unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Ausmaß, Entwicklung und Folgen von innerfamiliärer Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
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Dirk Baier
In Deutschland ist Gewalt von Eltern gegenüber ihren Kindern verboten. Wie weit verbreitet Gewalt in der Erziehung dennoch ist, lässt sich über Befragungen ermitteln, deren Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden.
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146 unsere jugend, 67. Jg., S. 146 - 154 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art22d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Ausmaß, Entwicklung und Folgen von innerfamiliärer Gewalt gegen Kinder und Jugendliche In Deutschland ist Gewalt von Eltern gegenüber ihren Kindern verboten. Wie weit verbreitet Gewalt in der Erziehung dennoch ist, lässt sich über Befragungen ermitteln, deren Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden. von Dr. Dirk Baier Jg. 1976; Dipl.-Soziologe, stellvertretender Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. Einleitung In Deutschland ist es verboten, dass Eltern ihren Kindern Gewalt antun. Dies betrifft nicht nur physische Gewalt, sondern ebenso seelische Verletzungen oder andere entwürdigende Maßnahmen. Allerdings hat es in Deutschland bis zum Jahr 2000 gedauert, bis das elterliche Züchtigungsrecht aufgehoben wurde. In anderen europäischen Ländern wie beispielsweise Schweden war dies bereits deutlich früher der Fall. Ein Gesetz verhindert zugleich nicht, dass Menschen dagegen verstoßen. Dies ist mit Blick auf innerfamiliäre Gewalt nicht anders als mit Blick auf andere Verhaltensweisen. Wie weit verbreitet Gewalt in der Erziehung derzeit noch ist, lässt sich am verlässlichsten über Befragungsstudien ermitteln. Da die Opfer dieses Verhaltens, die Kinder und Jugendlichen, nur sehr selten bei der Polizei Anzeige gegen ihre Eltern erstatten dürften, ist die Polizeiliche Kriminalstatistik eine ungeeignete Quelle, um Informationen zum Ausmaß zu erhalten. Bussmann (2013) hat deshalb repräsentative Elternbefragungen durchgeführt. Fraglich ist jedoch, inwieweit Eltern ihr negatives Erziehungshandeln in Befragungen korrekt berichten. Aus diesem Grund werden sogenannte Dunkelfeldbefragungen dazu genutzt, Informationen zur elterlichen Erziehung zu erheben. Von diesen Befragungen ist bekannt, dass mit ihnen zu sensiblen Themen verlässliche Ergebnisse erarbeitet werden können (u. a. Köllisch/ Oberwittler 2004). Nachfolgend sollen unter Rückgriff auf Dunkelfeldbefragungen unter Jugendlichen wie unter Erwachsenen, in denen die eigenen Erziehungserfahrungen erfasst wurden, Informationen zu Ausmaß, Entwicklung und Folgen innerfamiliärer Gewalt präsentiert werden. Diese Befragungen wurden vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) durchgeführt. Elterliche Gewalt wurde in Übereinstimmung mit der gesetzlichen Regelung in Deutschland relativ breit definiert (vgl. auch Müller/ Ittel 2015): Untersucht werden kann sowohl die physische wie die psychische Gewalt. Zusätzlich können zwei besondere Formen der innerfamiliären Gewalt betrachtet werden: die Gewalt der Eltern untereinander sowie die Gewalt der Kinder gegen ihre Eltern. 147 uj 4 | 2015 Gewalt in der Familie Aktuelles Ausmaß Am KFN wurden in den letzten Jahren zwei großangelegte Schülerbefragungen durchgeführt, mit denen das aktuelle Ausmaß innerfamiliärer Gewalt bestimmt werden kann. Bei der ersten Studie handelt es sich um eine Befragung von 44.610 Jugendlichen der neunten Jahrgangsstufe, die deutschlandweite Repräsentativität beansprucht (vgl. Baier et al. 2009). Die zweite Studie ist repräsentativ für das Bundesland Niedersachsen und wurde unter 9.512 Jugendlichen derselben Jahrgangsstufe durchgeführt. Da die Befragung in Niedersachsen jüngeren Datums ist (Befragungsjahr: 2013; deutschlandweite Befragung: 2007/ 2008) und da Niedersachsen bezüglich der Bevölkerungszusammensetzung (z. B. Stadt-Land-Zusammensetzung, Migrantenanteil) durchaus den bundesdeutschen Durchschnitt repräsentiert, soll im Folgenden auf diese Befragung Bezug genommen werden. Die Befragung erfolgte mittels eines schriftlichen Fragebogens in der Schulklasse während des Schulunterrichts unter Anwesenheit eines Testleiters und meist einer Klassenlehrkraft. Die Rücklaufquote betrug 64,4 %; einbezogen wurden alle Schulformen mit Ausnahme von Förderschulen mit anderem Schwerpunkt als dem Schwerpunkt Lernen. Das Durchschnittsalter der SchülerInnen lag bei 14,9 Jahren, 24,3 % hatten einen Migrationshintergrund. 1 Im Rahmen der Befragung wurde der Einsatz elterlichen, physischen Gewaltverhaltens einmal in Bezug auf die Kindheit (Zeit vor dem zwölften Lebensjahr) und einmal in Bezug auf die letzten zwölf Monate vor der Befragung erhoben. Unterschieden werden zwei Formen elterlicher Gewalt. Erfahrungen leichter elterlicher Gewalt liegen vor, wenn mindestens eine dieser drei Aussagen bejaht wurde: „mir wurde eine runtergehauen“, „ich wurde hart angepackt oder gestoßen“ und „es wurde mit einem Gegenstand nach mir geworfen“. Schwere elterliche Gewalt umfasst mindestens eines dieser drei Erlebnisse: „ich wurde mit einem Gegenstand geschlagen“, „ich wurde mit der Faust geschlagen oder getreten“ und „ich wurde geprügelt, zusammengeschlagen“. Jugendliche, die sowohl leichte als auch schwere Gewalt erlebt haben, werden der Gruppe der Befragten mit schweren Gewalterfahrungen zugeordnet. Generell zeigen die Auswertungen, dass das Erleben von Gewalt noch immer recht weit verbreitet ist: In Bezug auf die Kindheit gaben 56,8 % der Befragten an, keine Gewalt erlebt zu haben, 30,5 % haben zumindest einmal eine Form der leichten Gewalt erlebt, 12,7 % eine Form der schweren Gewalt. Von leichter physischer Gewalt in den letzten zwölf Monaten berichten 16,4 % der Jugendlichen, von schwerer Gewalt 4,9 % (keine Gewalt: 78,7 %). In Bezug auf die Kindheit wurde zudem danach gefragt, ob man psychische Gewalt durch die Eltern erfahren hat. Hierzu sollten die Jugendlichen einschätzen, wie häufig sie „als dumm, faul, hässlich, dick oder Ähnliches bezeichnet wurden“ bzw. wie häufig „andere verletzende oder beleidigende Dinge“ zu ihnen gesagt wurden. Etwas mehr als die Hälfte der Jugendlichen (59,9 %) gab an, nie so etwas von den Eltern gehört zu haben. Fast jede/ r Dritte berichtete von seltener psychischer Gewalt (31,4 %), 8,7 % von häufiger psychischer Gewalt. Zwei zusätzliche Aussagen im Fragebogen widmeten sich der Frage, inwieweit sich die Eltern untereinander gewalttätig behandeln. Die Aussagen lauteten: „Ich habe mitbekommen, wie ein Elternteil den anderen heftig herumgestoßen oder geschüttelt hat“ und „Ich habe gesehen, wie meine Eltern sich gegenseitig geschlagen haben“. Die Einschätzungen der Jugendlichen sollten sich dabei auf die letzten zwölf Monate beziehen. Nur ein kleiner Teil der Befragten bejahte, Zeuge solcher Vorfälle geworden zu sein: 4,7 % der Jugendlichen gaben dies an. 1 Als MigrantInnen gelten SchülerInnen, die selbst nicht in Deutschland geboren wurden oder keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen bzw. bei denen dies auf mindestens ein leibliches Elternteil zutrifft. 148 uj 4 | 2015 Gewalt in der Familie Die Auswertungen lassen damit mindestens zwei Folgerungen zu: Erstens wächst noch etwa die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit negativen Erziehungserfahrungen in Form physischer wie psychischer Gewalt auf, wobei schwere bzw. häufige negative Erfahrungen seltener sind (in etwa jeder 10. Jugendliche gibt dies an). Zweitens nehmen entsprechende Erfahrungen mit dem Älterwerden ab. Nicht alle Jugendlichen berichten gleichermaßen negative Erlebnisse in Bezug auf ihre Eltern. Abbildung 1 stellt in Bezug auf die schwere physische und häufige psychische Gewalt in der Kindheit wichtige Gruppenunterschiede vor. Hinsichtlich des Geschlechts zeigt sich eine erhöhte Betroffenheit der Mädchen im Vergleich zu den Jungen - die Unterschiede sind aber eher gering ausgeprägt. Wird nach dem Elterngeschlecht differenziert, kann hinsichtlich der elterlichen Gewalt die sogenannte Same-Sex- Hypothese bestätigt werden (vgl. Baier/ Pfeiffer 2014, 121f ): Obwohl sich Jungen und Mädchen hinsichtlich des Gesamtausmaßes der elterlichen Gewalt kaum unterscheiden, gilt, dass Mädchen eher vonseiten der Mütter, Jungen eher vonseiten der Väter Gewalt erfahren. Größere Unterschiede gibt es daneben im Vergleich von Jugendlichen verschiedener Statusgruppen. In Familien, die von staatlichen Transferleistungen 2 abhängig sind, berichten Jugendliche deutlich häufiger davon, Übergriffe der Eltern zu erleben. Möglicherweise erhöht die schwierige ökonomische Situation dieser Familien das Konfliktniveau, sodass es häufiger zu Streitigkeiten und Gewaltanwendungen kommt. Möglich ist aber ebenso, dass bestimmte soziale Milieus ein höheres Risiko aufweisen, dass Gewalt gegen die Kinder angewendet wird und gleichzeitig eine Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen vorliegt. Ebenfalls ausgeprägte Unterschiede ergeben sich im Vergleich der verschiedenen ethnischen Gruppen. Deutsche Jugendliche berichten am seltensten von physischer und psychischer Ge- 2 Wenn mindestens ein Elternteil arbeitslos ist oder die Familie Sozialhilfe/ Hartz IV bezieht, liegt ein Bezug staatlicher Transferleistungen vor. 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0 0,0 12,0 7,6 13,4 9,8 11,5 7,8 22,7 15,8 9,5 7,3 28,4 13,0 20,7 9,8 20,3 15,9 20,3 14,8 16,4 16,0 16,9 12,4 20,6 15,5 26,7 11,2 Jungen Mädchen nein ja Deutschland ehem. SU Türkei Polen ehem. Jugoslawien Südeuropa Nord-/ Westeuropa arabische Länder Asien Geschlecht Bezug staatl. Transferleistungen ethnische Herkunft schwere physische Gewalt in der Kindheit häufig psychische Gewalt in der Kindheit Abb. 1: Elterliche Gewalt nach verschiedenen Gruppen (in %) 149 uj 4 | 2015 Gewalt in der Familie walt durch die Eltern. Die höchste Rate schwerer physischer Gewalt findet sich für die Jugendlichen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion - hier fällt die Rate immerhin dreimal so hoch aus (28,4 %). Psychische Gewalt wird demgegenüber am häufigsten von Eltern polnischer und südeuropäischer Jugendlicher ausgeführt. Die höhere Gewaltbereitschaft von Migranteneltern könnte mit der schlechteren sozio-ökonomischen Lage in Zusammenhang stehen. Entscheidend hierfür dürften aber ebenso kulturelle Unterschiede in Bezug auf die Legitimität bzw. Illegitimität des Gewalteinsatzes in der Erziehung sein. Exkurs: Gewalt gegen eigene Eltern Zum Thema Gewalt gegen die Eltern finden sich in Deutschland bislang wenig empirische Studien. Im Rahmen der niedersachsenweiten Schülerbefragung wurden in einer zufällig bestimmten Teilstichprobe zwei Formen der Gewalt erfragt: Verbale Gewalt wurde über die Items „Ich habe meine Mutter/ meinen Vater beschimpft oder beleidigt“ bzw. „mit Worten gedroht“, physische Gewalt mit den Items „Ich habe meine Mutter/ meinen Vater hart angepackt oder gestoßen“, „geschlagen oder getreten“ und „mit einem Gegenstand geschlagen“ erhoben. Die Jugendlichen sollten ihre Antwort auf die letzten zwölf Monate beziehen. Verbale Gewalt haben in dieser Zeit insgesamt 47,4 % der SchülerInnen ausgeübt, 29,4 % taten dies ein- oder zweimal, 18,0 % mindestens dreimal. Physische Gewalt übten 7,5 % der Befragten aus, 5,4 % ein- oder zweimal, 2,1 % mindestens dreimal. Verbale Gewalt wird signifikant häufiger von Mädchen als von Jungen ausgeführt. Bei der physischen Gewalt fallen die Geschlechterunterschiede eher gering aus: Zwar führen Jungen mit insgesamt 8,2 % häufiger physische Gewalt gegenüber ihren Eltern aus als Mädchen (6,8 %). Im Vergleich zu anderen Gewaltverhaltensweisen ist dies aber ein eher kleiner Abstand (vgl. u. a. Baier 2011). Entwicklung Um die Entwicklung der innerfamiliären Gewalt betrachten zu können, wird auf den sogenannten Victimsurvey zurückgegriffen, eine deutschlandweit repräsentative Studie der ab 16-jährigen Bevölkerung. Der Victimsurvey wurde zweimal in einem Abstand von 19 Jahren durchgeführt (Bilsky et al. 1992; Stadler et al. 2012), mit z.T. vergleichbaren inhaltlichen Schwerpunkten. Im Jahr 1992 wurden 15.771 Personen einbezogen, im Jahr 2011 11.428. Ein Vergleich beider Befragungen kann sich allerdings nicht auf alle Befragten, sondern nur auf jene Befragten beziehen, die eine deutsche Herkunft haben, die ein Alter zwischen 16 und 40 Jahren aufweisen und die das Fragebogenmodul zu Erfahrungen elterlicher Gewalt ausgefüllt haben. Entsprechend dieser Einschränkungen liegen den Auswertungen des Jahres 1992 Angaben von 2.149 Personen zugrunde, während für die Auswertungen des Jahres 2011 9.175 Personen berücksichtigt werden können. In beiden Jahren wurden drei Formen elterlicher Gewalt abgefragt (vgl. Baier/ Pfeiffer 2014, 129f ): Leichte Gewalt (z. B. eine runterhauen), schwere Gewalt (z. B. prügeln, zusammenschlagen) und sehr schwere Gewalt (z. B. würgen). Im Vergleich der beiden Erhebungsjahre ergibt sich ein deutlicher Rückgang des Anteils an Befragten, die Gewalt erleben mussten: Im Jahr 1992 berichteten insgesamt noch 73,7 % der Befragten, in Kindheit bzw. Jugend Gewalt erlebt zu haben, im Jahr 2011 nur mehr 48,0 %. Rückläufig ist dabei in erster Linie die leichte Gewalt (von 57,9 auf 35,8 %); aber auch bei der schweren (von 13,3 auf 10,4 %) und sehr schweren Gewalt (von 2,4 auf 1,8 %) sind Rückgänge zu verzeichnen. Elterliche Gewalt hat insofern nachweislich abgenommen. Sehr instruktiv verdeutlicht dies eine zusätzliche Auswertung getrennt für verschiedene Geburtskohorten. 40-jährige Befragte des Victimsurveys 1992 sind im Jahr 1952 geboren worden; werden zusätzlich die 41bis 60-Jährigen der Befra- 150 uj 4 | 2015 Gewalt in der Familie gung von 1992 einbezogen, ist es sogar möglich, bis ins Geburtsjahr 1932 zurückzugehen. Werden daneben die Befragten des Victimsurveys 2011 berücksichtigt, deren jüngste Befragte 16 Jahre alt waren, kann eine Geburtsjahr- Zeitspanne von 1932 bis 1995 durch beide Befragungen abgebildet werden. Als Geburtskohorten werden dabei jeweils Zehnjahresabstände definiert, so dass insgesamt sieben Kohorten unterschieden werden können. Abbildung 2 gibt die Ergebnisse des Geburtskohortenvergleichs wieder. Beim elterlichen Gewaltverhalten werden die beiden Gruppen der Befragten mit schweren und sehr schweren Gewalterfahrungen aufgrund des eher geringen Vorkommens zusammengefasst. Die Ergebnisse zeigen, dass der Anteil derjenigen, die elterliche Gewalt erleben mussten, von 78,6 % (Geburtskohorte 1932 bis 1940) auf 37,5 % (Geburtskohorte ab 1991) gesunken ist. Der Anteil an Befragten mit schweren Gewalterfahrungen hat sich mehr als halbiert (von 17,4 auf 7,8 %). Aufgeführt in der Abbildung ist daneben der Anteil an Befragten, die eine mittlere oder hohe elterliche Zuwendung erfahren haben. Dies ist mehr oder weniger das Pendant zur elterlichen Gewalt. Erhoben wird diese Form der Erziehung über Aussagen wie „Meine Eltern haben mich in den Arm genommen und mit mir geschmust“ (Baier/ Pfeiffer 2014, 126). Im Gegensatz zum Gewaltverhalten steigt der Anteil an Befragten, die hohe Zuwendung erfahren haben, stark an. Bei der jüngsten Kohorte beträgt der Anteil Befragter mit mittlerer oder hoher Zuwendung fast einhundert Prozent (96,9 %; Kohorte 1932 bis 1940: 83,6 %). Folgen Hinsichtlich der Folgen innerfamiliärer Gewalterfahrungen ist zunächst auf den Kreislauf der Gewalt hinzuweisen. Dieser besagt, dass Opfer von Gewalt zu Gewalttätern werden. Gershoff (2002) bestätigt dies anhand einer umfassenden Meta-Analyse. Unter Rückgriff auf 27 Einzelstudien zeigt die Analyse, dass elterliche 100,0 80,0 60,0 40,0 20,0 0,0 1932 bis 1940 1941 bis 1950 1951 bis 1960 1961 bis 1970 1971 bis 1980 1981 bis 1990 ab 1991 1932 bis 1940 1941 bis 1950 1951 bis 1960 1961 bis 1970 1971 bis 1980 1981 bis 1990 ab 1991 Gewalt Zuwendung mittlere Zuwendung bzw. leichte Gewalt hohe Zuwendung bzw. (sehr) schwere Gewalt 17,4 61,2 18,8 56,7 18,0 58,6 14,5 58,5 15,4 40,7 10,9 34,1 7,8 29,7 25,9 57,6 31,6 54,9 34,6 55,3 41,3 50,7 56,7 36,1 64,2 31,9 68,0 28,9 Abb. 2: Entwicklung der elterlichen Gewalt bzw. Zuwendung im Geburtskohortenvergleich (in %) 151 uj 4 | 2015 Gewalt in der Familie Gewalt zu erhöhter Aggression führt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass mittlerweile auch diese Sichtweise stützende Befunde von Längsschnittstudien vorliegen, die also das elterliche Erziehungsverhalten und das Gewalthandeln zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfasst haben. Diese sprechen für eine kausale Wirkrichtung, nach der die elterliche Gewalt zu Gewaltverhalten führt. Die Sichtweise, dass elterliche Gewalt eine Reaktion auf das aggressive Verhalten der Kinder ist, kann damit zurückgewiesen werden. Auch in der niedersachsenweiten Schülerbefragung 2013 bestätigt sich der Zusammenhang zwischen elterlicher Gewalt und eigenem Gewaltverhalten. Die Jugendlichen sollten mit Blick auf die letzten zwölf Monate angeben, ob sie Körperverletzungen, Raubtaten, Erpressungen oder sexuelle Gewaltübergriffe ausgeübt haben. Von allen Befragten bejahten dies 7,9 %. Entsprechend den in Tabelle 1 aufgeführten Ergebnissen einer binär-logistischen Regressionsanalyse 3 gilt, dass Befragte, die leichte physische Gewalt in der Kindheit 4 erlebt haben, ein 1,8-fach so hohes Risiko aufweisen, mindestens eine Gewalttat ausgeführt zu haben, als Befragte, die keine Gewalt erlebt haben. Das Erleben schwerer Gewalt erhöht das Risiko sogar um mehr als das 2,8-Fache. Das Erleben elterlicher Gewalt ist unabhängig von der Schwere der Gewalt damit ein Risikofaktor für eigenes Gewaltverhalten; d. h. auch vermeintlich leichte Züchtigungsformen sind nicht folgenlos. Auf etwas niedrigerem Niveau ergeben sich ebenfalls signifikante Zusammenhänge mit der psychischen Gewalt. Es handelt sich hierbei um eigenständige Effekte, insofern das Erleben physischer Gewalt im multivariaten Modell kontrolliert wird. Auch verbale Aggressionen sind also nicht folgenlos für die diese Gewalt erlebenden 3 Mit diesem statistischen Verfahren ist es möglich, simultan den Einfluss mehrerer Einflussfaktoren auf eine binär kodierte abhängige Variable (Gewalttäter: nein vs. ja) zu untersuchen. Die bestehenden Zusammenhänge werden unter Rückgriff auf die sog. Odds-Ratio-Koeffizienten dargestellt. Diese können Werte über oder unter 1 annehmen. Koeffizienten über 1 bedeuten, dass ein Faktor das Risiko der Gewalttäterschaft erhöht. Werte unter 1 bedeuten umgekehrt, dass ein Faktor das Risiko der Gewalttäterschaft senkt. 4 In die Analysen wurde das Erleben physischer Gewalt in den letzten zwölf Monaten nicht berücksichtigt, da es hier starke Zusammenhänge mit dem Erleben dieser Gewaltform in der Kindheit gibt. Gewaltverhalten in den letzten 12 Monaten Gewaltverhalten gegenüber eigenen Eltern Cyberbullying Geschlecht weiblich 0.295*** 0.673* 1.055 Migrationshintergrund ja 1.475*** 0.676* 1.178** Bezug Transferleistungen ja 0.964 1.237 0.974 physische Gewalt in der Kindheit keine leichte schwere Referenz 1.829*** 2.864*** Referenz 2.819*** 4.811*** Referenz 1.655*** 1.885*** psychische Gewalt in der Kindheit nie selten häufig Referenz 1.327** 2.413*** Referenz 2.242*** 2.849*** Referenz 1.407*** 1.764*** Beobachtung elterlicher Gewalt ja 0.822 2.564*** 1.452** N 8459 2755 8467 Nagelkerkes R 2 .108 .150 .055 Tab. 1: Innerfamiliäre Gewalt als Einflussfaktor aggressiven Verhaltens (binär-logistische Regressionsanalyse; abgebildet: Exp(B)) * p < .05, ** p < .01, *** p < .001 152 uj 4 | 2015 Gewalt in der Familie Kinder und Jugendlichen. Allein das Beobachten elterlicher Gewalt reicht den Befunden entsprechend hingegen noch nicht aus, das Risiko der eigenen Gewalttäterschaft zu erhöhen. Zum entsprechenden Faktor ergibt sich kein signifikanter Zusammenhang, höchstwahrscheinlich deshalb, weil es Familien, in denen sich ausschließlich die Eltern gewalttätig verhalten, kaum gibt. Bei solch einem Familienklima kommt es ebenso zu Übergriffen auf die Kinder. In das Erklärungsmodell wurden zusätzlich die Faktoren Geschlecht (weibliche Befragte führen signifikant seltener Gewalttaten aus), Migrationshintergrund (MigrantInnen treten häufiger als GewalttäterInnen in Erscheinung) und Bezug staatlicher Transferleistungen (kein signifikanter Zusammenhang mit dem Gewaltverhalten) einbezogen. Dies wurde deshalb getan, weil - wie weiter oben berichtet - hinsichtlich des elterlichen Gewaltverhaltens z. T. Unterschiede zwischen diesen Gruppen festgestellt wurden. Um Scheinkorrelationen zu vermeiden, werden diese Faktoren deshalb kontrolliert. Für den Kreislauf der Gewalt existieren mindestens vier Erklärungen (Baier/ Pfeiffer 2015): ➤ Entsprechend der sozialen Lerntheorie kann davon ausgegangen werden, dass die Kinder die sie prügelnden Eltern als Vorbilder betrachten und das vorgelebte Verhalten imitieren. ➤ Persönlichkeitsorientierte Ansätze gehen daneben davon aus, dass die Anwendung elterlicher Gewalt die Persönlichkeit eines Kindes negativ beeinflusst und dass die dadurch anerzogenen Persönlichkeitsfaktoren (wie z. B. eine geringe Empathie und Selbstkontrolle) das Gewaltverhalten erhöhen. ➤ Neben diesen Erklärungen wird auch auf neurologische Veränderungen bei Kindern, die Gewalt erleben, hingewiesen. Schädigungen in Gehirnbereichen, die für die Hemmung aggressiver Impulse oder die Steuerung der Hormonproduktion zuständig sind, können eine erhöhte Gewaltbereitschaft nach sich ziehen. ➤ Psychodynamische Ansätze betonen zuletzt, dass die Anwendung elterlicher Gewalt eine Ohnmachtserfahrung darstellt. Durch die Ausübung von Gewalt, d. h. die Ausübung von Macht, kompensieren die Jugendlichen ihre Ohnmachtserfahrungen. Dass sich der Kreislauf der Gewalt nicht nur für Gewaltverhalten gegenüber Gleichaltrigen bestätigt, belegt das ebenfalls in Tabelle 1 präsentierte Erklärungsmodell zur Gewalt gegen die eigenen Eltern. Jugendliche, die in ihrer Kindheit leichte Gewalt durch die Eltern erleben mussten, weisen ein 2,8-fach so hohes Risiko auf, den eigenen Eltern Gewalt anzutun, als Jugendliche, die keine elterliche Gewalt erlebt haben. Dieses Risiko erhöht sich bei den Jugendlichen mit schweren Gewalterfahrungen sogar um das 4,8-fache. Zudem bestätigt sich erneut, dass auch psychische Übergriffe der Eltern zur Folge haben, dass sich die Kinder mit physischen Übergriffen rächen. Auch das Beobachten elterlicher Gewalt hat zur Folge, dass es Jugendliche als legitim erachten, Gewalt gegenüber den eigenen Eltern anzuwenden. In Familien, in denen ein gewalttätiges Klima herrscht, richtet sich Gewalt also nicht nur gegen die Kinder, sondern ebenso gegen die Eltern. Im Unterschied zum Modell zur Gewalttätigkeit in den letzten zwölf Monaten zeigt sich im Modell zur Gewalt gegen die eigenen Eltern, dass MigrantInnen signifikant seltener als einheimische Deutsche ihre Eltern schlagen. In Migrantenfamilien wird der Kreislauf der Gewalt zumindest mit Blick auf die eigenen Eltern also häufiger unterbrochen. Für die anderen beiden Kontrollvariablen ergeben sich vergleichbare Befunde zum ersten Modell. In Tabelle 1 sind zudem die Befunde zu einem dritten Beispiel des Kreislaufs der Gewalt dargestellt, wobei eine nicht-physische Aggressionsform betrachtet wird: das Cyberbullying. 26,6% der Jugendlichen berichten, im letzten Schulhalbjahr mindestens einmal ein Verhalten wie das Verspotten, Beleidigen, Beschimpfen oder Bedrohen über Internet/ Handy ausgeführt zu haben. Neben diesem Verhalten wurden fol- 153 uj 4 | 2015 Gewalt in der Familie gende drei weitere Verhaltensweisen unter Cyberbullying zusammengefasst: Gerüchte über andere verbreiten, andere bloßgestellt/ lächerlich machen, andere aus der Gruppe ausschließen (jeweils über Internet/ Handy). Auch für dieses Verhalten ergeben sich Zusammenhänge mit innerfamiliären Gewalterfahrungen. Dies ist unter Rekurs auf die erwähnten Erklärungsansätze plausibel: Wenn der Gewalteinsatz beispielsweise zur Folge hat, dass die Empathie in geringerem Maße ausgebildet wird, dann sollte sich dies auch in Verhaltensweisen zeigen, die andere Personen auf nicht physische Art schädigen, insofern man die negativen Folgen, die auch das Cyberbullying für das Opfer hat, nicht ausreichend antizipiert. Elterliche Gewalt wirkt sich jedoch nicht allein auf aggressives Verhalten aus, die negativen Folgen sind viel umfassender. Gershoff (2002) belegt in ihrer Meta-Analyse u. a. Zusammenhänge mit der seelischen Gesundheit (geringer Selbstwert, Depression). In der gleichen Weise zeigen Baier et al. (2013), dass die Erfahrung elterlicher Gewalt mit einer erhöhten Selbstmordbereitschaft und einer geringeren Lebenszufriedenheit einher geht. Es leidet damit ganz allgemein das Wohlbefinden der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Zusätzlich belegen die Auswertungen von Baier et al. (2013), dass innerfamiliäre Gewalt eine Bandbreite weiterer Problemverhaltensweisen prädiziert, angefangen vom Alkoholkonsum und Schulschwänzen bis hin zur Eigentumsdelinquenz oder Computerspielabhängigkeit. Ausblick Die elterliche Erziehung ist ein wichtiger Einflussfaktor des aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter. Vor dem Hintergrund der berichteten positiven Entwicklungstrends zum elterlichen Gewaltverhalten wundert es daher nicht, dass in Deutschland seit einigen Jahren die Jugendkriminalität, insbesondere die Jugendgewalt, rückläufig ist - wobei dieser Trend sicherlich ebenso durch weitere Faktoren beeinflusst wird (vgl. Baier et al. 2013 a). Seit 2007 hat sich bis 2013 die Tatverdächtigenbelastungszahl (Anzahl jugendlicher Täter pro 100.000 Jugendliche) für die Kriminalität insgesamt um 22,0 % reduziert, für Gewaltkriminalität um 41,2 %. Nicht nur in der Polizeilichen Kriminalstatistik, auch in wiederholt durchgeführten Befragungen zeichnen sich diese Trends ab, u. a. auch im Bereich der sexuellen Gewalt (Stadler et al. 2012). Gleichzeitig gibt es noch immer einen nicht kleinen Anteil an Kindern und Jugendlichen, die schwere Formen elterlicher Übergriffe erleben müssen. Zukünftig erscheint es daher notwendig, diese Familien noch besser zu identifizieren und den Eltern die Kompetenzen zu vermitteln, die notwendig sind, um Erziehung gewaltlos zu gestalten. Programme, die dies ermöglichen (z. B. Triple P, EFFEKT) und die über Evaluationen nachgewiesen haben, dass sie wirksam sind, gibt es bereits. Diese Programme müssten noch stärker jenen Familien angeboten werden, in denen hierfür ein Bedarf besteht. Die Auswertungen zu den negativen Folgen elterlicher Gewalt verdeutlichen zugleich, dass es keinen deterministischen Zusammenhang zwischen der Erfahrung von Gewalt und Aggressivität gibt. Viele Kinder und Jugendliche bleiben trotz negativer Erziehungserfahrungen unauffällig. Über die Faktoren, die die Resilienz von Kindern und Jugendlichen stärken, ist bislang nur wenig bekannt. Personen im weiteren Familienumfeld, in der Schule oder der Nachbarschaft könnten ein stabilisierendes Moment darstellen. Zukünftige Studien sollten sich verstärkt diesen Resilienzfaktoren zuwenden, da dadurch sicherlich weitere Hinweise auf Präventionsmaßnahmen abgeleitet werden können. Dr. Dirk Baier Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. Lützerodestraße 9 30161 Hannover dirk.baier@kfn.de www.kfn.de 154 uj 4 | 2015 Gewalt in der Familie Literatur Baier, D. (2011): Jugendgewalt und Geschlecht - Erkenntnisse aus Kriminalstatistik und Dunkelfelduntersuchungen. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe 22, 356 - 364 Baier, D., Pfeiffer, C., Hanslmaier, M. (2013): Rückgang der Jugendkriminalität: Ausmaß und Erklärungsansätze. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe 24, 279 - 288 Baier, D., Pfeiffer, C. (2014): Elterliches Erziehungshandeln im Geschlechtervergleich. In: Mößle, T., Pfeiffer, C., Baier, D. (Hrsg.): Die Krise der Jungen. Phänomenbeschreibung und Erklärungsansätze. Nomos, Baden-Baden, 113 - 144 Baier, D., Pfeiffer, C. 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(2002): Corporal punishment by parents and associated child behaviors and experiences: A meta-analytic and theoretical review. Psychological Review 128, 539 - 579 Köllisch, T., Oberwittler, D. (2004): Wie ehrlich berichten männliche Jugendliche über ihr delinquentes Verhalten? Ergebnisse einer externen Validierung. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 56, 708 - 735 Müller, C. R., Ittel, A. (2015): Häufigkeit, Ursachen und Entwicklungstendenzen von Gewalt in Familien. In: Melzer, W., Hermann, D., Sandfuchs, U., Schäfer, M., Schubarth, W., Daschner, P. (Hrsg.): Handbuch Aggression, Gewalt und Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn, 219 - 225 Stadler, L., Bieneck, S., Pfeiffer, C. (2012): Repräsentativbefragung sexueller Missbrauch 2011. Forschungsbericht Nr. 118. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, Hannover
