstehen und beeinflusst werden - insbesondere hinsichtlich der individuellen Lerngeschichte sowie der Einflussfaktoren aus der Lebensumwelt ihrer Klientel. Die Lerntheorien und im Besonderen die angewandte Verhaltensanalyse bieten hierfür eine Wissensgrundlage. Aufbauend auf einem funktionalen und kontextualen Verständnis darüber, wie Verhalten gelernt, generalisiert und aufrechterhalten wird, bietet die verhaltensorientierte Soziale Arbeit individuell zugeschnittene, kontextspezifische Interventionen, die ethisch fundiert, transparent und partizipativ ausgerichtet sind (vgl. Dillenburger 2013, 7f ). Die Verhaltensorientierung ist ein zukunftsweisender Ansatz in der Sozialen Arbeit, der moderne sozialpolitische Entwicklungen, wie z. B. die Forderungen nach professioneller Qualitätssicherung, explizit berücksichtigt und sich in allen sozialpädagogischen Feldern umsetzen lässt. Der Erfolg dieses Konzepts basiert zum einen auf der sehr guten empirischen Fundierung seiner theoretischen Grundannahmen, zum anderen auf der durch zahlreiche Studien Prof. Dr. Frank Como-Zipfel Jg. 1962; Diplom-Sozialarbeiter, Dr. phil., Professor für sozialpädagogische Methoden mit empirisch-verhaltensorientiertem Schwerpunkt im Studiengang Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt Prof. Dr. Franz J. Schermer Jg. 1950; Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, Dr. phil., Professor für Allgemeine Psychologie, Klinische Psychologie und Schulsozialarbeit im Studiengang Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg- Schweinfurt 327 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit nachgewiesenen Wirksamkeit seiner Methoden. Doch während die verhaltensorientierte Soziale Arbeit im angloamerikanischen Raum (Behavioural Social Work) bereits seit den 1960er Jahren einen etablierten Zugang in der Sozialpädagogik darstellt, findet dieses Konzept in der deutschsprachigen Fachöffentlichkeit bislang nur einen relativ geringen Verbreitungsgrad (vgl. Como-Zipfel 2013, 16ff ). Ethische Fundierung In der verhaltensorientierten Sozialen Arbeit nimmt die vertiefte Auseinandersetzung mit ihren berufsethischen Grundlagen bereits seit Jahrzehnten einen breiten Raum ein (vgl. Hudson/ Macdonald1986; Shaw 1977; Thomlison 1982). Grundsätzlich basiert die verhaltensorientierte Ethik auf einem optimistischen Menschenbild, nach dem das Individuum prinzipiell in der Lage ist, sein Verhalten zu ändern - da es nicht für immer darauf festgelegt ist, Handlungsweisen und Gewohnheiten, die Probleme und Leid erzeugen, beizubehalten. Die Verhaltensorientierung geht somit von aktiven und bewussten KlientInnen aus, die grundsätzlich die Kompetenz besitzen, selbstbestimmt auf ihr Handeln sowie auf ihre soziale und materielle Umwelt Einfluss zu nehmen. Zu den Kernzielen verhaltensorientierter Interventionen zählen daher die Förderung der Eigenverantwortung, Selbstregulation, Selbstbestimmung und Autonomie ihrer KlientInnen. Dies entspricht dem „socio-behavioral-approach“, den Edwin Thomas (1967 a, b), einer der Wegbereiter der Verhaltensorientierten Sozialen Arbeit, bereits in den 1960er Jahren entwickelte. Dieser Ansatz betont drei Aspekte: die „person-in-environment-perspective“ (unter Bezugnahme auf Richmond 1917), die Maßgabe „starting-where-the-client-is“ sowie eine „empirically-based-practice“ (Thomas 1967 a, b). Dies bedeutet in der Praxis: (1) eine Beschäftigung mit den problemgenerierenden und -aufrechterhaltenden Einflüssen aus der Alltagsumwelt der KlientInnen; (2) eine Analyse und Bewertung der aktuellen individuellen Fähigkeiten und Ressourcen eines/ einer KlientIn; (3) die gegenwartsbezogene und individuelle Gestaltung des Interventionsplans; (4) den Einsatz von aus der individuellen Analyse abgeleiteten Methoden, deren Wirksamkeit hinsichtlich der Problemlagen eines/ einer KlientIn empirisch geprüft sind; (5) die fortlaufende Evaluation des Hilfeprozesses (Como-Zipfel 2013; Gambrill 1995; Marsh 2004). Die Verhaltensorientierte Soziale Arbeit sieht dabei das Verhalten, das ein/ e KlientIn gegenwärtig zeigt, als den Ansatzpunkt für Veränderungen an. Sie erfragt beispielsweise, wie ein arbeitsloser Klient seinen Tag strukturiert, welche Schritte er unternimmt, um beruflich wieder Fuß zu fassen etc. Weiterhin ist für sie von Interesse, weshalb er sich so und nicht anders verhält und ob sein Verhalten im Einklang mit den Zielen steht, die er für sich erreichen möchte. Auf dieser Analyse aufbauend werden gemeinsam mit dem Klienten Verhaltensänderungen initiiert. Dabei ist prinzipiell ein transparentes Vorgehen charakteristisch: Mit dem Klienten wird ein Erklärungsmodell für sein Problemverhalten erarbeitet, die Ziele werden gemeinsam festgelegt, der Ablauf und die voraussichtliche Wirkungsweise der Intervention werden besprochen und erklärt. Im Sinne eines „informed consent“ bilden Klient und BeraterIn eine Arbeitsgemeinschaft, in der das Problem in Kooperation angegangen und gelöst wird. Es wird darüber hinaus angestrebt, dass sich auf diese Weise auch die allgemeine Problemlösefähigkeit des Klienten erhöht, sodass eine Generalisierung auf andere Verhaltensweisen stattfinden kann (vgl. Cigno/ Bourn 1998; Löbmann/ Como-Zipfel 2012). Die ethisch verantwortungsvolle verhaltensorientierte Praxis in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit erfordert von den dort tätigen Fachkräften vor allem drei Voraussetzungen: (1) die Bereitschaft und Fähigkeit zur Reflexion der ethischen Dimensionen ihres professionellen Handelns, (2) die profunde Fachkenntnis 328 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit von verhaltensorientierten Diagnose- und Interventionsmethoden in Theorie und Praxis und (3) die Bereitschaft, diese Kenntnis durch kontinuierliche Fort- und Weiterbildungen auf dem aktuellen Stand zu halten. In aller Regel wird ein vertieftes Fachwissen in der verhaltensorientierten Vorgehensweise erst im Anschluss an ein einschlägiges Studium (i. d. R. einen Bachelorabschluss in Sozialer Arbeit) erworben. Solche an das Studium anschließenden, meist mehrjährigen und berufsbegleitenden Weiterbildungen bestehen beispielsweise aus einem Master-Weiterbildungsstudium in Verhaltensorientierter Beratung (z. B. Hochschule Luzern, Fachhochschule Zürich, Hochschule Würzburg- Schweinfurt) oder aus verhaltensorientierten Fort- und Weiterbildungen (z. B. Arbeitsgemeinschaft für Verhaltensmodifikation, Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie). Eine Ausnahme stellen der Bachelorstudiengang Soziale Arbeit und der dazugehörige konsekutive (Vollzeit-)Masterstudiengang Soziale Arbeit an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt dar, die - einmalig in Deutschland - ein verhaltensorientiertes Profil aufweisen (vgl. Löbmann/ Como-Zipfel 2012) Konzept und Methodologie Das auf den Lerntheorien basierende Konzept der verhaltensorientierten Sozialen Arbeit geht davon aus, dass ein Großteil menschlichen Verhaltens gelernt ist und demzufolge problematisches Verhalten wieder verlernt und zielführendes Verhalten neu aufgebaut werden kann. Typisch für diese Sichtweise ist dabei die Gegenwartsorientierung: Prädisponierende, genetische und somatische Gegebenheiten (wie z. B. Temperament) sowie psychische und soziale Erfahrungen aus der Vergangenheit (z. B. Scheidung der Eltern) werden zwar in die Informationsgewinnung einbezogen, können aber nicht mehr bzw. nur begrenzt verändert werden, so dass die Intervention an einer Analyse der gegenwärtigen auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen des Problemverhaltens ansetzt. Ein zweites typisches Merkmal des Konzepts ist die empirische Überprüfung der angestrebten Veränderung: Das Problemverhalten wird zunächst genau definiert (Operationalisierung; auch als qualitative Analyse bezeichnet) und in seiner Häufigkeit erfasst (sog. Grundratenerhebung; auch als quantitative Analyse bezeichnet), bevor die Intervention erfolgt. Während des Interventionsprozesses wird das gezeigte Problemverhalten auch weiterhin regelmäßig registriert (prozessbegleitende Evaluation), um abschätzen zu können, ob die Intervention tatsächlich eine Änderung des Verhaltens bewirkt hat (vgl. Cigno/ Bourn 1998). Unter „Verhalten“ wird dabei in erster Linie äußerlich beobachtbares (motorisches) Verhalten verstanden, wobei während des Hilfeprozesses auch die „erschlossenen“ Ebenen des emotionalen, kognitiven und physiologischen Verhaltens betrachtet werden. Zur Erklärung problematischen Verhaltens und dem Aufbau erwünschter Verhaltensalternativen wird in der verhaltensorientierten Sozialen Arbeit insbesondere auf die Lerntheorien zurückgegriffen. Neben der Theorie des respondenten Lernens (Pawlow 1953) sind die wichtigsten beiden Ansätze das Prinzip des operanten Lernens (Skinner 1974) und die sozial-kognitive Lerntheorie (Bandura 1991). Diese Theorien können hier natürlich nicht in ihrer Komplexität und empirischen Fundierung ausgeführt werden (für eine detaillierte Darstellung siehe z. B. Bodenmann et al. 2004; Schermer 2014). Daher seien an dieser Stelle nur noch einmal die wichtigsten Grundprinzipien erwähnt: ➤ Nach der Theorie des respondenten Lernens gibt es nicht-gelernte (unkonditionierte) Reize/ Stimuli (UCS), die aufgrund angeborener Reflexe bestimmte unkonditionierte Reaktionen (UCR) auslösen. In Kopplung eines unkonditionierten Stimulus (UCS) mit einem neutralen Stimulus (NS) kann mittels eines Lernprozesses der vormals neutrale Stimulus eine 329 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit unkonditionierte Reaktion auslösen, welche nun bedingte (konditionierte) Reaktion (CR) genannt wird. Diesen Lernprozess bezeichnet man als respondentes Lernen (oder klassische Konditionierung). Klassisch konditionierte Reaktionen können dabei auch durch dem konditionierten Reiz ähnliche Stimuli ausgelöst werden (sog. Reizgeneralisation; vgl. Lefrancois 2006; Schermer 2011, 2014). Ein Beispiel dazu findet sich in dem weiter unten dargestellten Fallbericht in Box 1. ➤ Nach dem Prinzip der operanten Konditionierung lernen Menschen durch die Konsequenzen auf das von ihnen zuvor gezeigte Verhalten: Was für das Individuum angenehme Folgen hat, wird wiederholt. Umgekehrt wird dasjenige Verhalten immer seltener auftreten, welches negative Konsequenzen zur Folge hat. Gleichzeitig wird gelernt, in welchen Situationen das Verhalten erfolgversprechend ist, sodass bestimmte situative Bedingungen sehr wahrscheinlich zu zukünftigen Auslösern des Verhaltens werden. In die Erklärung des Verhaltens werden außerdem biologische Variablen und die aktuelle Befindlichkeit mit einbezogen. So erhöht beispielsweise ein hyperkinetisches Syndrom, gekoppelt mit aktuellem Alkoholkonsum, die Wahrscheinlichkeit enthemmten, verstärkt impulsiven Verhaltens eines Jugendlichen (vgl. Neuy-Bartmann 2014). Wichtig ist dabei der zeitliche Abstand zwischen dem Verhalten und seiner Konsequenz: Kurzfristige Konsequenzen beeinflussen das Verhalten sehr viel stärker als langfristige Konsequenzen, auch wenn sie subjektiv für den/ die KlientIn weniger „bedeutsam“ erscheinen. ➤ Die sozial-kognitive Lerntheorie (Bandura 1991) ergänzt dieses Grundprinzip um eine weitere Dimension - die des Beobachtungsbzw. Modell-Lernens: Menschen können auch durch bloße Beobachtung anderer lernen, d. h. deren Verhalten übernehmen. Inwieweit es zur Verhaltensübernahme kommt, hängt wiederum von zahlreichen Einflussfaktoren ab, wie den Konsequenzen, die das Modell für sein Verhalten erfährt, der emotionalen Einstellung zu dem Modell und der Erfolgserwartung, die der Lernende für sich mit dem Verhalten verbindet. Charakteristisch für die verhaltensorientierte Soziale Arbeit ist schließlich auch ein zielorientiertes schrittweises Vorgehen. Zunächst werden die Problemlage analysiert, die Ursachen des Verhaltens herausgearbeitet und die angestrebten Ziele gemeinsam mit dem/ der KlientIn formuliert. Erst nach dieser ausführlichen Planungsphase (sog. „Verhaltensdiagnostik“) wird die Verhaltensänderung („Verhaltensmodifikation“) initiiert (vgl. Bartmann 2010). Hierbei wird die aktive Beteiligung des/ der KlientIn vorausgesetzt, eine bloße Einstellungsänderung oder Reflexion seiner/ ihrer Lage reicht nicht aus. Vielmehr ist er/ sie aufgefordert, die entsprechenden Verhaltensänderungen aktiv in seinem/ ihrem Alltag vorzunehmen, gleichsam einzuüben (vgl. Cigno/ Bourn 1998). Außerdem wird die Situation des/ der KlientIn auf zwei Ebenen betrachtet: Auf der Mikroebene wird ein ganz bestimmtes Verhalten dahingehend analysiert, wie es zustande gekommen ist und aufrechterhalten wird. Die Intervention setzt bei der Veränderung dieses bestimmten Verhaltens quasi als Angelpunkt der Gesamtveränderung an. Auf der Makroebene wird die Lebenssituation des/ der KlientIn einschließlich ihres sozialen und gesellschaftlichen Umfeldes betrachtet. Es werden langfristige Ziele gesetzt und die Verhaltensänderungen in einen größeren Kontext gestellt. Geht es im obigen Beispiel des enthemmten Jugendlichen etwa auf der Mikroebene darum, in den entsprechenden Auslösesituationen ein nicht-aggressives Alternativverhalten einzuüben, so wäre auf der Makroebene relevant, wie diese Verhaltensänderung des Jugendlichen z. B. von Elternhaus und Schule unterstützt und in seine langfristige Lebenszielplanung integriert werden könnte (vgl. Como-Zipfel/ Löbmann 2013). 330 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit Ein zentrales diagnostisches Instrument im verhaltensorientierten Hilfeprozess stellt die funktionale Verhaltensanalyse nach dem SORKC- Modell (Kanfer/ Saslow 1965; Kanfer/ Phillips 1975) dar, welche in Abbildung 1 veranschaulicht ist. Dabei steht „S“ für Reizbedingung (Stimulus), „O“ für Organismusvariable (körperlicher und geistiger Zustand), „R“ für Verhalten (Reaktion in den Manifestationsebenen: emotional, kognitiv, physiologisch, motorisch), „C“ für Konsequenz und „K“ für Kontingenz (ein Maß für die regelhafte Verbindung zwischen R und C; zum Beispiel: „Immer wenn R auftritt, folgt C“). In diesem Modell wird das Verhalten (R) als abhängig von vorausgehenden Stimuli (S), den Organismusvariablen (O) und den nachfolgenden systematischen (K) positiven oder negativen Konsequenzen (C) des Verhaltens definiert. Als exemplarische Orientierungsgröße für die Struktur der verhaltensorientierten Diagnostik und Hilfeplanung können die folgenden Fragestellungen dienen: (1) Welche besonderen Verhaltensmuster (= qualitative Analyse) verlangen eine Veränderung hinsichtlich ihrer Intensität, Häufigkeit oder Dauer (= quantitative Analyse)? Dieser Aspekt wird auch als„beschreibende (deskriptive) Verhaltensanalyse“ bezeichnet. (2) Die so genannte funktionale Analyse sucht Antworten auf folgende Fragen: Welches sind die Bedingungen, unter denen dieses Verhalten erworben wurde, und welche Faktoren halten es momentan aufrecht? Dies wird auch „erklärende (explikative) Verhaltensanalyse“ genannt. (3) Welches sind die wirksamsten Mittel (Interventionsmethoden), um die erwünschten Veränderungen des Verhaltens, der Umgebung oder der Selbsteinschätzung des/ der KlientIn zu erzielen (vgl. Kanfer et al. 2006, 90f ). Dieser Bereich bezieht sich auf die „prognostische Interventionsplanung“. Die verhaltensorientierten Interventionsmethoden, die in einem Hilfeprozess zum Tragen kommen, leiten sich - auf der Grundlage einer individuellen Verhaltensanalyse (siehe oben) - unmittelbar aus der lerntheoretischen Konzeption ab. Aus dem Bereich des respondenten Lernens umfassen sie u. a. die Löschung und die Gegenkonditionierung (z. B. mit den Techniken der schrittweisen Annäherung sowie Entspannungsverfahren), aus dem Bereich des operanten Lernens u. a. die positive und die differenzielle Verstärkung sowie die Bestrafung durch Verstärkerentzug z. B. unter Anwendung der Techniken der Token economy, des Shaping und Chaining, des Response cost, des Time out from positive reinforcement und des Verhalzeitlicher Verlauf Antecedens ➧ Handlung ➧ Postcedens S O R K C Stimulus Organismus Verhalten Kontingenz Konsequenz Extern (Umwelt), Intern (Selbst) Biologie, Verhaltenstendenzen, Selbstregulation Manifestationsebenen: emotional, kognitiv, motorisch, physiologisch Kontinuierlich, Intermittierend Unmittelbar, Verzögert Extern, Intern C+ Positive Verstärkung C / - Negative Verstärkung C / + Bestrafung durch Verstärkerentzug C- Bestrafung durch aversiven Reiz Abb. 1: Verhaltensgleichung SORKC-Modell 331 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit tensvertrages (erläuternd zu diesen Begriffen siehe: Blanz, Como-Zipfel/ Schermer 2013). Aus dem Bereich des sozial-kognitiven Lernens seien u. a. die Methoden der Beobachtung und der Selbstkontrolle (z. B. anhand von Techniken des partizipierenden Modell-Lernens, des Rollenspieles, des Selbstinstruktionstrainings und des Problemlösetrainings) genannt. Eine Zusammenfassung in Anlehnung an das grundlegende Modell sozialpädagogischen Handelns (Konzept - Methode - Technik) von Geißler/ Hege (2007) bezüglich der Interventionsmethoden in der Verhaltensorientierten Sozialen Arbeit ist in Abbildung 2 wiedergegeben. Die Klientel der Sozialen Arbeit zeigt in ihren sozialen Lebensumwelten häufig ein Handeln, das sich zwischen den Extremen eines „Verhaltensdefizites“ bzw. „Verhaltensexzesses“ bewegt. Ein Verhaltensdefizit bezeichnet ein eingeschränktes Repertoire z. B. an sozialen Kompetenzen, was bei den KlientInnen zu Unsicherheit, Schüchternheit, Redeangst, Selbstabwertung und Kontaktarmut bis hin zu Vermeidungsverhalten, Rückzug und sozialer Isolation führen kann. Ein Verhaltensexzess hingegen bezeichnet unangemessenes Verhalten z. B. in Form von massiven Wutausbrüchen aus nichtigem Anlass, gewalttätigem Verhalten bis hin zur Straffälligkeit, rücksichtslosem Durchsetzungsverhalten, impulsiv-riskantem Verhalten mit Selbst- und Fremdgefährdung. Sowohl bei Verhaltensdefiziten als auch bei Verhaltensexzessen handelt es sich um dysfunktionales Handeln, das in der sozialen Lebensumwelt zu erheblichen negativen Konsequenzen und einem individuellen Leidensdruck für die KlientInnen führen kann (vgl. Bartmann 2010; Pauls 2011). Erschwerend kommt hinzu, dass KlientInnen bisweilen durch ihre Herkunft aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen einem verstärkten Exklusionsrisiko ausgesetzt sind und professionellen Hilfsangeboten misstrauisch gegenüberstehen. Zudem fehlt KlientInnen in besonderen Beratungssettings (z. B. Zwangskontexten) bisweilen eine Problemeinsicht, sodass ideale Voraussetzungen für einen beginnenden Hilfeprozess nicht vorhanden sind. Doch auch bei diesen als „hard-to-reach“ (schwer erreichbaren; Geißler-Piltz 2004) bezeichneten KlientInnen können Hilfsangebote, die auf verhaltensorientierten Methoden beruhen, angemessene Förderungsmöglichkeiten bieten. Durch die Bezugnahme auf die Lerntheorien liegt diesen Methoden ein universelles Konzept menschlichen Handelns zugrunde. Daher ist die Anwendung des verhaltensorientierten Ansatzes prinzipiell für alle Klienten- Ebene „Konzept“ Respondentes Lernen Operantes Lernen Sozial-kognitives Lernen Ebene „Methoden“ Respondente Methoden: z. B. Löschung, Habituation, Gegenkonditionierung Operante Methoden: z. B. Positive Verstärkung, Differenzielle Verstärkung, Verstärkerentzug Sozial-kognitive Methoden: z. B. Beobachtung, Selbstkontrolle, Selbstmanagement Ebene „Techniken“ Respondente Techniken: z. B. Schrittweise Annäherung, Entspannungsverfahren Operante Techniken: z. B. Token economy, Shaping, Chaining, Response cost, Time out, Verhaltensvertrag Sozial-kognitive Techniken: z. B. partizipierendes Modell-Lernen, Rollenspiele, Selbstinstruktionstraining, Problemlösetraining Abb. 2: Interventionsmethoden der Verhaltensorientierten Sozialen Arbeit 332 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit gruppen der Sozialen Arbeit denkbar - auch bei komplexen sozialen Problemlagen, gesundheitlichen Einschränkungen, diversen Formen von Behinderung und psychischen Störungen. Dies gilt sowohl für die Arbeit mit Einzelpersonen als auch für die Arbeit mit Gruppen und Institutionen bzw. Gemeinwesen sowie für die Arbeit im ambulanten Bereich (z. B. Beratungsstellen), im stationären Bereich (z. B. Klinik, Heimeinrichtungen) und in Zwangskontexten (z. B. Strafvollzug). Dies wird durch die Tatsache unterstrichen, dass es heute eine umfangreiche Anzahl von evaluierten verhaltensorientierten Interventions-, Trainings- und Präventionsprogrammen gibt, die durch jahrelange empirische Überprüfung immer weiter differenziert und verbessert wurden (vgl. Como-Zipfel/ Löbmann 2013). Dabei gibt es für nahezu jede psychosoziale Problemlage meist sogar mehrere Interventionsansätze, die auf einer verhaltensorientierten Grundlage entwickelt wurden (vgl. Kröner-Herwig 2004; Bundespsychotherapeutenkammer 2009). Verhaltensorientierte Arbeit mit Einzelnen Die Bearbeitung individueller Problemlagen und Anliegen erfolgt mit der Verhaltensdiagnostik, welche durch folgende Merkmale bestimmt wird: (a) Fokussierung auf das Verhalten, d. h. Probleme werden intersubjektiv prüfbar präzisiert durch Angabe ihrer Äußerungen auf den verschiedenen Manifestationsebenen. (b) Orientierung am Experiment, d. h. es wird versucht, die das Problem (sog. abhängige Variable) bedingenden kausalen Beziehungen (sog. unabhängige Variablen) zu eruieren. (c) Einheit von Diagnose und Modifikation, d. h. die im diagnostischen Prozess erhobenen Daten besitzen unmittelbare Relevanz für den Hilfeprozess. (d) Vernetzung idiografischer und nomothetischer Aspekte, d. h. die individuelle Lebenswirklichkeit des/ der KlientIn wird mithilfe allgemeingültiger Gesetzmäßigkeiten des Erlebens und Verhaltens analysiert, sowie (e) Multimodalität, d. h. Berücksichtigung unterschiedlicher Datenebenen (z. B. soziale, psychologische, medizinische Ebene), Datenquellen (z. B. KlientIn, Eltern, LehrerInnen) und Erhebungsinstrumente (z. B. Beobachtung, Checkliste, Fragebogen; vgl. Blanz/ Schermer 2013; Schermer 2005). Das Kernstück der Verhaltensdiagnostik stellt die Verhaltensanalyse dar, die aus der Verhaltensgleichung abgeleitet ist (siehe Abbildung 1). Sie gliedert sich - wie bereits erwähnt - in einen beschreibenden (deskriptiven) und einen erklärenden (explikativen) Teil. Die deskriptive Verhaltensanalyse wird weiterhin in einen qualitativen und einen quantitativen Teil differenziert. Unter qualitativer Sicht geht es zuerst um die genaue Beschreibung einer Problemlage oder eines Anliegens auf den unterschiedlichen Manifestationsebenen. Berücksichtigt werden dabei das der Fremdbeobachtung zugängliche sichtbare äußere Verhalten (motorische Manifestationsebene), die das Anliegen begleitenden oder charakterisierenden Körperreaktionen (physiologische Manifestationsebene) sowie das verdeckte, nur der Selbstbeobachtung (Introspektion) zugängliche Denken und Fühlen (kognitiv-emotionale Manifestation). Ist das Anliegen oder Problem auf diese Weise operationalisiert, folgt dessen Messung in der quantitativen Analyse. Für eine Quantifizierung kommen je nach Problemlage unterschiedliche Aspekte wie Häufigkeit, Dauer, Intensität oder Latenzzeit infrage. In der anschließenden explikativen Verhaltensanalyse, der sogenannten funktionalen Analyse, geht es darum, die Ursachen der Probleme oder der Anliegen zu eruieren, um eine Erklärung von deren Auftreten und deren Beibehalten zu finden. Aus der Vielzahl bestehender funktionaler Beziehungen werden in der Verhaltensdiagnostik aber nur jene berücksichtigt, die mit dem Problem in einem kausalen Zusammenhang stehen. Dabei gilt eine funktionale Beziehung dann als kausal, wenn simultan folgende 333 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit drei Bedingungen erfüllt sind: (1) Gemeinsames Auftreten von unabhängiger und abhängiger Variable (sog. Kovariation oder Assoziation), (2) zeitlich früheres Eintreten der unabhängigen Variable und (3) Abbildung von Ursache und Wirkung in einem empirisch bewährten Gesetz (vgl. Haynes/ O´Brien 2000). Mit der Ausrichtung der Verhaltensgleichung an der aktuellen Zeitachse werden die ersten beiden Bedingungen von Kausalität - Kovariation und zeitliche Anordnung von Ursache und Wirkung - berücksichtigt. Der Abbildung des Zusammenhanges über ein empirisch bewährtes Gesetz, dem dritten Merkmal von Kausalität, wird in der Verhaltensdiagnostik über das hypothesengeleitete und -prüfende Vorgehen nachgegangen (vgl. Schermer 2005; Schermer/ Schmelzer 1982). In einem ersten Schritt werden dabei die über das SORKC-Schema eingeholten Daten mithilfe eines empirisch bewährten Gesetzes kausal interpretiert. In einem zweiten Schritt werden Sachverhalte formuliert, die bei Zutreffen dieser Interpretation zu erwarten sind (Prognose). Im anschließenden Schritt wird deren Vorliegen geprüft. Im letzten Schritt kommt es zum Vergleich der vermuteten Annahmen (Prognose) mit den tatsächlichen Bedingungen. Bestätigt sich die Prognose, wird die Hypothese beibehalten, andernfalls ist eine neue Verursachungshypothese zu suchen und das Prozedere wird teilweise oder vollständig neu durchlaufen. Kausale Beziehungen (siehe hierzu z. B. Haynes, 1992) unterscheiden sich u. a. in ihrer Komplexität und Direktionalität. Im einfachsten - praktisch aber seltenen - Fall liegt eine univariate und unidirektionale Verursachung vor, d. h. eine Variable ist die ausschließliche Ursache für eine andere (z. B. Leistungsangst führt zu schlechtem Abschneiden im Fach Mathematik). Beeinflussen sich zwei Variablen gegenseitig (z. B. Leistungsangst zieht schlechtes Abschneiden in Mathematik nach sich und das schlechte Abschneiden in Mathematik erhöht wiederum die Leistungsangst), spricht man von Bidirektionalität. Im Alltag sind die Verhältnisse nicht selten noch komplexer. Hier ist häufig mit multivariaten, d. h. mehr als zwei Kausalvariablen umfassenden, uni- und bidirektionalen Beziehungen zu rechnen. In dem skizzierten Bedingungsgefüge könnte neben den Variablen „Leistungsangst“ und „schlechtes Abschneiden in Mathematik“ die Variable„mathematische Begabung“ einen direkten und die Variable„hohe elterliche Leistungserwartung“ einen indirekten (moderierenden) Einfluss nehmen. Linearität und Abstraktionsniveau stellen weitere Differenzierungen kausaler Beziehungen dar. Mit Linearität ist gemeint, dass eine Intensitätszunahme in der unabhängigen Variable zu einem vergleichbaren Anstieg in der abhängigen Variable führt. Bei Vorliegen von Linearität ginge in unserem Beispiel eine Steigerung der Leistungsangst mit zunehmender Verschlechterung der Mathematikleistung einher. Das muss aber nicht der Fall sein. Häufig beobachtet man non-lineare Beziehungen. Dabei wirkt sich die unabhängige Variable differenziell auf die abhängige aus: Während niedrige Leistungsangst das Abschneiden in Mathematik verbessert, kommt es bei starker Angst zur Leistungsverschlechterung. Kausale Beziehungen können auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen formuliert werden. So bezieht sich unser Beispiel auf ein vergleichsweise hohes und für praktische Belange noch nicht ausreichend differenziertes Abstraktionsniveau. Für die in der funktionalen Analyse betrachteten Ursachen gilt die gleiche topografische Differenzierung nach Manifestationsebenen, wie sie für das problematische Verhalten dargestellt wurde. Wird Leistungsangst als mögliche Ursache eines Anliegens in Erwägung gezogen, muss sie auf der motorischen (z. B. Vermeidung des Schulbesuchs bei Klassenarbeiten), physiologischen (z. B. Herzklopfen) und subjektiven (kognitiv, z. B.: „Meine Gedanken schwirren wild durch den Kopf“; emotional, z. B.: „Ich fühle mich hilflos“) Manifestation (vgl. Rost/ Schermer 2007) beschrieben werden. 334 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit Die in der funktionalen Analyse gesammelten Annahmen über die Problemverursachung stellen das sogenannte hypothetische Bedingungsmodell dar, dessen Erstellung die Verhaltensanalyse beendet und Grundlage für die Interventionsplanung darstellt. Die bisher behandelten verhaltensdiagnostischen Aspekte sind in Box 1 anhand einer auszugsweise dargestellten Fallvignette verdeutlicht. Die topografisch unterschiedlichen Verhaltensweisen von Andreas in dem Fallbericht erfüllen alle die gleiche Funktion, nämlich den als unangenehm erlebten Schulbesuch zu vermeiden, und werden aktuell durch das Lerngesetz der negativen Verstärkung aufrechterhalten. Diese Erklärung des aktuellen Verhaltens bedarf jedoch der Ergänzung, denn sie lässt noch unberücksichtigt, warum Andreas Angst vor der Schule hat. Durch hypothesengeleitetes und -prüfendes Fragen konnte der Schulsozialarbeiter herausfinden, dass die Schwierigkeiten erstmals nach folgendem Ereignis auftraten: Während der Rückgabe einer Mathematik-Probe während der ersten Unterrichtsstunde wurde ein für die SchülerInnen unerwartet eintretender Feueralarm geprobt. Andreas wurde durch den plötzlich eintretenden Sirenenalarm erschreckt, zeigte Kurzatmigkeit, verspürte starkes Herzklopfen und auffallend motorische Verspannung. Auch den MitschülerInnen, welche die Übung meist als willkommene Abwechslung ansahen, war aufgefallen, dass Andreas noch lange nach dem Alarm sehr aufgeregt war. Diese Episode kann im Lernmodell der klassischen Konditionie- Andreas ist 10 Jahre alt und besucht die Hauptschule in einer Großstadt. Die an der Schule implementierte Schulsozialarbeit wird auf ihn wegen Verweigerung des Schulbesuchs aufmerksam. Bei einem Hausbesuch und zwei verhaltensdiagnostischen Interviews mit Andreas, seiner Mutter und seiner Lehrerin wird das schulverweigernde Verhalten in der qualitativen Verhaltensanalyse folgendermaßen präzisiert: Andreas weigert sich, in die Schule zu gehen. An jedem Schultag gibt es deshalb morgens ein ziemliches Theater in der Familie: Die Mutter weckt ihn rechtzeitig auf und fordert ihn auf aufzustehen. Sie geht daraufhin in die Küche und bereitet das Frühstück vor. In der Regel steht Andreas tatsächlich auf, geht zur Toilette, drückt die Spülung, damit die Mutter hört, dass er aufgestanden ist, legt sich dann aber wieder ins Bett (motorische Manifestation). Da er nicht zum Frühstück erscheint, kommt die Mutter dann erneut in sein Zimmer, schimpft, dass er sich hingelegt hat, und drängt mit Worten zum erneuten Aufstehen. Andreas sagt in dieser Situation meistens, es sei ihm nicht gut, er habe Bauchweh, er muss sich dann auch übergeben (physiologische Manifestation) und könne heute nicht zur Schule gehen, er habe Angst davor (emotionale Manifestation). Die letzten Tage versuchte die Mutter sogar, ihn gewaltsam aus dem Bett zu holen, aber der Junge sei viel zu stark für sie. Er läuft dann davon und schließt sich in der Toilette oder in einem anderen Raum ein (motorische Manifestation). Daraufhin gibt die Muter nach und erlaubt ihm, daheim zu bleiben, woraufhin sich Andreas wieder„ganz normal“ verhalte. Die quantitative Verhaltensanalyse ergibt, dass das schulverweigernde Verhalten seit 40 Schultagen (Häufigkeit) kontinuierlich auftritt. Die tägliche Dauer des „morgendlichen Theaters“ beträgt im Durchschnitt 80 Minuten. Box 1: Falldarstellung 335 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit rung folgendermaßen interpretiert werden: Der unkonditionierte Reiz (UCS)„Sirenenalarm“ führt zur unkonditionierten Reaktion (UCR) „Schreck/ Angst“. Durch die zeitlich räumliche Koppelung mit dem Mathematikunterricht und der „Probenrückgabe“ werden diese ehemals neutralen Reize (NS) zu konditionierten Stimuli (CS) und lösen die nun konditionierte Schreck-/ Angstreaktion (CR) aus. In Übereinstimmung mit dieser Interpretation traten die ersten Verweigerungen des Unterrichtsbesuches bei angekündigter Rückgabe von Proben und auf den Mathematikunterricht bezogen auf. Zur Erklärung der Ausweitung des schulverweigernden Verhaltens von Andreas konnten die Gesetze der Reizgeneralisierung, d. h. die Ausdehnung der Angst auf ähnliche Stimuli wie zum Beispiel andere Unterrichtsfächer, Konditionierung höherer Ordnung, d. h. die Koppelung der gelernten Angstreaktion mit qualitativ neuen Reizen, wie z. B. räumliche oder soziale Aspekte, sowie im späteren Verlauf des operanten Lernens (negative Verstärkung, s. o.) herangezogen werden (vgl. Schermer 2014). Mit der nomothetischen Erklärung der idiografisch-lebensweltlichen Problemsituation ist die Verhaltensanalyse abgeschlossen und leitet in die Zielanalyse über. Hier geht es darum, anzustrebende Zielzustände zu definieren und zu legitimieren. Während die Zielfindung erfahrungswissenschaftlich abgeleitet werden kann, ist dies bei der Zielbegründung nicht möglich, da hierbei normative Gesichtspunkte bestimmend sind. So können wir aus obiger Verhaltensanalyse einen methodischen Weg ableiten, der es Andreas ermöglicht, wieder den Unterricht zu besuchen (Grob- und Fernziele). Die Frage, ob dieses Grobziel verfolgt werden darf, muss aber noch durch Bezug auf unterschiedliche Normen legitimiert werden. Im Falle von Andreas können z. B. juristische (Schulpflicht), pädagogische (Anspruch auf Bildung) oder ethische (Reduktion von Leid) herangezogen werden. Der motivational-volitionale Prozess der Zielklärung wird in der verhaltensorientierten Arbeit in drei Bereiche differenziert, nämlich Zielfindung (Sammlung möglicher Ziele), Zielanalyse (Bewertung der gesammelten Möglichkeiten) und Herstellung von Zielkonsens aller Beteiligten (siehe ausführlich Blanz/ Schermer 2013; Schermer 2011). Genauso wie das Problem ist auch das angestrebte Zielverhalten zu operationalisieren, dabei sollen Zielverhaltensweisen positiv, verhaltensnah, quantifizierbar, erreichbar und transferfähig formuliert werden. Sind die Ziele festgelegt, werden aus der Verhaltensanalyse abgeleitete Interventionsstrategien geplant und im Hilfeprozess umgesetzt. Im Fall von Andreas bedeutet dies die Auswahl von respondenten und operanten Methoden bzw. Techniken. Für klassisch konditionierte Angst sind schrittweise Annäherung (sog. sukzessiv Approximation) an den Schulbzw. Unterrichtsbesuch durch Verhaltensübungen (Löschung) sowie Gegenkonditionierung in ihrer Wirkung belegt. Beide Vorgehensweisen werden bei Andreas eingesetzt. Zum Abbau des Vermeidungsverhaltens kommen zusätzlich Strategien der positiven Verstärkung zur Anwendung. In einem wöchentlich modifizierten Verhaltensvertrag wird die Implementierung und Durchführung der Modifikation festgehalten. Da das für die Auswahl der Interventionsmethoden entwickelte Erklärungsmodell nur hypothetisch Gültigkeit hat, muss es sich im Modifikationsverlauf erst bewähren. Seiner Überprüfung dient die sogenannte interventionsbegleitende evaluative Diagnostik, worunter man die kontinuierlich während des gesamten Hilfeprozesses erfolgende Messung von Veränderungen in den problematischen bzw. zielführenden Verhaltensweisen versteht. Im einfachsten Fall werden dabei die Messdaten der sogenannten Grundrate (baseline), d. h. der wenigstens über zwei Wochen erfolgenden Zählungen vor Interventionsbeginn den während der Modifikationsphase erfassten gegenübergestellt und grafisch festgehalten (zu den spe- 336 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit zifischen Einzelfall-Designs siehe ausführlich Blanz/ Schermer 2013). Verändert sich das problematische oder zielführende Verhalten während des Hilfeprozesses, d. h. in Kovariation mit dem Einsatz der Interventionstechniken in die gewünschte Richtung, gilt das als Beleg für die Angemessenheit der abgeleiteten Erklärung. Tritt keine Veränderung oder gar eine Verschlechterung ein, ist zu überprüfen, ob die Interventionstechniken angemessen durchgeführt wurden oder ein neues funktionales Modell erarbeitet werden muss. Verhaltensorientierte Arbeit mit Gruppen Die Entwicklung standardisierter und evaluierter Interventions- und Präventionsprogramme stellt eine besondere Errungenschaft in der Arbeit mit Gruppen dar, die vor allem seitens der Verhaltensorientierung initiiert und vorangetrieben wurde (Langfeldt 2008). Mittlerweile ist ein regelrechter „Markt“ für Gruppenprogramme entstanden, auch in Deutschland. Dabei weisen empfehlenswerte Programme zwei Qualitätsmerkmale auf: 1. Sie erschöpfen sich nicht in einer bloßen Aneinanderreihung einzelner Techniken und Übungen, sondern leiten ihre Maßnahmen von einem theoretischen Rahmen ab, der auf empirisch abgesicherten Forschungsergebnissen des jeweiligen Anwendungsbereichs aufbaut, und 2. sie weisen einen wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis auf möglichst hohem Niveau auf. Auf diese beiden Punkte wird im Folgenden näher eingegangen. Konzeption eines Gruppenprogrammes: das GSK Das Gruppentraining sozialer Kompetenzen (GSK) von Hinsch und Pfingsten (2007) richtet sich an Kinder (9 bis 12 Jahre), Jugendliche (13 bis 18 Jahre) und Erwachsene (in speziellen Varianten z. B. für Strafgefangene, Menschen mit Mehrfachbehinderung, psychiatrische PatientInnen). Für jüngere Kinder (im Alter zwischen 5 bis 10 Jahren) steht mit „Mutig werden mit Til Tiger“ (Ahrens-Eipper/ Leplow 2004) ein alternatives Programm zur Verfügung. Das GSK kann sowohl bei KlientInnen mit sozial unsicherem und/ oder ängstlichem Verhalten als Interventionsmaßnahme als auch bei der „Normalbevölkerung“ im Sinne einer Präventionsmaßnahme eingesetzt werden. Das verhaltensanalytische Erklärungsmodell sozial in/ kompetenten Verhaltens des GSK ist in Abbildung 3 dargestellt. Als Auslöser für selbstunsicheres Verhalten dienen oft Situationen mit Anforderungscharakter, z. B. wenn bei den KlientInnen persönliche Ziele (sich beschweren wollen) mit sozialen Zielen (gemocht werden wollen) kollidieren. Häufig finden sich bei selbstunsicherem Verhalten die Überzeugung, die Situation nicht bewältigen zu können (kognitiv), sowie Gefühle von Mutlosigkeit (emotional) und entweder Vermeidungsverhalten oder Verhaltensdefizite (motorisch) wie z. B. zu leises Sprechen. Die anschließenden meist negativen Konsequenzen dieses Verhaltens tragen zu seiner Aufrechterhaltung bei. Das GSK weist sowohl standardisierte (vorgegebene) Elemente als auch flexible Elemente auf, die am individuellen Klienten auszurichten sind, da unsicheres Verhalten bereichsabhängig ist (d. h. bei jedem/ jeder KlientIn etwas anders ausfällt). Zu den in Tabelle 1 dargestellten drei Situationstypen werden im Rahmen von Rollenspielen soziale Anforderungssituationen, die in individuellen Verhaltensanalysen der TeilnehmerInnen zuvor herausgearbeitet wurden, in Kleingruppen eingeübt. Im Vordergrund stehen dabei positive Verstärkung und Verhaltensaufbau. Das Training umfasst ca. sieben Sitzungen zu je 2,5 Stunden, zwischen denen die Lernfortschritte in der Praxis umgesetzt werden. 337 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit Evaluation von Gruppenprogrammen „Da sich inzwischen ein ‚Markt‘ für soziale Trainingsprogramme entwickelt, sollten Praktiker kritisch prüfen, ob die ihnen angebotenen Programme tatsächlich Effekte in Kontrollgruppen-Studien haben. Der Nachweis, dass Verhaltensprobleme gegenüber einer Voruntersuchung abgenommen haben, reicht nicht aus. Denn viele Kinder werden auch ohne Training im Laufe der Zeit sozial kompetenter“, schreiben Lösel/ Plankensteiner (2005,5) in Bezug auf Wirksamkeitsnachweise von Gruppenprogrammen im Bereich der sozialen Kompetenz, wobei diese Forderung auch für andere Gruppenprogramme gilt (Meyer 2009). In Kontrollgruppen-Stu- Emotionales Verhalten Situation persönliche Ziele und soziale Bindungen Kognitives Verhalten Wahrnehmung, Interpretation, Antizipation und Hintergrundinformation Motorisches Verhalten Annäherung/ Vermeidung, Verhaltensfertigkeiten und soziale Verhaltensregeln Verhaltenskonsequenzen objektive Konsequenzen, Verhaltensfeedback Abb. 3: Prozessmodell sozial in/ kompetenten Verhaltens des GSK Situationstypen Beispielübungen Recht durchsetzen Der Klient lernt sein Recht einzufordern, z. B. indem er sich im Restaurant über ein schlechtes Essen beschwert. Beziehungen Der Klient lernt, eigene Bedürfnisse zu artikulieren und auf diejenigen der anderen Rücksicht zu nehmen. Um Sympathie werben Der Klient lernt, Kontakte anzubahnen und aufrechtzuerhalten, z. B. indem er andere anspricht und kennen lernt. Tab. 1: Situationstypen und Beispielübungen des GSK 338 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit dien (oder experimentellen Wirksamkeitsstudien) wird die Interventionsgruppe, in der das jeweilige Gruppenprogramm eingesetzt wird, mit einer Kontrollgruppe verglichen, die meist aus einer Wartegruppe besteht (also Personen, die erst später an dem Programm teilnehmen). Für das GSK liegt ein solcher Wirksamkeitsnachweis vor. Tabelle 2 enthält eine Auswahl von 24 erfolgreich evaluierten verhaltensorientierten Trainingsprogrammen zur Intervention und Prävention bei Kindern und Jugendlichen (Kaluza 2006; Kaluza/ Lohaus 2006), die alle ein Kontrollgruppen-Design sowie eine Katamnese (Nachuntersuchung) aufweisen. Ausnahme ist das Programm„Abnehmen - aber mit Vernunft“, dessen Evaluation lediglich eine Interventionsgruppe aufweist, dafür aber für einige KlientInnen eine Katamnesedauer von bis zu 12 Jahren Programm und Autor(en) Indikation(en) „Abnehmen - aber mit Vernunft“ vom Institut für Therapieforschung München Adipositas Ärgerbewältigungstraining von G. Steffgen Impulsives Verhalten Allgemeine Lebenskompetenzen und -fertigkeiten (ALF) von C. Kröger/ J. Kirmes/ R. Kutza/ A. Reese/ W. Walden Problembewältigung, Sucht Aufmerksamkeitstraining von G. W. Lauth/ P. F. Schlottke Aufmerksamkeitsstörungen „Be smart - Don’t start“ von G.Wiborg/ R. Hanewinkel Primärprävention des Rauchens Berliner Programm zur Suchtprävention in der Schule (BESS) von M. Jerusalem/ W. Mittag Suchtverhalten „Denktraining für Jugendliche“ von K. Klauer kognitive Kompetenzen (Jugendl.) Dortmunder Zahlenbegriffstraining (ZBT) von W. Moog/ A. Schulz Rechenschwäche „Faustlos“ von M. Cierpka aggressive Schulklassen Freiburger Stresspräventionstraining für Paare (FSPT) von G. Bodenmann Partnerschaft und Ehe „Gesundheit und Optimismus GO! “ von J. Junge/ S. Neumer/ R. Manz/ J. Margraf Angststörungen Gruppentraining sozialer Kompetenzen (GSK) von R. Hinsch/ U. Pfingsten soziale Kompetenz (Jugendliche) „Hören, lauschen, lernen“ von P. Küspert/ W. Schneider schriftsprachliche Kompetenzen „Keiner ist so schlau wie ich“ von E. Marx/ K. Klauer kognitive Kompetenzen (Kinder) „Lebenslust mit LARS & LISA“ von P. Pössel/ A. Horn/ S. Seemann/ M. Hautzinger depressive Symptome „Mutig werden mit Til Tiger“ von S. Ahrens-Eipper/ B. Leplow soziale Kompetenz (Kinder) Positives Erziehungsprogramm (Triple-P) von M. Sanders Erziehungsverhalten, Familien „School refusal and anxiety“ von C. Kearney schulverweigerndes Verhalten Sofort Handeln (prompt action) proACT von N. Spröber/ P. F. Schlottke/ M. Hautzinger Bullying Stress nicht als Katastrophe erleben (SNAKE) von A. Beyer/ A. Lohaus Stressbewältigung Training bei hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP) von M. Döpfner/ S. Schürmann/ J. Fröhlich Hyperaktivität Training metakognitiver Kontrolle von B. Wisniewski Prüfungsangst Training mit aggressiven Kindern von F. Petermann/ U. Petermann Gewaltverhalten (Kinder) Training mit Jugendlichen: Aufbau von Arbeits- und Sozialverhalten von F. Petermann/ U. Petermann Sozial- und Gewaltverhalten Tab. 2: Evaluierte verhaltensorientierte Gruppentrainingsprogramme für Kinder und Jugendliche 339 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit berücksichtigt. Die Programme „Positives Erziehungsprogramm (Triple-P)“ und „Freiburger Stresspräventionstraining für Paare (FSPT)“ sind zwar für Erwachsene, weisen jedoch im Sinne eines „Mediatorenkonzeptes“ direkte Relevanz für Kinder und Jugendliche auf. In diesen beiden Programmen werden - ebenso wie in dem Programm „Faustlos“ - auch tatsächlich Gruppen (Paare, Familien, Klassenverbände) adressiert, während in den übrigen Trainings eher „individuelle“ Interventionen in einem Gruppenkontext stattfinden. Zusätzlich zu einem Wirksamkeitsnachweis erscheinen noch weitere Kriterien bei der Auswahl eines geeigneten Gruppenprogrammes für die PraktikerInnen von Bedeutung, von denen einige in Box 2 aufgeführt sind. Verhaltensorientierte Arbeit mit Institutionen In der Verhaltensorientierung gibt es heute - über die Arbeit mit Einzelnen und Gruppen hinaus - auch eine Anzahl standardisierter und evaluierter Interventions- und Präventionsprogramme, die sich auf größere Organisationen beziehen. Als ein Beispiel sei an dieser Stelle auf das Programm von Olweus (2006), das sich auf die Reduktion und Vorbeugung von Bullying (Gewaltverhalten in der Schule) bezieht, näher eingegangen. Nach dem „Teufelskreismodell“ von Olweus (2006), das in Abbildung 4 skizziert ist, entwickelt sich Bullying aus einem Lernprozess, der auf den Prinzipien der Verstärkung (operantes Lernen) und der Beobachtung (Modell-Lernen) aufbaut und Wechselwirkungen zwischen den folgenden intra- und interindividuellen Einflüssen annimmt: a) dem wehrlos-passiven Hinnehmen der Übergriffe durch die Opfer, b) dem zuschauend-duldenden Verhalten der MitschülerInnen, c) der Unentschlossenheit und dem fehlenden Eingreifen der Lehrkräfte und d) der Nichtinformiertheit der Eltern. Kurz zusammengefasst beinhaltet das Interventionsprogramm Maßnahmen auf den folgenden drei Ebenen: ➤ Schule: Aufbauend auf einer Befragung zur Ermittlung des Ausmaßes an Bullying entwickelt die Schule (Schulleitung, Lehrkräfte, SchulsozialarbeiterInnen, externe/ r ExpertIn und VertreterIn des 1. Sind die Ziele des Gruppenprogrammes explizit beschrieben? 2. Stellt das Programm einen theoretischen Bezug zum Zielverhalten her? 3. Ist angegeben, für wen das Gruppenprogramm geeignet ist? 4. Sind die im Programm abgeleiteten Techniken und Übungen rational begründet? 5. Wurde die Wirksamkeit (in einer Kontrollgruppen-Studie) überprüft? 6. Ist mit unerwünschten Nebenwirkungen zu rechnen? 7. Sind die Techniken und Instrumente (Materialien) adressatengerecht? 8. Ist das Gruppenprogramm klar strukturiert (standardisiert) und übersichtlich? 9. Ist angegeben, welche Rahmenbedingungen erfüllt sein müssen? 10. Kann durch explizite Anleitungen die Qualifikation zur Anwendung erworben werden? Box 2: Zehn Fragen vor dem Einsatz von Gruppenprogrammen (nach Langfeldt 2008) 340 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit Schüler- und Elternbeirates) auf einem „pädagogischen Tag“ einen konkreten Handlungsplan, der auf einer anschließenden Schulkonferenz formell beschlossen wird. Dazu zählt auch, dass die Aufsichten auf dem Schulhof und während des Mittagessens verstärkt werden. ➤ Klasse: Es werden Klassenregeln eingeführt (z. B. „Wir werden andere SchülerInnen nicht mobben“ oder „Wir werden SchülerInnen, die gemobbt werden, helfen“), deren Befolgung in einem wöchentlichen Klassengespräch unterstützt wird. ➤ SchülerInnen/ Eltern: Es werden persönliche Gespräche mit den Beteiligten (Täter und Opfer) und deren Eltern durchgeführt. Eine projektbezogene Überprüfung des Erfolgs des Olweus-Programms kann mithilfe vorgegebener Prä-Post-Fragebögen durchgeführt werden, die von SozialpädagogInnen leicht eingesetzt werden können. Es liegen inzwischen nahezu weltweit Evaluationsdaten für das Programm vor, mit teilweise über mehrere Jahre reichenden Katamnesen, die eine deutliche Wirksamkeit des Programms belegen: Bei richtiger und vollständiger Umsetzung des Olweus-Programms finden sich Angaben zwischen 50 und 70 % für den Gesamtbereich antisozialen Verhaltens der SchülerInnen. In einer in Deutschland (Schleswig-Holstein) von Hanewinkel und Knaack 2004 durchgeführten Studie fielen die Angaben etwas niedriger aus. Fazit und Ausblick Nach Barth (2011) ist die Gegenwart der Sozialen Arbeit im deutschsprachigen Raum von zwei „Megatrends“ geprägt: einerseits der Lebensweltorientierung, andererseits der Ökonomisierung. Prognostisch werden diese beiden Trends prägend für die künftigen gesellschaftlichen Aufgaben, Funktionen, Handlungsoptionen und Hilfeprozesse der Sozialen Arbeit sein. Das Konzept der Verhaltensorientierten Sozialen Arbeit lässt sich ideal mit den Ansprüchen dieser Trends vereinbaren. Denn es konzentriert sich im Rahmen sozialpädagogischer Hilfeprozesse sowohl auf die sozialen und mate- Bullying Täter zeigen aggressives Verhalten Opfer reagiert wehrlos, verunsichert, Mitschüler sind fasziniert, duldend, Lehrer sind uneinig oder greifen nicht ein, Eltern sind nicht informiert erlernte Verhaltensmuster durch positive Verstärkung, Modell-Lernen, Duldung Abb. 4: Teufelskreismodell des Bullying nach Olweus (2006) 341 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit riellen Umweltbedingungen ihrer Klientel als auch auf evidenz-basierte Methoden, deren Wirksamkeit empirisch belegt ist und die der Klientel eine praktikable, effektive Hilfe zuteil werden lassen. Kennzeichnend für das verhaltensorientierte Konzept sind zudem seine deutliche ethische Fundierung sowie seine universelle Einsetzbarkeit in allen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. In Anbetracht des noch verhältnismäßig geringen Verbreitungsgrades der Verhaltensorientierten Sozialen Arbeit im deutschsprachigen Raum - im Gegensatz zu der überaus großen Ausbreitung im angloamerikanischen Bereich - liegt eine wichtige Zukunftsaufgabe in der weiteren Vermittlung der Charakteristika dieses Konzepts in der Fachöffentlichkeit. Prof. Dr. Mathias Blanz Hochschule für angewandte Wissenschaften Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften Münzstraße 12 97070 Würzburg Mathias.Blanz@fhws.de Prof. Dr. Frank Como-Zipfel Hochschule für angewandte Wissenschaften Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften Münzstraße 12 97070 Würzburg frank.como@fhws.de Prof. Dr. Franz J. Schermer Hochschule für angewandte Wissenschaften Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften Münzstraße 12 97070 Würzburg Franz-Josef.Schermer@fhws.de Literatur Ahrens-Eipper, S., Leplow, B. (2004): Mutig werden mit Til Tiger. Ein Trainingsprogramm für sozial unsichere Kinder. Hogrefe, Göttingen Bandura, A. (1991): Sozial-kognitive Lerntheorie. Klett, Stuttgart Barth, S. (2011): Tendenzen neuerer Methodenentwicklung in der Sozialen Arbeit. Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit 62, 36 - 140 Bartmann, U. (2010): Verhaltensmodifikation als Methode der Sozialen Arbeit. Ein Leitfaden. 3. Aufl. DGVT, Tübingen Blanz, M., Schermer, F. J. (2013): Methoden der Verhaltensorientierten Arbeit. In: Blanz, M., Como-Zipfel, F., Schermer, F. J. (Hrsg.): Verhaltensorientierte Soziale Arbeit. Grundlagen, Methoden, Handlungsfelder. Kohlhammer, Stuttgart, 63 - 102 Bodenmann, G., Perrez, M., Schär, M., Trepp, A. (2004): Klassische Lerntheorien - Grundlagen und Anwendungen in Erziehung und Psychotherapie. Huber, Bern Bundespsychotherapeutenkammer (2009): Stellungnahme zur Prüfung der Richtlinienverfahren gemäß §§ 13 bis 14 der Psychotherapie-Richtlinie (Verhaltenstherapie) vom 19. 11. 2009. BPtK, Berlin Cigno, K., Bourn, D. (1998): Cognitive-behavioral social work in practice. Aldershot, London Como-Zipfel, F. (2013): Wissenschaftshistorische und berufsethische Grundlagen der Verhaltensorientierten Sozialen Arbeit. In: Blanz, M., Como-Zipfel, F., Schermer, F. J. (Hrsg.): Verhaltensorientierte Soziale Arbeit. Grundlagen, Methoden, Handlungsfelder. Kohlhammer, Stuttgart, 13 - 33 Como-Zipfel, F., Löbmann, R. (2013): Kognitions- und Verhaltensorientierung. In: Pauls, H., Stockmann, P., Reicherts, M. (Hrsg.): Beratungskompetenzen für die psychosoziale Fallarbeit. Ein soziotherapeutisches Profil. Lambertus, Freiburg, 140 - 155 Dillenburger, K. (2013): Geleitwort. In: Blanz, M., Como-Zipfel, F., Schermer, F. J. (Hrsg.): Verhaltensorientierte Soziale Arbeit. Grundlagen, Methoden, Handlungsfelder. Kohlhammer, Stuttgart 7 - 8 Gambrill, E. (1995): Behavioral social work: Past, present, and future. Research on Social Work Practice, 5, 460 - 484 Geißler, K. A., Hege, M. (2007): Konzepte sozialpädagogischen Handelns. Juventa, Weinheim Geißler-Piltz, B. (2004): Im Brennpunkt liegt der Alltag der erkrankten Menschen. Sozial Extra, 1, 32 - 35 342 uj 7+8 | 2014 Verhaltensorientierte Soziale Arbeit Hanewinkel, R., Knaack, R. (2004): Prävention von Aggression und Gewalt an Schulen - Ergebnisse einer Interventionsstudie. In: Holtappels, H. G., Heitmeyer, W., Melzer, W., Tillmann, K.-J. (Hrsg.): Forschung über Gewalt an Schulen - Erscheinungsformen und Ursachen, Konzepte und Prävention. 3. Aufl. Juventa, Weinheim, 299 - 314 Haynes, S. N. (1992): Models of causality in psychopathology: Toward synthetic, dynamic and nonlinear models of causality in psychopathology. Allyn & Bacon, Boston Haynes, S. N., O´Brien, W. H. (2000): Principles and practice of behavioral assessment. Kluwer, New York Hinsch, R., Pfingsten, U. (2007): Gruppentraining sozialer Kompetenzen GSK. Beltz PVU, Weinheim Hudson, G. M., Macdonald, B. L. (1986): Behavioral social work: An introduction. Macmillan Publishers, London Kaluza, G. (2006): Psychologische Gesundheitsförderung und Prävention im Erwachsenenalter. Eine Sammlung empirisch evaluierter Interventionsprogramme. Zeitschrift für Gesundheitspsychologie 14, 171 - 196 Kaluza, G., Lohaus, A. (2006): Psychologische Gesundheitsförderung im Kindes- und Jugendalter. Eine Sammlung empirisch evaluierter Interventionsprogramme. Zeitschrift für Gesundheitspsychologie 14, 119 - 134 Kanfer, F., Saslow, G. (1965): Behavioral analysis. Archives of General Psychiatry, 12, 529 - 538 Kanfer, F., Phillips, J. (1975): Lerntheoretische Grundlagen der Verhaltenstherapie. Kindler, München Kanfer, F., Reinecker, H., Schmelzer, D. (2006): Selbstmanagement-Therapie. Ein Lehrbuch für die klinische Praxis. Springer, Heidelberg Kröner-Herwig, B. (2004): Die Wirksamkeit von Verhaltenstherapie bei psychischen Störungen von Erwachsenen sowie Kindern und Jugendlichen. DGVT, Tübingen Langfeldt, H.-P. (2008): Über den Umgang mit Trainingsprogrammen. In: Langfeldt, H.-P., Büttner, G. (Hrsg.): Trainingsprogramme zur Förderung von Kindern und Jugendlichen. Beltz PVU, Weinheim, 2 - 15 Lefrancois, G. R. (2006): Psychologie des Lernens. 4. Aufl. Springer, Heidelberg Löbmann, R., Como-Zipfel, F. (2012): Verhaltensorientierte Soziale Arbeit: „Zückerchenpraxis“ oder Zukunftsmodell? Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit 63, 230 - 238 Lösel, F., Plankensteiner, B. (2005): Präventionseffekte sozialer Kompetenztrainings für Kinder. Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention (Hrsg.): Campbell Collaboration on Crime and Justice, Bonn Marsh, J. C. (2004): Theory-driven versus theory-free research in empirical social work practice. In: Briggs, H. E., Rzepnicki, T. L. (Hrsg.): Using evidence in social work practice. Behavioral perspectives. Lyceum Books, Chicago, 20 - 35 Meyer, G. (2009): Randomisiert-kontrollierte Studien in der Evaluationsforschung. In: Kolip, P., Müller, V. E. (Hrsg.): Qualität von Gesundheitsförderung und Prävention. Huber, Bern, 327 - 344 Neuy-Bartmann, A. (2014): ADHS und Sucht. In: www. adhs deutschland.de/ Home/ Begleitstoerungen/ Sucht/ ADHS-und-Sucht.aspx Olweus, D. (2006): Gewalt in der Schule - Was Lehrer und Eltern wissen sollten und tun können. 2. Aufl. Huber, Bern Pauls, H. (2011): Klinische Sozialarbeit. Grundlagen und Methoden psycho-sozialer Behandlung. Juventa, Weinheim Pawlow, I. P. (1953): Ausgewählte Werke. Akademie Verlag, Berlin Richmond, M. (1917): Social diagnosis. Russel Sage Foundation, New York Rost, D. H., Schermer, F. J. (2007): Differentielles Leistungsangst Inventar (DAI). Hartcourt Test Services, Frankfurt am Main Rothman, J., Thyer, B. (1984): Behavioral social work in community and organizational settings. Journal of Sociology and Social Welfare, 11, 294 - 326 Schermer. F. J. (2005): Verhaltensdiagnostik. In: Schermer, F. J., Weber, A., Drinkmann, A., Jungnitsch G.: Methoden der Verhaltensänderung: Basisstrategien. Stuttgart, Kohlhammer, 11 - 49 Schermer, F. J. (2011): Grundlagen der Psychologie. 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Schermer, F. J. (2014): Lernen und Gedächtnis. Kohlhammer, Stuttgart Schermer, F. J., Schmelzer, D. (1982): Verhaltenstherapie in ambulanten Beratungsstellen. Ein Problemlösungsmodell als Orientierungsrahmen für die Praxis. Verhaltensmodifikation, 3, 3 - 23 Shaw, M. (1977): Ethische Implikationen des verhaltenstherapeutischen Ansatzes. In: Jehu, D., Hardiker, P., Yelloly, M., Shaw M. (Hrsg.): Verhaltensmodifikation in der Sozialarbeit/ Sozialpädagogik. Lambertus, Freiburg, 248 - 266 Skinner, B. F. (1974): Die Funktion der Verstärkung in der Verhaltenswissenschaft. Kindler, München Thomas, E. (1967 a): Behavioral science for social workers. Free Press, New York Thomas, E. (1967 b): The socio-behavioral approach and applications to social work. Council of Social Work Education, New York Thomlison, R. L. J. (1982): Behaviour modification programs. In: Yelaja, S. A. (Hrsg.): Ethical issues in social work. Thomas Books, Springfield, 232 - 260
