eJournals unsere jugend 67/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2015
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Rezension: Ulrike Petry, 2013: Die Last der Arbeit im ASD. Belastungen und Entlastungen in der Sozialen Arbeit. (Koblenzer Schriften zur Pädagogik)

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2015
Dorothee Schäfer
Überall - sei es in aktuellen Fachzeitschriften der letzten Jahre, auf Tagungen, in Hochschulseminaren und -vorlesungen - findet die Auseinandersetzung mit der Thematik von Belastungen der MitarbeiterInnen des Allgemeinen Sozialen Dienstes des Jugendamtes (ASD) eine große Resonanz. Doch wie sieht die Realität im ASD aus? Wie äußert sich diese behauptete Belastung? Und wie wird sie subjektiv von den SozialarbeiterInnen wahrgenommen? Die vorliegende Arbeit Ulrike Petrys möchte Antworten auf diese Fragen geben und einen methodisch begründeten, durch eigene Empirik ermittelten Einblick in die Praxis der ASD er­öffnen.
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uj 1 | 2015 42 Rezension Überall - sei es in aktuellen Fachzeitschriften der letzten Jahre, auf Tagungen, in Hochschulseminaren und -vorlesungen - findet die Auseinandersetzung mit der Thematik von Belastungen der MitarbeiterInnen des Allgemeinen Sozialen Dienstes des Jugendamtes (ASD) eine große Resonanz. Doch wie sieht die Realität im ASD aus? Wie äußert sich diese behauptete Belastung? Und wie wird sie subjektiv von den SozialarbeiterInnen wahrgenommen? Die vorliegende Arbeit Ulrike Petrys möchte Antworten auf diese Fragen geben und einen methodisch begründeten, durch eigene Empirik ermittelten Einblick in die Praxis der ASD eröffnen. Die Autorin des Bandes, Ulrike Petry (Dr. phil., Diplom-Pädagogin), ist Abteilungsleiterin im Jugendamt der Stadt Offenbach und Lehrbeauftragte an der Universität in Koblenz. Die Veröffentlichung ihres Werkes basiert auf einer Forschungsarbeit, die an der Universität Koblenz-Landau als Dissertation angenommen wurde. Sie gibt mit ihren Darlegungen einen Überblick über das viel diskutierte Thema - Ent- und Belastungen der Sozialen Arbeit im „Allgemeinen Sozialen Dienst“. Damit gemeint sind in erster Linie Arbeitsbedingungen und -belastungen. Diese untergliedern sich in rechtliche Aufgaben, strukturelle Bedingungen, konzeptionellmethodische Orientierungen sowie individuelle Wahrnehmungen und Bewertungen. Im Ganzen sind diese Arbeitsbelastungen als ein komplexes Konstrukt zu verstehen. Der Band gliedert sich in zwölf Kapitel, die sich strukturiert an den resümierenden Punkt annähern: die Analyse der Be- und Entlastungen in der Arbeit im ASD basierend auf differenzierten Untersuchungsergebnissen. Als Ausgangspunkt für ihre Arbeit sieht Ulrike Petry die Präsenz des Themas in den letzten Jahren. Tragische Vorfälle im Bereich des Kinderschutzes ließen dem ansässigen Jugendamt - doch auch sicherlich landesweit den zuständigen Behörden - einen tendenziell eher negativen Ruf zukommen. Die Autorin beschreibt einen Wandel des Images der ASD-MitarbeiterInnen hin zu Burnout-gefährdeten, überlasteten Fachkräften, die sich aufgrund ansteigender Fallzahlen und Personalsparmaßnahmen in unzumutbaren Bedingungen wiederfinden. Basierend auf diesem Bild der ASD-Fachkräfte wurden von ihr in fünf Großstädten MitarbeiterInnen der Jugendhilfe in einer qualitativen Studie befragt. Zunächst wird in ihrem Band die bezirkliche Sozialarbeit aus struktureller, historischer und vergleichender Perspektive beschrieben. Der Blick „nach innen“, „zurück“ und „rundum“ soll den Einstieg in die Thematik bilden und grundlegende Aufgaben des ASD klären. Daraufhin lässt sie professionstheoretische Überlegungen folgen. Dabei geht es um Professionalisierung und Profession generell, in der Sozialen Arbeit sowie um verschiedene professionstheoretische Ansätze der Sozialarbeitswissenschaft. Quintessenz ist hierbei, dass es bei der Berücksichtigung aller Ansätze keine Allzwecklösung bezüglich der Professionalisierung und deren Typisierung gibt. Bei der Ausprägung einer Professionalität Sozialer Arbeit handelt es sich um ein komplexes Gefüge, in welchem sich Fachkräfte des ASD zunächst finden und handlungsfähig werden müssen. Ebenso wird die historische Dimension der Arbeitsbelastung im ASD aufgezeigt und es wird klar, dass eine Überlastung im ASD zwar ein - vor allem durch seine mediale Präsenz - aktu- Ulrike Petry, 2013: Die Last der Arbeit im ASD. Belastungen und Entlastungen in der Sozialen Arbeit. (Koblenzer Schriften zur Pädagogik) Weinheim und Basel: Beltz Juventa, 241 Seiten, € 34,95 uj 1 | 2015 43 Rezension elles Motiv, nicht jedoch ein neues ist. Der Bogen wird gespannt vom frühen 20. Jahrhundert, in welchem die Arbeit von einer Jugendamtsmitarbeiterin als „verschlingend“ beschrieben wird, über eine hohe Beanspruchung der einzelnen Fürsorgerinnen im Jahr 1950 bis in die 90er, in denen die Arbeit der ASD-MitarbeiterInnen mit ständigem Stress und Druck beschrieben wird. Das fünfte Kapitel zeigt Gegebenheiten auf, die mithilfe aktueller Studien vorweisen, dass z. B. Terminüberlastung, Konkurrenz, eine unzureichende Personalausstattung oder ein knappes Zeitbudget die durch das vorherige Kapitel beschriebenen Überlastungen auch aktuell vorherrschen lässt. Schließlich wird, um diesen Tatsachen mehr Tiefenschärfe zu geben, von Ulrike Petry ein Untersuchungsdesign entworfen. Dieses fand Anwendung bei einer telefonischen Befragung von 20 InterviewpartnerInnen. Im Hauptteil der Publikation werden die Untersuchungsergebnisse schließlich differenziert und kategorisierend dargestellt. Zunächst werden be- und entlastende Faktoren in einen Zusammenhang gebracht, welcher dann wiederum zu einem Systemzusammenhang von Selbst-, Welt- und Fremdsicht gestellt wird. Die Be- und Entlastungen werden sowohl im Helfersystem als auch im Klientensystem und der Öffentlichkeit veranschaulicht. Zahlreiche Abbildungen sollen hierbei zum Verständnis der dargelegten Beschreibungen dienen und gemeinsam mit dem Bildnis einer Waage die Systeme erklären. Die Allegorie einer Waage daher, dass sie idealerweise die Balance, unter Berücksichtigung der genannten Faktoren, hält. Passenderweise steht der/ die ASD-MitarbeiterIn hier für die Achse inmitten der beiden Seiten der Waage. Einfach umschrieben geht es bei den Waagenmodellen um die Darstellung der be- und entlastenden Faktoren und somit auch um Gefährdungen der Fachkräfte, wie beispielsweise Burnout. Auf praktischer Ebene ist dieses Modell im weiteren Verlauf der Arbeit anwendbar. Die Interviewportraits folgen. Hierbei versieht Ulrike Petry jedes Interview mit einem Motto, nennt die Strukturdaten der befragten Personen und stellt deren Standpunkte bezüglich be- und entlastender Faktoren, deren Selbstbild, Positionen sowie Perspektiven dar. Diese vergleicht sie anschließend. Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden herausgearbeitet. Gegliedert sind diese in zwölf verschiedene Kategorien, welche an dieser Stelle kurz genannt und kommentiert werden. Der Aspekt Gegensätzlichkeiten, die in Spannung zueinander stehen, miteinander zu verbinden, wird von zahlreichen Interviewten beschrieben. Hierzu gehören Hilfe versus Kontrolle sowie Verwaltung versus empathische Einzelfallarbeit. Ein weiterer Dreh- und Angelpunkt ist für die Interviewten der Kinderschutz. Sie nennen belastende Faktoren wie beispielsweise Inobhutnahmen und die Bedeutung medialer Berichterstattung. Ein weiterer Gegenstand der Interviews ist der als hilfreich empfundene stetige Umgang mit Richtlinien, da dieser Handlungssicherheit für die Fachkräfte bietet. Ebenso wird die Bedeutung eines privaten Ausgleichs beschrieben. Die InterviewpartnerInnen geben an, dass ein stabiles privates Gleichgewicht unabdingbar für die Arbeit im ASD ist. Ein weiterer, in fast allen Interviews angesprochener Aspekt ist die Wertschätzung der eigenen Arbeit durch andere. Die Fachkräfte berichten über ein fast durchweg schlechtes Image ihres Berufsfeldes, sehen ihre eigene Arbeit aber als sinnvoll an. Eine weitere Kategorie ist die Sinnhaftigkeit des Tuns. Daran anschließend wird die positive Wirkung von motivierendem Feedback seitens der Klientel oder der Leitung dargelegt. Nicht nur positives Feedback, auch Arbeitserfolge und abwechslungsreiche, interessante Tätigkeiten werden von den Fachkräften als motivierend dargestellt. Auch das Team und Teamkulturen spielen eine Rolle für die befragten Personen und werden in einem gesonderten Unterkapitel bearbeitet. Ebenfalls wird der Machtaspekt der Fachkräfte gegenüber der Klientel angesprochen. Jedoch wird er nur in zwei Interviews konkret so bezeichnet. Das Gegenstück dazu, die Ohnmacht der MitarbeiterInnen, wird auf einer anderen Ebene ebenso 44 uj 1 | 2015 Rezension von InterviewpartnerInnen genannt. Eine weitere Kategorie, die in den Interviews angesprochen wurde, war eine hohe Verantwortung bei schlechter Bezahlung. Zuletzt werden Fähigkeiten, Eigenschaften und Haltungen, welche Voraussetzungen für die Arbeit im ASD sind, thematisiert. Schließlich werden Typologien gebildet, in welche die InterviewpartnerInnen eingeordnet werden. Sechs an der Zahl werden von Ulrike Petry in ihrer Arbeit unterschieden: VerwaltungsmanagerIn, progressive BeraterIn im Team, BeraterIn im Team retrospektiv/ old school, EinzelkämpferIn, RetterIn und AussteigerIn. Im Fazit zu diesen Typologien wird das Leitmotiv der Ambivalenz im ASD und der Haltung zwischen den Systemen ausgebildet. Letztendlich werden in Kapitel zehn die Ergebnisse in die professionstheoretische, empirische und historische Dimension eingeordnet. Alles in allem werden abschließend klare kritische Forderungen für die Praxis, Wissenschaft, Politik sowie Öffentlichkeit formuliert und ein Ausblick gegeben. Die Studie von Ulrike Petry stellt den Habitus der Sozialen Arbeit im ASD in den Mittelpunkt. Vor allem die Haltung der MitarbeiterInnen, bestehend aus persönlichen Verfassungen, beruflich-biografischen Erfahrungen und die Ausbildung der Hochschulen, so zeigen es die Interviewportraits und deren Auswertung, wirken sich massiv auf die Eignung aus, mit den Belastungen im ASD umzugehen. Resümierend lässt sich also sagen, dass die vorliegende Arbeit den Hochschulen, Jugendämtern und der Kommunalpolitik Anstöße geben kann, damit eine belastbare, professionelle Haltung seitens der Fachkräfte entsteht. Im ASD tätige Fachkräfte, aber auch Studierende auf ihrem Weg in ein professionelles Selbstverständnis sowie Leitungskräfte im ASD können mit dieser Studie Einblicke erhalten oder eine Einschätzung erlangen in die subjektive Wahrnehmung jener, die bereits den Weg gehen. Neben den Einblicken in die Last der Arbeit im ASD für Studierende, Leitungskräfte und die kommunale Organisation Sozialer Arbeit in Form des ASD, kann die Studie auch als eine Bestätigung der zu Beginn des Werkes beschriebenen Vermutungen gelten. Nicht nur die beschriebene mediale Präsenz und vorangehende Studien sowie der geschichtliche Exkurs zeigen zahlreiche belastende und entlastende Faktoren auf, auch durch die komplette Arbeit hinweg wird deutlich, dass z. B. vermehrt auf handlungssicherheitsgebende Maßnahmen und ein wertschätzendes Umfeld im ASD geachtet werden sollte. Diese Haltung muss zunächst im Studium vermittelt werden, durch die Leitungskräfte und die komplette Organisation des ASD getragen werden, damit sie sich in der Arbeit der Fachkräfte im ASD niederschlägt. Die Arbeit von Ulrike Petry könnte hierzu eine Hilfe bieten. Die Publikation unternimmt den Versuch, Aufmerksamkeit auf wesentliche Aspekte bezüglich der be- und entlastenden Faktoren zu lenken. Dennoch zeigt sich ebenso eindeutig, dass die Lektüre zwar nützlich für die Organisation ASD, die Wissenschaft, die Politik und Öffentlichkeit sowie Studierende und Leitungskräfte ist, gleichzeitig aber Barrieren für eine Umsetzung der von Ulrike Petry gestellten Anforderungen bestehen. Die notwendigen Voraussetzungen, um ein erfolgreicheres Arbeiten im ASD zu ermöglichen, werden genannt und sehr gut kategorisiert sowie typisiert. Der Band Ulrike Petrys ist anschaulich und präzise, er bietet bezeichnende Anhaltspunkte für Studierende und Fachkräfte, da diese sich in die genannten Typologien einordnen, sich darin wiederfinden können. Gleichzeitig ist ihre Arbeit nicht vollends frei von einem lamentierenden Unterton. Handlungsvorschläge und potenziell verbessernde Grundideen würden ihr einen motivierenden Akzent geben. Dorothee Schäfer, Sozialpädagogin B. A., Frankfurt am Main DOI 10.2378/ uj2015.art06d