eJournals unsere jugend 66/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2014.art39d
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2014
667+8

Verhaltensorientierte Soziale Arbeit

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2014
Georg Hörmann
Über verschiedene Aspekte der Verhaltensorientierung als ein Konzept der Sozialen Arbeit spricht Prof. Amthor mit Prof. Hörmann.
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343 unsere jugend, 66. Jg., S. 343 - 350 (2014) DOI 10.2378/ uj2014.art39d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Prof. Dr. Georg Hörmann Diplom in Psychologie, Medizinisches Staatsexamen, Approbation als Arzt, Anerkennung zum Führen der Bezeichnung Psychotherapie, Promotionen an der philosophischen, medizinischen und der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften (Dr. phil., Dr. med., Dr. rer. soc.), Habilitation im Fachbereich Erziehungswissenschaft. Nach Tätigkeiten an den Universitäten in Münster, Bielefeld und Bochum von 1990 bis 2012 Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Verhaltensorientierte Soziale Arbeit Ein Interview Über verschiedene Aspekte der Verhaltensorientierung als ein Konzept der Sozialen Arbeit spricht Prof. Amthor mit Prof. Hörmann. Amthor: In dieser Ausgabe von „Unsere Jugend“ wird das Konzept der verhaltensorientierten Sozialen Arbeit skizziert. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte allein der flüchtige Gedanke hieran ein regelrechtes Erdbeben in der Fachwelt der Sozialpädagogik und Sozialarbeit verursacht, oder? Hörmann: So ein großes Erdbeben hat das damals nicht verursacht, wenn ich etwa daran denke, dass ich 1978 gemeinsam mit dem Verhaltenstherapeuten Peter Fiedler das Buch „Therapeutische Sozialarbeit“ im DGVT-Verlag herausgegeben hatte. Wir plädierten darin, in der Sozialarbeit dem starken Übergewicht der psychoanalytisch-psychodynamischen Sichtweise auch die verhaltensorientierte Perspektive gegenüberzustellen. Es war damals etwas opportunistisch, dass wir von„therapeutischer“ Sozialarbeit gesprochen haben, aber im Grunde genommen war es unser Anliegen, die Verhaltenstherapie/ Verhaltensmodifikation nicht nur auf Umweltverhältnisse - also milieutheoretisch -, sondern auch auf gesellschaftliche Verhältnisse zu beziehen. Aber das Buch war damals so abstrakt und elaboriert geschrieben, und weil es auch diese ganzen verhaltensorientierten Formeln enthielt, wurde es als etwas zu mechanistisch empfunden. Deshalb war es tatsächlich so, dass es vielleicht ein kleines Erdbeben gab, das sich aber auf die psychodynamische Theorie bezog, die sehr stark etwa in der amerikanischen Casework-Theorie verbreitet war, aber auch in der Medizin. Amthor: Es scheint wohl so zu sein, dass es immer wieder neue Wellen gibt. Und jetzt taucht die Verhaltensorientierung als Konzept der Sozialen Arbeit erneut auf. Wie lässt sich diese Entwicklung einschätzen? Hörmann: Ja, Wellen gibt es nicht nur in der Sozialen Arbeit, sondern auch in der Verhaltenstherapie, man denke nur an die„dritte Welle der Verhaltenstherapie“, in der nach dem behavioristischen Anfang und der „kognitiven Wende“ Emotionen in den Vordergrund rücken, unter Rückgriff auf Evolutionsbiologie, Hirnforschung und fernöstliche Lehren. Dabei 344 uj 7+8 | 2014 Interview war bereits damals die empirische Orientierung für uns wichtig, gerade für die Sozialarbeit - die war ja immer handlungsbezogen und wie in der Pädagogik sehr hermeneutisch und kasuistisch ausgerichtet. Das war eine große Tradition, auch in der Medizin oder der Juristerei, und dort ist sie bis heute noch ein ganz bedeutsames Erkenntnismittel. Aber gut, Einzelfälle - hierauf verweist der Statistiker - sind nicht wirklich aussagekräftig, man muss sie verallgemeinerungsfähig machen. In der Empirie ist es so, dass man große Kollektive hat, die untersucht werden. Und es war damals die Hoffnung für die Sozialarbeit, dass nicht nur aus der Analyse des Einzelfalls bestimmte Gegebenheiten erschlossen werden, sondern anhand der großen Breite. Nur als Beispiel aus meiner Psychotherapieausbildung: Damals hatten wir im Studium Verhaltenstherapie und in der Abschlussklausur einen Einzelfall zu bearbeiten. Und das war - nur als Erinnerung - in der Pädagogik auch lange Zeit so. In der Pädagogik war immer das klassische Theorem der sogenannte „Pädagogische Bezug“, das Erzieher-Zögling-Verhältnis. Ich problematisierte im Rahmen einer gruppendynamischen Veröffentlichung damals schon, dass dies nicht die Grundfigur des Erzieherischen sein kann. Erziehung läuft in den meisten Fällen in bestimmten Gruppen ab, sei es nun in Klassen, sei es im Kindergarten oder in der Schule. So gesehen ist der pädagogische Bezug von Herman Nohl eine doch ziemlich verkürzte Sichtweise. Natürlich haben wir in der Psychotherapie als klassische Grundfigur die Therapeuten-Klienten-Beziehung. In der Sozialarbeit ist dies dagegen nicht die klassische Arbeitssituation - da gibt es beispielsweise das Heim, die Jugendgruppe oder Einrichtungen der Jugendhilfe -, das ist evident. Natürlich ist der Erzieher wichtig, der Pädagoge, der Sozialarbeiter. Aber er arbeitet nicht nur mit Einzelnen. Und das ist dann die soziologische Perspektive, darum haben wir es immer die„psychosoziale Arbeit“ genannt, und nicht nur therapeutische Arbeit, was sich darin ausdrückte, dass wir im damaligen Redaktionskollektiv die DGVT-Zeitschrift„Mitteilungen der DGVT“ umbenannt haben in „Verhaltenstherapie & Psychosoziale Praxis“ (VPP). Amthor: Gerade für die letzten beiden Jahrzehnte lässt sich ja ein geradezu unglaublicher Boom bei verhaltensorientierten/ verhaltenstherapeutischen Trainings konstatieren. Da gibt es beispielsweise Programme für aggressive und unsichere Kinder und Jugendliche, Eltern oder Migranten, für die Suchtprävention, Jugendsozialarbeit bis hin zur Altenarbeit. Fortlaufend werden neue Trainings- und Modulhandbücher aufgelegt. Welche Chancen liegen hier für die Soziale Arbeit? Hörmann: Also erstmal bedeutet es, dass da ein Bedarf vorhanden zu sein scheint und dass Fachkräfte in der Jugendhilfe und Sozialen Arbeit praxisbezogene und handhabbare Module und Programme haben möchten. Wenn ich beispielsweise an die „Petermann-Trainings“ denke - die beziehen sich unter anderem auf aggressive, unsicher-aggressive Kinder und Jugendliche -, dann die Sozialkompetenztrainings, in denen unter anderem Situationsbeschreibungen und Verhaltensinstruktionen integriert sind. Das ist letztendlich auch das Verhaltenstherapeutische - also nicht abstrakte, sondern konkrete Situationen. Die Programme sind aber teilweise noch von der Tendenz her streng behavioristisch - das ist etwa bei den erwähnten Petermann-Trainings so. Andere haben durchaus die kognitive Wende miteinbezogen, so das „Gruppentraining sozialer Kompetenzen“ (GSK), das an der Universität Bamberg entwickelt wurde; bei diesem werden kognitive, emotionale und auch motorische Faktoren berücksichtigt, und Verhalten wird mit Videounterstützung rückgespiegelt. Von da aus gesehen, haben diese Trainings sicherlich einen ganz großen Verdienst, weil sie mit praktikablen Modulbausteinen das Handlungsrepertoire erweitern und natürlich überprüfbar und kontrollierbar hinsichtlich der Effizienz sind. 345 uj 7+8 | 2014 Interview Ob aber die Validierung der Konstrukte stimmig ist, das habe ich immer bezweifelt, etwa nur als Beispiel: Wenn Petermann von Jugendlichen spricht, denen man das „oppositionelle Verhalten austreiben müsse“, sollte einen die Wortwahl schon stutzig machen, in einer Demokratie, in der Opposition eine wichtige Rolle spielt. „Oppositionen“ werden demnach als pathologisch betrachtet. Da merkt man: Da kommen klinifizierende und pathologisierende Begriffe hinzu. Amthor: Kann man diese Trainings also auch kritisch sehen? Hörmann: Also, es ist auch mit Recht solchen Trainings der Vorwurf gemacht worden, diese würden anpassen, seien konformistisch und affirmativ, sie würden also im Grunde genommen das Handwerk der „Schwarzen Pädagogik“ nur mit neuen Begriffen fortführen. Und darum auch diese Proteste der Sozialarbeiter - die kamen ja eigentlich aus der Gesellschaft der kritischen Theorie der 1968er etwa zur Fürsorgeheimkampagne. Nun gibt es im Namen der Verhaltenstherapie sicherlich den Versuch zu domestizieren, also Klienten einfach an das Gegebene anzupassen. Aber zweifellos, weil verhaltensorientierte Trainings ein gutes Handwerkszeug darstellen, werden sie begierig aufgenommen, und es gab bereits früh einen regelrechten Boom: Da hat man praktische Rezepte, kann sich schulen und trainieren lassen und kann sie anwenden, weil sie schematisch und gut durchführbar sind. Amthor: Seit vielen Jahren wird von unterschiedlichster Seite auf die Notwendigkeit empirischer Forschung und Evaluation in der Sozialen Arbeit hingewiesen. Mit dem Konzept der Verhaltensorientierung ist nun eine radikal empirisch-quantitative und evidenzbasierte Orientierung verbunden. Wie ist dieser Ansatz aus dieser Perspektive zu bewerten? Hörmann: Das ist auch wieder so ein interessantes Beispiel einer restringierten Sichtweise - natürlich lässt sich Forschung nicht reduzieren auf eine rein empirisch quantitative Ausrichtung. Das ist ein großer Trugschluss! Sicherlich, in den Naturwissenschaften ist das der Königsweg, und die Psychologen sind Vorreiter in dieser Hinsicht und verstehen sich als Naturwissenschaftler. Andererseits gibt es auch die qualitative empirische Forschung; oder wenn man wie ich über Aktionsforschung gearbeitet hat, wo das Subjekt-Objekt-Feld aufgehoben wurde und es zu einer Subjekt-Subjekt-Beziehung kam, ist man weniger anfällig für einen methodologischen Monismus. Wir haben versucht, vom Elfenbeinturm der Laborforschung wegzukommen und Forschung in einer, wir würden heute sagen, „lebensweltorientierten“ oder„alltagsorientierten“ Ausrichtung anzugehen. Darum: Die Vereinnahmung der Empirie durch die allein selig machende empirischquantitative Methodologie ist eine Verkürzung, da hier Wissenschaft ausschließlich am Modell der Naturwissenschaft (science) ausgerichtet wird. Auch unter wissenschaftstheoretischer Perspektive: „Wissenschaftstheorie“ darf nicht verstanden werden als „Theorie der Wissenschaft“ im Singular, sondern als „Theorie der Wissenschaften“ (im Plural). Amthor: Auf der anderen Seite lässt sich doch festhalten, dass der Königsweg in der empirischen Forschung in der Erziehungswissenschaft oder in der Sozialen Arbeit heute die „qualitative Ausrichtung“ ist, wohingegen die „quantitative Vorgehensweise“ völlig vernachlässigt wird. Verhält es sich deshalb nicht anders herum? Hörmann: Es ist so, man muss ja einfach schlichtweg sagen: Es gibt nicht nur einen Weg! Und dass macht die Pädagogik und die Soziale Arbeit auch sehr viel schwieriger und anspruchsvoller als die Psychologie, die unbedingt Anschluss an die Naturwissenschaften haben will, so wie die Medizin auch. In der Schulpädagogik hatten wir bei den didaktischen Methoden ähn- 346 uj 7+8 | 2014 Interview liche Entwicklungen: Früher stand nur der Frontalunterricht als primäre Methode im Vordergrund, und später merkte man: Es gibt die didaktische Vielfalt! Es gibt Einzelfallbzw. Gruppenarbeit, Freiarbeit und viele andere Methoden, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Und auch wenn früher der Frontalunterricht als „direktiv“ verschrien war, gibt es heute von einigen Autoren wieder ein großes Plädoyer für den Frontalunterricht als effiziente Methode, um Schülern etwas beizubringen. Und jetzt sieht man wieder den Bezug zur Sozialen Arbeit, da spricht man auch von „flexiblen Hilfen“, es gibt vielfältige Hilfen, es gibt nicht nur die Einzelarbeit, Gruppenarbeit oder Gemeinwesenarbeit, die klassischen drei Säulen; es gibt viele weitere - und die muss man kombinieren und entsprechend variieren, sie problem- und situations- und auch lebensweltbezogen anwenden. In wissenschaftstheoretischer Perspektive lässt sich dies übertragen: Es gilt nach wie vor die Kritik an einem plumpen „Positivismus“, daran, dass hier der Primat der Methode über den Gegenstand regiert („Positivismusstreit“). Und hier ist leider diesen Empiristen zu sagen: Sie haben ein gutes Anliegen, aber man kann alles entsprechend pervertieren, wenn ich nur ausschließlich das mache, dann wird es einfach zu empiristisch. Deshalb meine Warnung vor solchen Alleinvertretungsansprüchen, wenn also „empirisch“ umstandslos gleichgesetzt wird mit „empirisch-quantitativ“. Einen solchen empiristischen Alleinvertretungsanspruch mit imperialem Gehabe könnte man als „Empirialismus“ etikettieren! Amthor: Als wichtiger Kritikpunkt an der Verhaltensorientierung gilt vielfach die eingeengte psychotherapie-/ psychiatrielastige Perspektive. Kritisiert wird, dass individuelle Problemlagen stets mit der Lebenswelt, den Lebensverhältnissen und damit mit strukturellen Bedingungen verbunden sind. Welche Gefahren birgt dieses Konzept? Andererseits: Welche Überlegungen lassen sich anstellen, um diese Kluft zu überwinden? Hörmann: Das ist in der Tat eine große Gefahr, die man auch realistisch eingestehen muss, diese Klinifizierung der Sozialarbeit im Schlepptau der Psychotherapeutisierung und Psychiatrisierung. Und da muss man ein wenig Bescheid wissen über diese Diagnostik in der Medizin, und die Psychiatrie hat dieses Modell ja auch übernommen. In klassischer Weise kommt vor jeder Therapie die Diagnose, und es gibt bekannte internationale Vereinigungen bzw. Gesellschaftsgruppierungen, die diese Diagnosen festlegen. Da ist einmal die ICD, die „International Classification of Deseases“, der Weltgesundheitsorganisation, zum anderen das „Diagnostic and Statistical Manual (DSM)“ - und was meistens vergessen wird - „of Mental Disorders“, also nicht „Diseases“ wie bei der ICD. Im DSM legt nun eine amerikanische Psychiatervereinigung, die „American Psychiatric Organization“, die nicht demokratisch legitimiert, sondern ein selbst ernannter Expertenzirkel ist, klassifikatorisch Störungen fest. Was Störungen sind, wird dabei durch Konvention festgelegt. Und wenn ich da die Depression als ein Beispiel nehme: Was ist überhaupt Depression? Früher war es zum Beispiel so, dass wenn jemand gestorben ist, Angehörige bis zu einem Jahr lang trauern konnten, man denke etwa an die schwarze Kleidung von Witwen. Heute sind es maximal vier Wochen! Alles was darüber hinausgeht, ist bereits pathologisch. Wer entscheidet heute, was angemessene Trauer ist? Und da gibt es viele Beispiele, wo die normalsten Verhältnisse des Menschen pathologisiert werden! Es ist natürlich so, dass sich der Blick immer am Individuum ausrichtet und die Technik dementsprechend vermittelt wird, und das macht auch die Attraktivität der Psychologen aus - die sagen: „Die Sozialpädagogen haben so ein vielfältiges Handwerkszeug, aber es ist nichts Richtiges dabei - und man muss sich eben entscheiden -, während wir im Therapeutischen genauer arbeiten! “ Da ist gerade die Verhaltenstherapie gut ausgetüftelt, gereift und elaboriert - das muss man ganz klar sagen: Man 347 uj 7+8 | 2014 Interview hat die Bedingungsanalyse, Zielplanung und Therapieplanung („Schulte-Schema“) und die Evaluation, die Modelle (SORKC, i. e. Stimulus, Organismusvariable, Reaktion, Kontingenz, Consequenz), die das Problem nach Art einer mathematischen Gleichung lösen. Das hat eine hohe Faszination, denn das gibt Sicherheit und Orientierung. Ich sage immer: „Das ist das Gleiche wie beim Arzt das Stethoskop! “ Wenn der Arzt ein Stethoskop hat, dann hat dieser eine bestimmte Autorität! Ein Therapeut, der seinen Handlungskoffer hat, der erscheint gleich mit dem Heiligenschein, und wenn ich vorher vom Primat der Methode beim Gegenstand im Sinne der Methoden der Forschungsmethodologie erzählt habe, dann ist das hier entsprechend: Da wird praktisch der Gegenstand an die Lebenswelt angepasst, an meine therapeutischen Möglichkeiten. Nur als berühmtes Beispiel noch hinsichtlich der Historie - Freud hat es sich mit der Psychoanalyse ganz einfach gemacht. Wie ging er vor? Es gab keine Verhaltensbeobachtung, nur die klassischen Formen, nämlich Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten - diese archäologische Arbeit. Dass erfordert eine hohe Introspektion, eine Reflexionsfähigkeit. Also, was sagte Freud dann nachher? Sozialarbeit ist nicht für diese Vorgehensweise geeignet, denn die Klientel ist im Allgemeinen von ihrer intellektuellen Kapazität und vom Bildungsgrad her gar nicht in der Lage für die Psychoanalyse und die introspektive Bildungsarbeit. So war er die Sozialarbeit los! So einfach macht es sich die Verhaltenstherapie allerdings nicht: Es ist ein relativ einfaches Modell, das die Beobachtung an die Stelle der Introspektion setzt. Die Verhaltenstherapie ist stark pädagogisch orientiert, aber nicht nur als Unterricht, Aufklärung oder Appell an Vernunft und Einsicht. So erteilt sie Hausaufgaben, macht Trainings, es wird geübt. Das weiß heute jeder Lehrer: Wenn ich den Kindern Vokabeln beibringe, reicht es nicht, wenn ich ihnen nur etwas „erzähle“. Die Übung ist ein Grundelement der Verhaltenstherapie - mit den Betreffenden werden bestimmte Verhaltensalternativen eingeübt. Die Verhaltenstherapie geht direktiv vor - und zwar offen! Im Gegensatz zur klientenbzw. personenzentrierten Sichtweise, aber auch die - das wird allzu oft übersehen - ist hoch direktiv! Sie gibt vor, dass nicht die Umstände entscheidend sind, nicht die Sachverhalte, sondern nur die Gefühle, welche die Klienten haben. Sie belehrt den Betreffenden: „Wenn du zum Beispiel arbeitslos bist, dann ist nicht die Arbeitslosigkeit dein Problem, sondern vielmehr: Du trauerst darüber, bist unglücklich, dass du arbeitslos bist.“ Das heißt, dass der Klient seine Gefühle verbalisieren muss. Für mich ist das hochgradig direktiv! Diese ganzen Verschleierungen hat die Verhaltenstherapie nie mitgemacht und verfährt deshalb durchaus fair. Man weiß, was geht, und kennt die Bedingungen des Vertrags, und sie hat eben nur die Probleme, dass sie diese soeben angesprochenen problematischen Konstrukte bei den Störungsbildern hat. Mein Ziel ist darum eine „verhältnisorientierte Verhaltenstherapie“. Aber das ist eigentlich auch viel zu kurz gegriffen, weil ein Psychologe damit nichts anfangen kann. Ich denke natürlich an gesellschaftliche Verhältnisse, die sich widerspiegeln müssen. Was meine ich damit? Der Mensch ist Produkt der Verhältnisse, aber wirkt wieder auf die Verhältnisse zurück. Möglicherweise sind diese Wirkungsmöglichkeiten des betreffenden Individuums geringer als der Zwang der Verhältnisse, aber es ist nicht so, dass er blind ausgeliefert ist. Und das ist natürlich auch in der Pädagogik wie auch in der Sozialarbeit immer der Punkt! Am Beispiel der Jugendarbeitslosigkeit: Jetzt kann man natürlich sagen, arbeitslosen Jugendlichen müssen Kompetenzen im Bewerbertraining vermittelt werden, sie sollen so etwa besser auftreten können. Wenn aber der Arbeitsplatz nicht da ist, wie in Portugal oder Spanien, wo die Hälfte der Jugendlichen arbeitslos ist, müssen die Konzepte weiter gefasst sein. 348 uj 7+8 | 2014 Interview Amthor: Im Vergleich zum psychotherapeutischen/ verhaltenstherapeutischen Setting ist die Soziale Arbeit vielschichtiger und komplexer. So bezieht sie sich nicht nur auf zahlreiche Arbeitsfelder und soziale Problemstellungen. Sie richtet sich zudem an einzelne Klienten, Familien und Gruppen, aber auch Gemeinwesen und Organisationen und berührt damit auch Sozialmanagement und Sozialplanung. Wie ist die Reichweite des verhaltensorientierten Konzeptes in der Sozialen Arbeit einzuschätzen? Hörmann: Der Anspruch, mit dem verhaltensorientierten Ansatz alles angehen zu wollen, ist völlige Hybris. Was meine ich damit? Mit der „Verhaltensökonomie“ zunächst ein Beispiel aus einem ganz anderen Wissenschaftsbereich: Gary Becker, der berühmte Verhaltensökonom, hat für seine Arbeit den Nobelpreis bekommen. Seine These war, kurz auf den Punkt gebracht: Die ganze Volkswirtschaft läuft nur nach der Verhaltensökonomie; wenn ich den „Homo Oeconomicus“ erkannt habe, dann weiß ich, wie die Wirtschaft läuft. Ich sage: Das ist „Empirialismus“, die Reduzierung des Menschen auf die Reaktionsweise von Lurchen (Adorno)! Denn so schlicht ist das alles nicht. Es geht immer darum, ein bisschen über den eigenen Tellerrand zu schauen. Ein anderer Gedanke drängt sich auf: Was kann uns die „Verhaltensneurobiologie“ lehren? Beispielsweise wird der Käufer dahingehend untersucht, welche Gehirnströme ablaufen, wenn er ein Produkt kauft, welches dann so auf dem Markt platziert wird, dass er es kauft, weil es seinen Bedürfnissen entspricht. Und da stellt sich die Frage, ob der Mensch als ein Wesen gesehen wird, das selbst entscheiden und handeln kann, oder - da berühren wir anthropologische Fragenstellungen - als ein Produkt seiner Stoffwechselprozesse, seiner Hirnprozesse, als ein bloßes Reiz-Reaktionswesen. Die große Gefahr bei der Verhaltensorientierung besteht nun durchaus, dass wir hier im Grunde genommen gleichermaßen stehenbleiben. Zudem gilt es auch bei der verhaltensorientierten Perspektive zu differenzieren: Es gibt nicht „die“ Verhaltensorientierung, sondern verschiedene theoretische Modelle und Konzepte, es gibt den Plural. Und das ist der entscheidende Punkt: Wie es auch keinen Sozialismus, keinen Kommunismus, kein Christentum im Singular gibt, sondern nur den Plural. Diese Perspektive ist in unserer Zeit unabdingbar. Und das macht es spannend, aber auch schwierig. Es ist nicht so monolithisch, wie es oftmals dargestellt wird, die angebliche Sicherheit zerrinnt sehr rasch, eine gesellschaftstheoretisch reflektierte Verhaltensorientierung ist nicht per se affirmativ. Amthor: Verhaltensorientierung als ein aus der Verhaltenstherapie auf die Soziale Arbeit übertragenes Konzept gilt in der Fachwelt weitverbreitet fernab jeglichen politischen Engagements. Es scheint, als wäre gesellschaftskritisches Denken mit dem verhaltensorientierten Konzept unvereinbar. Ist das so? Hörmann: Das ist in der Tat eine Gefahr, nämlich die große „technologische“ Illusion, denkt man nur an den berühmten Essay von Jürgen Habermas „Technik und Wissenschaft als Ideologie“. Wissenschaftliches Arbeiten - das ist angeblich überprüft. Aber möglicherweise bleibt immer die Frage, nicht nur wie, sondern was man überprüfen kann. Eine Begrenzung auf den Begründungszusammenhang ohne Einbeziehung von Entstehungs- und Verwertungszusammenhang ist purer Minimalismus. Politik - wie wird sie evaluiert? Durch Wahlen. Kann man dann sagen, Wahlen belohnen gute Politik? Man sieht eher die Gefahr der Demokratie, dass Populisten die Wahl gewinnen. Das ist ein großes Problem, weil die ganzen normativen und qualitativen Kategorien häufig völlig außen vor bleiben. Und da sind wir wieder bei der grundlegenden Frage, ob die Wissenschaft wertfrei sein muss - das ist der alte Streit! Oder betrachten wir doch Karl Marx: Marx meinte, er könnte die Sozialwissenschaften naturwissenschaftlich angehen, etwa eine deterministische 349 uj 7+8 | 2014 Interview Vorhersage über den Zusammenbruch des Kapitalismus machen. War das nicht völlig naiv? Das war der Fortschrittsglaube, dass man alles kontrollierend beherrschen kann. Und was ist daraus geworden? Der Mensch ist Produkt der Verhältnisse, und die Verhaltenstherapie ist für mich gesellschaftsorientierter als jede andere - im Gegensatz beispielsweise zur Psychoanalyse, von ihr wird behauptet, sie sei gesellschaftstheoretisch orientiert. Man könnte das topologische Modell heranziehen - Ich, Es und Über-Ich - und sagen: Also, da kommt die Gesellschaft vor, und zwar im Über-Ich, dort sind die internalisierten gesellschaftlichen Werte und Normen; aber das ist ein Unterschied, sie sind nur repräsentiert im Klienten, in seinem Kopf. In der Verhaltenstherapie finde ich die Gesellschaft real vor, so bei der Bedingungsanalyse, die sich am SORKC-Modell orientiert. Und wenn ich etwa sage, mein Verhalten wird vor allem durch die Konsequenzen aufrechterhalten, dann muss ich die ändern. Dann verändere ich nicht den Klienten, dann verändere ich die Konsequenzen. Wenn ich beispielsweise ein Kind habe, das trotzig ist und nach Zuwendung von den Eltern sucht, dann muss doch nicht der Trotz des Kindes, sondern das Verhalten der Eltern geändert werden. Das wird ja klassisch verstärkt nach dem Motto: Das ist ein Verstärker oder ein „C+“, wie man in der Fachsprache sagt. Ich kann das Kind nicht einfach zur„Reparatur“ bei der Erziehungsberatungsstelle abliefern, um es danach wieder abzuholen - etwa wie bei der Reparatur eines Autos -, insbesondere wenn ich feststelle, dass das Kind doch nur Symptomträger ist. Das ist den Verhaltenstherapeuten immer vorgeworfen worden, sie würden nur Symptome kurieren und die Wirklichkeit nicht ernst nehmen; bei der Psychoanalyse und neueren konstruktivistischen oder systemischen Konzepten ist es indes fast noch schlimmer, dort kommt die Wirklichkeit gar nicht mehr vor, sondern stellt nur eine Projektion oder Erfindung dar, die ich mir einbilde. Amthor: Ähnlich wie in der Psychotherapie kristallisierten sich in der Sozialen Arbeit während der letzten Jahrzehnte unterschiedliche Handlungskonzepte heraus. Beispiele wären unterschiedliche systemische Konzepte, personenzentrierte und psychoanalytische Ansätze bis hin zur Lebensweltorientierung und zum Empowerment. Wie ist diese Entwicklung in der Sozialen Arbeit einzuschätzen? Hörmann: Ich denke, die Erweiterung der Perspektiven ist schon ein Erfolg. Ich habe Anfang der 1970er Jahre zunächst auch in der Heimerziehung gearbeitet. Damals kam ich direkt von der Uni und dachte natürlich - missionarisch, wie das so üblicherweise war -, man muss alles erstmal auf ein ganz professionelles Fundament stellen. Der Blick auf die Qualifikation der Erzieher war dabei recht ernüchternd, bei ungefähr 70 % war das ausschließlich „langjährige Praxis“. Als praxisoffener„Empiriker“ könnte man sagen: Das ist ja toll! Die haben Erfahrung, ich hatte damals keine Erfahrung, es stellt sich nur die Frage: Erfahrung - taugt die was? Die Erfahrung - und das ist entscheidend - muss ja auch qualifiziert und strukturiert sein, die Alltagserfahrung alleine reicht jedenfalls heute nicht mehr aus. Die quantitative empirische Forschung war nun der Versuch zu sagen: Wenn schon Erfahrung, dann gibt es Standardregeln, wie das gemacht werden muss! Es darf nicht nur der Einzelfall genommen werden, sondern ich brauche eine vergleichbare Gruppengröße, ich muss beispielsweise Mittelwertvergleiche machen und überprüfen, ob etwas zufällig oder überzufällig ist. Oder wenn ich ein Experiment durchführe, dann muss ich eine Versuchskontrollgruppe bilden, ich muss vorher und nachher messen und dann eine Katamnese erstellen. Amthor: Meine Beobachtung in der Kinder- und Jugendhilfe zeigt mir, dass auch heute noch häufig einfach nur aus dem Bauch heraus gearbeitet und nicht berücksichtigt wird, was dem beruflichen Handeln als Fachkraft in der Sozialen Arbeit zugrunde liegt. So bleiben professionelle Theorien unberücksichtigt. 350 uj 7+8 | 2014 Interview Hörmann: Das ist unstrittig. Andererseits gibt es hier völlig uneingelöste Versprechungen, das sieht man beispielsweise bereits an der „praktischen“ Reformpädagogik: Die war auch so ein Wust von Irrationalismen! Sie ist groß gefeiert worden und, wenn man genauer hinsieht, war und ist das alles gut gemeintes Wunschdenken. Für mich begründet sich darin die Notwendigkeit wissenschaftlicher Ausbildung, und ich sage immer: „Das Gegenteil der Wissenschaft, das ist nicht unwissenschaftlich, sondern gut gemeint! “ Die Reformpädagogen hatten die besten Absichten. Wie auch kirchliche Einrichtungen, aber man sieht ja auch durch Projekte wie „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski oder andere, dass in vielen Heimen eine paramilitärische Diktatur herrschte, das war damals so üblich. Die Reformpädagogik war eine missglückte Protestbewegung - die hat es gut gemeint, mit einer kindertümelnden „Pädagogik vom Kinde aus“. Montessori-Pädagogik - da wurden endlose Debatten oder auch Streitgespräche geführt. Es blieb die Frage, ob es sich hierbei nicht um eine völlig verfehlte, für ein demokratisches Staatswesen ungeeignete Pädagogik handelt. Man sieht das ja auch an der Odenwaldschule - das ist ein kultivierter Irrationalismus. Und von daher lässt sich festhalten, dass Therapien schon immer nüchterner und technischer waren und erkannten, dass diese pädagogischen Programme primär normative Welterklärungsmodelle waren und sind. Allerdings sind da jene, die marktschreierisch behaupten: „Wir sind wissenschaftlich fundiert! “ - beispielsweise die systemischen Konzepte - oft ein nur dürftiges Konglomerat von abstrakten, gesellschaftsleeren Dingen. In der Systemtheorie Luhmanns sind alteuropäische Begriffe wie Dialektik, Vernunft oder Verantwortung alle obsolet, und die ältere Systemtheorie kann und will überhaupt nichts ändern, sie will nur beschreiben oder beobachten („Funktionär des Status quo“) - und sitzt wie das Kaninchen vor dem Stall. Kritik lässt sich so ähnlich auch an anderen modischen Ansätzen üben. Amthor: Ich bedanke mich ganz herzlich für das aufschlussreiche Gespräch! Vorschau auf die kommende Ausgabe Aktuelle Entwicklungen in der Jugendberufshilfe Aktuelle Herausforderungen in der Jugendberufshilfe Jugendberufsagentur - neue Vernetzungen und ihre Chancen Elterneinbindung beim Übergang Schule - Beruf