eJournals unsere jugend 67/5

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
51
2015
675

„Sprungbrett“ - Clearing für hochauffällig agierende Jugendliche

51
2015
Roland Zeeck
Veit Werner
„Sprungbrett“ ist ein Angebot von Aktion ’70 – Jugendhilfe im Verbund e. V. in Berlin Neukölln. Es handelt sich dabei um eine Einrichtung für hochauffällig agierende, über 14-jährige Jugendliche, die oft zwischen Psychiatrie, Jugend- und Sozialhilfe stehen – ein Modellprojekt, dessen Konzept gemeinsam mit dem Jugendamt Neukölln und der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Vivantesklinikums am Friedrichshain entwickelt wurde.
4_067_2015_005_0212
212 unsere jugend, 67. Jg., S. 212 - 217 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art33d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Sprungbrett“ - Clearing für hochauffällig agierende Jugendliche Interview mit Roland Zeeck und Veit Werner „Sprungbrett“ ist ein Angebot von Aktion ’70 - Jugendhilfe im Verbund e.V. in Berlin Neukölln. Es handelt sich dabei um eine Einrichtung für hochauffällig agierende, über 14-jährige Jugendliche, die oft zwischen Psychiatrie, Jugend- und Sozialhilfe stehen - ein Modellprojekt, dessen Konzept gemeinsam mit dem Jugendamt Neukölln und der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Vivantesklinikums am Friedrichshain entwickelt wurde. von Roland Zeeck Jg. 1964; Soziologe, Leiter der Kriseneinrichtung Nogat ’7 in Neukölln und des Projektes „Sprungbrett“ ? Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Sprungbrett ins Leben zu rufen? Roland Zeeck: Zum einen haben wir eine Kriseneinrichtung im Bezirk Neukölln und haben dort immer wieder Jugendliche, die wir nicht ausreichend versorgen können, die nicht gruppenfähig sind, die bei uns abbrechen oder die disziplinarisch entlassen werden. Zum anderen gibt es seit Jahren beim Jugendamt Neukölln eine Steuerungsgruppe Psychiatrie - Jugendhilfe - Schule. Dort hat die Klinik schon 2009 den Bedarf benannt: Hochauffällig agierende Jugendliche, die aus Jugendhilfe-Einrichtungen kommen, werden in der Psychiatrie vorgestellt. Sie bringen aber nicht die nötige Bereitschaft mit, um sich diagnostizieren zu lassen und brechen den Aufenthalt häufig ab. In diesen Fällen steht aus Sicht der Klinik ein erzieherischer Bedarf im Vordergrund. Dafür wünschten sich die Kliniken in dieser Steuerungsrunde ein Angebot der Bezirke in ihrem Versorgungsbereich. Sie haben auch Druck auf das Jugendamt ausgeübt, ein solches Angebot zu schaffen. Der Bedarf ist dann erstmals ganz offiziell von Amtsseite formuliert und an uns herangetragen worden, auch weil wir in Neukölln eine Kriseneinrichtung betreiben. ? Wie haben Sie reagiert? Wir waren sehr interessiert und froh, angefragt zu werden. Auch weil das unseren Bedarf bestätigt und uns die Möglichkeit gibt, unser Angebot auszuweiten, den Abbruch zu senken. Unser Clearing für die betreffenden Jugendlichen kann damit in einem Erfolg versprechen- Veit Werner Jg. 1965; pädagogischer Mitarbeiter in der Kriseneinrichtung Nogat ’7 und im Projekt „Sprungbrett“ 213 uj 5 | 2015 „Sprungbrett“ - Clearing für hochauffällig agierende Jugendliche den Setting umgesetzt werden, weil Clearing in der Gruppe mit diesen Jugendlichen nicht gelingt. Nachdem die pädagogischen Standards thematisiert waren, ging es auch um die Finanzierung. Eine Individualbetreuung ist immer auch eine Kostenfrage, die hochauffälligen Jugendlichen verlangen vielleicht eine Rund-um-die- Uhr-Betreuung, was den Finanzrahmen leicht sprengen kann. So sind wir darauf gekommen, ein Angebot in einer 1 : 1-Betreuung zu konzipieren, jedoch keine Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Geplant war ein/ e SozialarbeiterIn für einen hochauffälligen jungen Menschen, der mit betreuungsfreien Zeiten umgehen kann, in einer Wohnung in Neukölln. Wir haben uns ein Angebot gewünscht, in dem wir sehr viel Zeit für Betreuung haben, die wir in den Gruppenangeboten nicht haben. Für die Jugendlichen ist das eine exklusive Situation: Es ist immer jemand für dich da. Gleichzeitig sollte die Betreuung auch nicht zu eng sein. Es geht um eine Bezugsperson, die am Jugendlichen dran bleibt, denjenigen, der die Einrichtung für einige Zeit verlässt, aufsuchen kann und von der Straße zurückholt. Es kommt nicht gleich zu einer disziplinarischen Entlassung wie in anderen Einrichtungen, sondern es ist mehr Freiraum da. Wir haben auch Zeit, Elternkontakte zu gestalten und die Möglichkeit, Jugendliche zu motivieren, sich in der Klinik vorzustellen. Die Kooperation mit der Klinik ist das Besondere, die MitarbeiterInnen haben einfach die Zeit, sehr viele lose Fäden zusammenzubinden. Das Setting ist äußerst flexibel. ? Wie läuft das denn im Einzelfall ab? Veit Werner: Am Anfang ist der Kontakt sehr intensiv. Die Jugendlichen haben viele Fäden verloren, durch ihre Art zu leben, was dazu geführt hat, dass sie bei Sprungbrett landen. Sie sind z. B. medizinisch nicht versorgt, die Schule wurde abgebrochen oder sie werden über Jahre notbeschult, weil sie im normalen Schulsetting nicht klar kamen. Therapeutische Settings sind oftmals abgebrochen, Medikamente wurden selbstständig abgesetzt, sie gehen nicht mehr zu Therapien, das geht oft noch einher mit Drogenabhängigkeit oder Delinquenz. In der Anfangsphase wird alles gemacht, worum sich Eltern normalerweise kümmern müssten: Wir versuchen, die medizinische Versorgung wieder herzustellen oder Schulbesuch zu sichern. Wir können sie in ein„Schulclearing“ geben und dann weiß man, wo sie stehen und was möglich ist. Es wird eine externe therapeutische Anbindung angebahnt. Bei uns besteht ja ein pädagogischer Rahmen, aber es gibt oft auch ganz anderen Bedarf, z. B. eine Tagesklinik zu besuchen oder regelmäßig Gespräche beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst zu führen. Manches Mal muss zuerst ein Ablauftraining erfolgen, weil der Tagesrhytmus verschoben ist, durch die Lebensform, nachts aktiv zu sein und am Tag zu schlafen. Wenn sie eine Maßnahme haben, bei der sie früh um sechs Uhr da sein müssen, dann muss der/ die BetreuerIn ggf. um fünf Uhr bei ihnen sein, sie wecken, den Weg zur Einrichtung mitgehen. Das kann man dann ausschleichen bis dahin, dass man dann nur noch telefonisch weckt oder sie sogar von alleine aufstehen. Anfangs füllt man die Zeit, in der sie tagsüber nicht versorgt werden, indem man etwas für die Beziehung tut, mit ihnen z. B. Sport oder Kultur macht. Nach dieser Phase, wenn die Jugendlichen versorgt sind, ist der Kontakt nicht mehr so groß. Dann kann man anfangen, alles auszuwerten, passende Angebote zu überlegen, dann sucht man und knüpft Kontakte zu möglichen Folgeeinrichtungen. ? Es gelingt also, eine Beziehung zu den jungen Menschen aufzubauen? Veit Werner: Mit der Beziehung steht und fällt die Arbeit bei uns. Grundbedingung ist, dass die Jugendlichen bereit sind, zu uns zu kom- 214 uj 5 | 2015 „Sprungbrett“ - Clearing für hochauffällig agierende Jugendliche men und wir eine Beziehung aufbauen. Zweitens, dass sie mit betreuungsfreien Zeiten umgehen können. Um Wohnungen zu halten, können wir es uns nicht leisten, dass Jugendliche andere junge Leute dort mitwohnen lassen, Party machen, Dinge aus dem Fenster werfen. Wenn die Jugendlichen zur Mitarbeit bereit sind, können wir durch das Zeitfenster und die finanziellen Möglichkeiten eine große Gelassenheit in der Arbeit entwickeln, die sich dann auch am Ende oft bezahlt macht. ? Wie kommen die Jugendlichen zu Ihnen? Roland Zeeck: Ganz viele der Jugendlichen werden schon in der Kriseneinrichtung identifiziert. Die MitarbeiterInnen des Sprungbrettes sind organisatorisch an die Neuköllner Kriseneinrichtung angebunden. Dort sehen wir sehr viele hochauffällige Neuköllner Jugendliche. Ein großer Teil der Jugendlichen, die bei Sprungbrett betreut wurden, waren vorher in der Kriseneinrichtung. Wir schlagen sie dem Jugendamt vor und kommen dann ins Gespräch. Es gibt auch Anfragen von außen, das sind dann KlientInnen, die wir nicht kennen, da machen wir dann auch ein anderes Prüfungs- und Bewerbungsverfahren. Aus der Psychiatrie kommen recht wenige. Sie hat zwar den Bedarf benannt, aber das sehr kleine Projekt Sprungbrett ist nicht immer im Blickfeld der Psychiatrie. ? Unter welchen Bedingungen kommt ein/ e Jugendliche/ r für Sprungbrett infrage? Roland Zeeck: Es sollte sich eine psychiatrische Komponente andeuten, also es sollte eine Auffälligkeit vorhanden sein, die über das hinausgeht, was man mit erzieherischen Mitteln auffangen kann. Es sollte sich andeuten, dass psychologische Unterstützung notwendig ist. Oft hat es auch schon im Kindesalter Kontakte zur Psychiatrie gegeben. Mangelnde Gruppenfähigkeit ist ebenfalls häufig die Ursache sowie ein Ausmaß an Auffälligkeiten, das sich in den herkömmlichen Angeboten nicht aushalten und nicht steuern lässt. ? Handelt es sich um Jugendliche mit seelischer oder geistiger Behinderung, die bei Sprungbrett untergebracht werden? Roland Zeeck: In der Regel gibt es nur eine Verdachtsdiagnose, weil die Psychiatrieaufenthalte nicht so verliefen, wie geplant. Die Jugendlichen haben sich in der Psychiatrie verweigert, wurden aggressiv und deshalb entlassen oder haben sich selbst entlassen. Verdachtsdiagnosen, unvollständige Diagnosen, das ist das Klassische. Wir versuchen dann, ein Setting herzustellen, dass eine Diagnose überhaupt erst möglich wird. So ist z. B. eine Diagnose in der Tagesklinik möglich, während sie bei uns betreut werden, oder in der Klinik, während sie uns als Ansprechpartner behalten. Wir vermitteln ihnen: wir sind weiter für dich da, auch wenn du aus der Klinik entlassen wirst. Wir arbeiten daran, die Hemmschwelle zu senken, dass jemand sich darauf einlässt, weil es oft große Aversionen und schlechte Erfahrungen mit Aufenthalten in der Psychiatrie gibt. Und in diesem Rahmen haben wir dann oft auch Diagnosen, die neben der seelischen auch eine geistige Behinderung feststellen, vorher war das gar nicht möglich, weil die Jugendlichen nicht an einem Ort geblieben sind, um sich damit auseinanderzusetzen. Veit Werner: Klinisch diagnostizierte Behinderungen, z. B. geringer IQ oder seelische Traumata, können bei den Jugendlichen da sein oder nicht, aber sie können alle als stark eingeschränkt in ihren sozialen Kontakten gelten. Dies resultiert aus ihrer ganz individuellen Geschichte und deshalb ist Sprungbrett ein pädagogisches Projekt, das versucht, dies aufzufangen und auf eine angemessene Versorgung hinzusteuern. Und die klinisch festgestellten Behinderungen, wenn sie bestehen, werden im Idealfall dann auf der klinischen oder therapeutischen Ebene behandelt. 215 uj 5 | 2015 „Sprungbrett“ - Clearing für hochauffällig agierende Jugendliche ? Könnten Sie unseren LeserInnen ein, zwei Beispiele schildern? Veit Werner: Ja, ich denke da an Peter (Name geändert). Er befand sich im Prinzip in diesem Drehtüreffekt zwischen Psychiatrie und Jugendhilfe. Er hatte schon einige Jahre Jugendhilfe durchlaufen, die Mutter ist schwer depressiv und hat ihn immer wieder aus der Jugendhilfe herausgeholt, wenn es ihr besser ging. In der Folge hat er Einrichtungen immer wieder besucht und verlassen. Peter hat sich immer wieder von der Mutter nach Hause holen lassen. Als bei Sprungbrett nachgefragt wurde, hat die Mutter gesagt, er hätte sie körperlich bedroht. Er sagte, die Mutter übertreibt. Er hat zu Hause nur noch am Rechner gesessen, hat weder Ärzte aufgesucht noch ist er in die Schule gegangen. Die Mitarbeiter des Jugendamtes und die Mutter waren verzweifelt und sie hatten Angst, dass er der Mutter etwas antut. Es gelang uns dann relativ unkompliziert, Kontakt zu Peter aufzubauen. Er war vorher bereits zwei Mal in der Kriseneinrichtung untergebracht, sodass wir uns kannten. Er wollte nur in Ruhe gelassen werden und online spielen. Wir haben WLAN und können es den Jugendlichen, wenn es nützlich scheint, zur Verfügung stellen. Das haben wir in diesem Fall gemacht. Er hat sich dann schnell auf unser Setting eingelassen. Wir konnten die medizinischen Fäden wieder aufnehmen, er hat Gespräche mit der Therapeutin aufgenommen, wir haben ein Schulclearing gemacht und er konnte in die Jugendberufshilfe vermittelt werden. Wir konnten ihn sportlich ansprechen und an einen Sportverein anbinden. Er hat kochen gelernt, konnte einfache Gerichte herstellen, konnte sein Zimmer in Ordnung halten und letztlich ist Peter jetzt in einem Projekt über die Jugendberufshilfe versorgt, wo er in einer Wohngemeinschaft mit zwei anderen Jugendlichen wohnt. Das war anfangs unvorstellbar. Er hat inzwischen den Schulabschluss und macht eine Lehre zum Elektroniker. Roland Zeeck: Ich möchte ergänzen: Ganz wichtig ist die Zeit, die die MitarbeiterInnen bei Sprungbrett auch für Elternarbeit haben. Dadurch konnte die Mutter ausreichend beraten und so aufgefangen werden, dass sie ihn nicht erneut nach Hause holt. Für Elternarbeit benötigt man Zeit, und im Sprungbrett haben wir die Situation, mit der Mutter zu arbeiten, damit sie uns und dem Jungen die Möglichkeit gibt, mit dem Jungen zu arbeiten. ? Gibt es auch Mädchen bei Sprungbrett? Veit Werner: Ja, z. B. Marie (Name geändert). Sie war in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht, wegen einer drogeninduzierten Psychose. Sie hat einen atypischen Autismus, ist mehrfach traumatisiert, hat eine unterdurchschnittliche Intelligenz und einen Behindertenstatus von 70 %. Durch diese Beeinträchtigungen, die nach kurzer Zeit in Gruppen zutage treten, bietet sie sich hier auch als Opfer an, befindet sich schnell in einer selbstgefährdenden Situation. Deshalb hatte sie schon mehrere sexuelle Missbräuche und Vergewaltigungen hinter sich, als sie zu uns kam. Letztendlich wurden ihr die Drogen auch eingeflößt, sie ist nicht abhängig, aber leicht manipulierbar. Als wir wegen Marie angesprochen wurden, war das Ziel, gemeinsam zu überlegen, ob Marie überhaupt bei uns unterzubringen ist. Auch sie kannten wir aus der Kriseneinrichtung, eine gute Voraussetzung, der Kontakt war dadurch gleich hergestellt. Sie kam zu uns nach einem dreimonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie und hatte dadurch alle sozialen Kontakte abgebrochen, was in ihrem Fall günstig war. Wir konnten sie medizinisch versorgen, sie wurde therapeutisch angebunden im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst. Wir haben sie in einer schulischen Maßnahme im Gartenbau unterbringen können. Sie hat aber gleich wieder Leute auf der Straße angesprochen. Mit ihrem Hang zu osteuropäischen Jugendlichen war sie sehr schnell wieder in einem solchen Kreis im Internetkaffee, wo Drogen 216 uj 5 | 2015 „Sprungbrett“ - Clearing für hochauffällig agierende Jugendliche konsumiert wurden. Im Zuge dessen hat sie dort erst Geld und später, als wir ihr kein Geld mehr mitgegeben haben, Tabak verteilt. Nach und nach hat sie die Medikamente abgebrochen, die Schule abgebrochen, sie ist dann tagelang abgetaucht, dann hat sie sich wieder bei uns gemeldet und erzählt, sie hätte Angst vor Aids, weil sie ungeschützt Verkehr hatte. Sie war dann wieder in der Klinik wegen Suizid-Gefahr und hat sich dort aber wieder selbst entlassen. Zwischendurch beim Vater landete sie dann Monate später wieder in der Klinik wegen einer drogeninitiierten Psychose. Die gleiche Schleife wie gehabt. Man war ratlos und wollte von uns aus dem Sprungbrett wissen, welche Angebote Marie noch annehmen würde. Es gelang dann, gemeinsam mit dem sozialpsychiatrischen Dienst ein Betreuungskonzept zu entwickeln und Marie zu versorgen. Eine Kollegin, die bei einem Freien Träger im Bereich „Therapeutisches Wohnen“ arbeitet und ich haben mit den ÄrztInnen aus der Psychiatrie mehrere Sitzungen verbracht, um ein passendes Setting für Marie aufzubauen. Dabei wurde auch viel diskutiert und kritisch hinterfragt. Letztendlich wurde Marie dann über die Erwachsenenversorgung SGB XII zu einem Träger entlassen, aber wir von der Jugendhilfe haben die Sache flankiert. Ich habe die Wege mit ihr gemacht, wir haben das therapeutische Setting abgesprochen, haben sie abgeholt, sie wurde von uns noch eine ganze Weile über Jugendhilfe betreut. Diese Betreuung haben wir dann ausgeschlichen, inzwischen haben wir nur noch sporadischen Kontakt mit ihr. Marie ist in eine Arbeitsmaßnahme gegangen und befindet sich heute, nach 18 Monaten, immer noch dort. Das ist ein großer Erfolg, der nur gelingt, wenn Jugendhilfe, Psychiatrie und der Sozialhilfeträger sich mit ihrem jeweiligen Part beteiligen und Interesse an einer Lösung haben. ? Welche Erfahrungen haben Sie bei der Kooperation mit der Psychiatrie gemacht? Roland Zeeck: Wir sind ja drei Partner: Wir als Freier Träger Aktion ’70, das Jugendamt und die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die für unser Gebiet in Neukölln zuständig ist. Wir haben einen Kooperationsvertrag geschlossen, verbindliche Absprachen getroffen, was die Zusammenarbeit angeht, aber in der Realität merkt man, dass bei hochauffälligen Menschen die zunächst geplanten Abläufe sehr schnell durcheinander geraten. Wir sind ja auch ein sehr kleines Projekt, wir haben zwei Plätze, unser Fallaufkommen ist entsprechend gering und unsere Fälle sehr individuell. Wir kooperieren als kleiner Träger mit 40 MitarbeiterInnen mit einem sehr großen Klinikkonzern. Er hat ganz eigene Abläufe, ausgeprägte Hierarchien, bei uns sind die eher flach. Man muss sich bei jedem Fall wieder neu zusammenfinden. Was sehr gut gelaufen ist: dass uns die Ärzte auf Augenhöhe begegnen, dass sie unsere sozialpädagogische Diagnostik ernst nehmen, das finde ich erfreulich. Bei unserer eigenen Einschätzung ist es sehr wichtig, dass auch Ärzte darauf schauen, welche Entwicklungsmöglichkeiten und -grenzen und welche Risiken in der Betreuung bei Sprungbrett bestehen. Dass unsere MitarbeiterInnen bei aller Kritik an Medikation grundsätzlich akzeptierend damit umgehen, ist für die Kooperation günstig. Kooperation hängt von den Personen ab, die miteinander arbeiten. Bei uns ist das eher kontinuierlich, in der Klinik besteht öfter ein Wechsel der Personen. Zwei Professionen treffen aufeinander, das muss ich ja nicht weiter ausführen. Aber es ist ein Fortschritt für Berliner Verhältnisse, dass dieser Weg gemeinsam beschritten wird. Normalerweise nehmen die Kliniken oft zu wenig Notiz von der konkreten pädagogischen Ausgestaltung in der stationären Jugendhilfe. Es ist neu, dass wir die Möglichkeit haben, regelmäßig miteinander in der eingangs erwähnten Steuerungsgruppe zu sprechen. Da sitzen die VertreterInnen der Klinik und da sitzen auch Entscheider. Der Arbeitskreis ist auf der Führungsebene angesiedelt, das hilft erheblich bei der Umsetzung. Finanziert ist Sprungbrett komplett aus Mitteln der 217 uj 5 | 2015 „Sprungbrett“ - Clearing für hochauffällig agierende Jugendliche Jugendhilfe, das ist keine Kofinanzierung über die Krankenkasse, wie manches Mal gedacht wird. ? Was würden Sie einem Jugendhilfeprojekt raten, das mit der Psychiatrie kooperieren möchte? Roland Zeeck: Also wir würden anderen Initiativen anraten, im Auge zu behalten, welches Risiko man eingeht. Man sollte als Träger Erfahrungen mit hochauffällig agierenden Menschen haben. Wir haben den Vorteil, dass wir im Hintergrund eine Kriseneinrichtung haben, die die Jugendlichen immer wieder auffangen kann. Die Netzwerkarbeit mit der Klinik erfordert viel Zeit und viele Kontakte und ohne das Jugendamt geht es gar nicht. Eine Kooperation nur zwischen Freiem Träger und Klinik ist oft nicht ausreichend. Das Amt als wichtigen Akteur und Kostenträger braucht man dabei auf jeden Fall, sonst gerät man bei der Umsetzung schnell an Grenzen. Und man sollte sich unbedingt vonseiten der Freien Jugendhilfe mit den Abläufen in der Klinik beschäftigen. Es ist nicht nur Sache der Klinik, Jugendhilfe zu verstehen, sondern auch umgekehrt die Abläufe in der Klinik zu verstehen, Grenzen und Möglichkeiten zu kennen, sich ein Bild vor Ort zu machen und im Austausch zu bleiben. Sonst wird die Klinik von unseren Erwartungen überfordert. Vielen Dank für das Interview. Das Interview führte: Gabriele Bindel-Kögel Roland Zeeck Veit Werner Kriseneinrichtung Nogat ’7 Aktion ’70 - Jugendhilfe im Verbund Nogatstr. 7 12043 Berlin r.zeeck@aktion70.de v.werner@aktion70.de