eJournals unsere jugend 67/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2015
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Die vorläufige Inobhutnahme als neuer Sonderweg der Jugendhilfe

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2015
Niels Espenhorst
Nach Schätzungen des Bundesfachverbandes Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e. V. (UMF) kamen im Jahr 2014 etwa 11.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland an. Die meisten von ihnen unterlagen nicht der ausländerrechtlichen Verteilung, sondern konnten weitgehend an dem Ort bleiben, an dem sie in Obhut genommen wurden. Es galt, dass unbegleitete Minderjährige nicht wie Asylsuchende behandelt werden, sondern wie schutzbedürftige Minderjährige. Dies soll sich zum 1. 1. 2016 grundlegend ändern.
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402 unsere jugend, 67. Jg., S. 402 - 409 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art65d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die vorläufige Inobhutnahme als neuer Sonderweg der Jugendhilfe Kurzüberblick zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher Nach Schätzungen des Bundesfachverbandes Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. (UMF) kamen im Jahr 2014 etwa 11.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland an. Die meisten von ihnen unterlagen nicht der ausländerrechtlichen Verteilung, sondern konnten weitgehend an dem Ort bleiben, an dem sie in Obhut genommen wurden. Es galt, dass unbegleitete Minderjährige nicht wie Asylsuchende behandelt werden, sondern wie schutzbedürftige Minderjährige. Dies soll sich zum 1. 1. 2016 grundlegend ändern. von Niels Espenhorst Jg. 1980; Dipl.-Sozialwissenschaftler, Referent beim Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. In Reaktion auf die steigenden Inobhutnahmezahlen von etwa 2.000 im Jahr 2009 haben Bund und Länder ein Verteilverfahren geplant, um die jungen Menschen nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Länder der Bundesrepublik zu verteilen. Bei den Verhandlungen wurden die Frage des Ablaufs eines Verteilverfahrens, der Meldefristen der zuständigen Bundesbehörde und die Zugrundelegung von Quoten für das Verfahren ausführlich diskutiert. Es ging um Kapazitäten in der Jugendhilfe, es ging um eine sogenannte „Verteilungsgerechtigkeit“, aber es ging nicht um die Bedürfnisse der Jugendlichen, auch wenn dies manchmal behauptet wurde. Es ist beängstigend, wie in kurzer Zeit ein Rollback vollzogen wurde und die angestrebte Integration von jungen Geflüchteten in die regulären Strukturen der Jugendhilfe nun in einen neuen Sonderweg und Sonderstrukturen übergeht. Aber das Gesetz, das uns eine vorläufige Inobhutnahme von unbegleiteten Minderjährigen mit anschließender Verteilung beschert, vergisst leider die meisten relevanten Punkte zu klären. Damit droht die Qualität der Aufnahme und Betreuung von jungen unbegleiteten Flüchtlingen um Jahre zurückgeworfen zu werden. Der Gesetzesentwurf wird dem eigenen 403 uj 10 | 2015 Die vorläufige Inobhutnahme als neuer Sonderweg der Jugendhilfe Anspruch der „Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ leider an keiner Stelle gerecht, da wesentliche Problemlagen ignoriert werden. Es sollen „bessere Rahmenbedingungen für […] ein gelingendes Ankommen und einen gelingenden Start eines Lebens in Deutschland“ geschaffen werden (Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher: Kabinettsentwurf vom 15. 7. 2015, 17) und die Vorgaben der Aufnahmerichtlinie und der UN-Kinderrechtskonvention berücksichtigt werden. Aber an keiner Stelle des Gesetzentwurfs wird deutlich, wie dies passieren soll. Der bisherige Entwurf unterläuft stattdessen diese Vorgaben. Grundsätzlich merkt man dem Gesetzentwurf an, dass er nicht ausgehend von einer Analyse der Lebenssituation von unbegleiteten Minderjährigen geschrieben wurde, denn zentrale Probleme, die in der Praxis bestehen, wurden nicht angegangen. Das trifft etwa Problemlagen wie Altersfestsetzungen, Regelungen im Bereich der Vormundschaften oder Familienzusammenführungen. Der Gesetzentwurf ist vielmehr geprägt von dem Wunsch einzelner Städte, sich eines Problems zu entledigen. Das wird dazu führen, dass die Probleme nicht beseitigt, sondern in die Fläche verteilt werden: Zukünftig sind nicht nur einzelne Städte mit den bestehenden Problemen konfrontiert, sondern alle. Ob das im Interesse und zum Wohl der unbegleiteten Minderjährigen ist, darf stark bezweifelt werden. Die bestehenden Probleme werden dahingehend sogar verschärft, als dass der Gesetzentwurf eine bis zu zweimonatige Schutzlücke gesetzlich festschreibt: Durch die zweimonatige Ausschlussfrist, in der die Verteilung durchzuführen ist, werden die Jugendlichen in einer Art „innerdeutschem Transit“ auf die Verteilung warten. In dieser Zeit, i. d. R. ohne Vormund oder rechtliche Vertretung, wird die Situation, die mit Anlass für die Verteilungsdiskussion ist - Jugendliche warten auf eine Unterbringung in der Jugendhilfe an überfüllten Standorten -, rechtlich manifestiert. Die Jugendlichen benötigen in der Aufnahmephase vor allem die Vermittlung von Sicherheit, Verlässlichkeit und Vertraulichkeit. Es geht um die unmittelbare Stabilisierung und Normalisierung für Menschen, die alles verloren haben. Das ist der Grundgedanke der Inobhutnahme als sozialpädagogische Krisenintervention. Diese kann nicht in einem luftleeren Raum wie der „vorläufigen Inobhutnahme“ erfolgen. Die neuen Regelungen sehen vor, dass die Jugendlichen nach § 42 a vorläufig in Obhut genommen werden. Innerhalb von sieben Tagen ist eine „Einschätzung“ vorgesehen, diese umfasst Alterseinschätzung, medizinische Untersuchung und vermutlich ein Gespräch. Anhand dieser „Einschätzung“ soll eine Bewertung des Kindeswohls hinsichtlich der Verteilfähigkeit des Jugendlichen erfolgen. Nach dieser Einschätzung erfolgt die Meldung an die für die Verteilung zuständigen Stellen. Dann wird innerhalb von drei Tagen durch das Bundesverwaltungsamt (BVA) ein zuständiges Land festgelegt, dieses legt wiederum ein geeignetes Jugendamt fest. Die rechtliche Vertretung im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme wird durch das aufnehmende Jugendamt im Rahmen einer Notfallversorgung geleistet, die Anregung der Vormundschaftsbestellung beim Familiengericht findet erst nach der Verteilungsmeldung an das BVA statt. Ausschlussfrist für die Verteilung sind vier Wochen, in einer mindestens einjährigen Übergangsfrist wird diese auf zwei Monate erweitert. Nachfolgend sollen übersichtsartig und ohne Anspruch auf Vollständigkeit wesentliche Probleme, die sich aus der neuen Rechtslage ergeben, dargestellt werden, um dann auf Anforderungen auf ein kindgerechtes Aufnahmesystem einzugehen. 404 uj 10 | 2015 Die vorläufige Inobhutnahme als neuer Sonderweg der Jugendhilfe Zentrale Probleme des Gesetzentwurfs Fehlende rechtliche Vertretung Faktisch werden die Jugendlichen während der Verteilung keine unabhängige rechtliche Vertretung haben, sondern nur durch das verteilende Jugendamt vertreten. Dies steht insbesondere im Widerspruch zu Art. 24 (1) Aufnahmerichtlinie. Schon gegenwärtig ist die rechtliche Vertretung für unbegleitete Minderjährige unzureichend und entspricht nicht den Vorgaben der Aufnahmerichtlinie. Der Gesetzentwurf verschlechtert diese Situation sogar, weil die Frist zur Bestellung eines Vormunds oder Pflegers nach § 42 a Abs. 3 SGB VIII-E auf sieben Tage verlängert wird. Die Aufnahmerichtlinie spricht zudem von einem qualifizierten Vertreter. Der Gesetzentwurf unterlässt es, Hinweise auf die Qualifizierung des Vertreters vorzunehmen, obwohl dies gerade im Hinblick auf das Urteil des BGH vom 29. 5. 2013 notwendig wäre. Zudem braucht es eine Anpassung der Rechtsgrundlage für die Familiengerichte, insbesondere des § 1674 BGB und im FamFG (möglich wäre eine Ergänzung im Sinne von § 157 FamFG). Die Normen sind entsprechend dem Grundsatz anzulegen, dass unverzüglich bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ein Vormund zu bestellen ist. Wird die Rechtsgrundlage für die gerichtliche Vormundschaftsbestellung nicht angepasst, läuft die Vormundschaftsbestellung (siehe Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher: Kabinettsentwurf vom 15. 7. 2015, 25) ins Leere und steht nur auf dem Papier. Fehlende Orientierung am Kindeswohl Die vorgesehene Kindeswohleinschätzung orientiert sich ausschließlich an einer möglichen Gefährdung. Ein Kindeswohlbegriff, wie beispielsweise in der Kinderrechtskonvention (KRK) oder der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) wird nicht angewendet, obwohl dies auch durch alle einschlägigen Richtlinien vorgegeben wird. Weder gibt es eine Berücksichtigung der Meinung des Kindes noch ist festgehalten, dass sich die Entscheidung über eine mögliche Verteilung an den Interessen des Kindes analog zu Art. 3 UN-KRK zu orientieren hat. Zudem führen die kurzen Fristen bei der Einschätzung dazu, dass gegenwärtige sozialpädagogische Standards für die Inobhutnahme unterlaufen oder sogar verhindert werden. Es ist kaum vorstellbar, dass dieses Verfahren für den Jugendlichen transparent und verständlich gemacht werden kann und dass die Bedürfnisse des Jugendlichen berücksichtigt werden. Fehlender Rechtsschutz und mangelnde Beteiligung Die Möglichkeit eines Widerspruchs gegen die Verteilung wird in § 42 c Abs. 7 SGB VIII-E explizit abgelehnt. Dies unterläuft rechtsstaatliche Standards und ist eine gravierende Verkürzung der Rechtsschutzmöglichkeiten. Das heißt auch, dass die Einhaltung der genannten Kriterien vor der Verteilung nicht geprüft werden kann. Der fehlende Rechtsschutz ist umso gravierender, als dass die Entscheidung über die Verteilung ohne einen rechtlichen Vertreter getroffen wird. Gleichzeitig bedeutet dies, dass auch der Gesetzgeber davon ausgeht, dass die Verteilung als solche die Jugendlichen selbst nicht wird inhaltlich überzeugen können. Hier wird ein zentraler Anspruch der Jugendhilfe - Beteiligung, Berücksichtigung von Bedürfnissen, Lernen der Selbstständigkeit - ins Gegenteil verkehrt. Keine Standards für die Alterseinschätzung Die Alterseinschätzung ist im künftigen Verfahren gleich doppelt vorgesehen: zum einen 405 uj 10 | 2015 Die vorläufige Inobhutnahme als neuer Sonderweg der Jugendhilfe im Rahmen der Einschätzung nach § 42 a SGB VIII-E, zum anderen als Aufgabe für das Zuweisungsjugendamt (siehe Begründung zu § 42 b, Zu Absatz 3). Dies wird dazu führen, dass die Jugendlichen zweimal eine Alterseinschätzung durchleben müssen. Da keine Dokumentationspflichten erläutert werden, ist unklar, wie die Ergebnisse der ersten Altersfestsetzung transparent an das Zuweisungsjugendamt weitergegeben werden können. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird die Notwendigkeit einer Alterseinschätzung des Jugendamtes festgeschrieben (Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher: Kabinettsentwurf vom 15. 7. 2015, 26, „Zu Absatz 3“). Es ist zu begrüßen, dass die Alterseinschätzung als Aufgabe der Jugendhilfe festgeschrieben wird. Allerdings gibt der Gesetzentwurf keinerlei Vorgaben zu einer am Kindeswohl orientierten Alterseinschätzung, sondern überlässt auch dies vollständig den betroffenen Jugendämtern und lässt diese damit allein. Damit verfehlt der Gesetzentwurf, hier klare Kriterien und Standards für die Alterseinschätzung zu benennen, die schon heute existieren. So muss beispielsweise deutlich gemacht werden, dass Art. 25 Abs. 5 32/ 2013/ EU entsprechend im Zweifel von der Minderjährigkeit der in Obhut zu nehmenden Person auszugehen ist. Familienzusammenführung Der Gesetzentwurf sieht in § 42 a Abs. 5 SGB VIII-E vor, dass das Jugendamt während der vorläufigen Inobhutnahme darauf einwirkt, dass eine Zusammenführung mit einer verwandten Person stattfindet. Abgesehen von der Unverbindlichkeit dieser Aussage, muss es klare Kriterien und Zuständigkeiten für die Suche nach Familienangehörigen und die Familienzusammenführung geben, nicht nur im Inland. Die Suche nach Familienangehörigen muss eine Pflicht sein, schließlich kann es die Verteilungsentscheidung erheblich beeinflussen. Die Einheit der Familie und Familienzusammenführung sind tragende Gedanken im Grundgesetz und auch bei der Aufnahmerichtlinie, siehe Erwägungsgrund 9, 22, Art. 4, Art. 12. Fehlender Strukturaufbau und Konzeptlosigkeit Es bleibt völlig unklar, wie die landesinterne Verteilung, die sich laut Gesetzentwurf „an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert“, gestaltet werden soll. Es sind keine Anreize vorgesehen, und es werden keine Vorgaben für die landesinterne Verteilung gemacht. Die Verteilung in die Fläche statt der ressourcen- und kompetenzorientierten Verteilung wird zusätzlich dadurch gefördert, dass die Länder selbst die örtliche Zuständigkeit regeln (§ 88 Abs. 3 SGB VIII-E). Das wird zu sehr unterschiedlichen Verfahren mit sehr unterschiedlichen Standards führen, zumal einige Bundesländer bislang kaum Erfahrung im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen haben und darauf angewiesen sind, Hilfestellungen zu erhalten. Es muss deutlich werden, nach welchen Kriterien eine landesinterne Verteilung zu erfolgen hat, und es muss insbesondere verhindert werden, dass die Jugendlichen in zwei Stufen verteilt werden, erst über die Länder, dann in eine zentrale Aufnahmestelle, dann in eine Kommune. Die Vorschriften bleiben viel zu vage und greifen insbesondere das Vorhandensein einer Rahmeninfrastruktur nicht auf. Die aufnehmenden Kommunen werden mit dieser Frage völlig alleine gelassen, weil jetzt schon absehbar ist, dass in den aufnehmenden Kommunen nicht unmittelbar ausreichend Schulplätze, SprachmittlerInnen, Vormünder, SozialpädagogInnen und therapeutische Angebote zur Verfügung gestellt werden können. 406 uj 10 | 2015 Die vorläufige Inobhutnahme als neuer Sonderweg der Jugendhilfe Eignung der Jugendämter und weitere Verteilungen Es ist vorgesehen, dass nur an geeignete Jugendämter zugewiesen wird. Es werden aber keine Vorgaben gemacht, was unter geeignet zu verstehen ist. Hier gibt es erheblichen Konkretisierungsbedarf. Wie das in der Praxis aussieht, kann bereits jetzt beispielsweise in Baden-Württemberg beobachtet werden, wo qua Schreiben des Integrationsministeriums vom 9. 4. 2015 alle Jugendämter für fachlich geeignet und jederzeit aufnahmebereit erklärt wurden. Auch wie die landesinterne Verteilung aussehen soll, bleibt ein Rätsel. Schlimmstenfalls kommt es im Land zu einer zweiten Verteilung, wenn die Jugendlichen zunächst in eine Clearingeinrichtung kommen und von dort in eine Anschlusshilfe verteilt werden. So können die Jugendlichen keine vertrauensvollen Beziehungen aufbauen. In der Konsequenz bedeutet dies, dass viele Jugendliche erst nach Monaten am zukünftigen Lebensort ankommen. Und dann ist viel wertvolle Zeit verloren, weil die meisten mit Vollendung des 18. Lebensjahres aus der Jugendhilfe fallen. Verzögerter Zugang zum Asylverfahren Durch die noch weiter verzögerte Vormundschaftsbestellung und das ebenfalls verspätete asyl- und aufenthaltsrechtliche Clearing verzögert sich die Asylantragstellung. Faktisch kann die Asylantragstellung zukünftig erst nach Bestellung des Vormunds erfolgen, dies wird im Durchschnitt mindestens drei bis vier Monate dauern. Und auch nach der Bestellung eines Vormunds muss darauf geachtet werden, dass der Vormund im Interesse seines Mündels die Aufenthaltssicherung voranbringt. Durch die Anhebung der Handlungsfähigkeit im Asylverfahren auf 18 Jahre kann der unbegleitete Minderjährige keinen eigenen Antrag mehr stellen, sondern er ist darauf angewiesen, dass dies sein Vormund erledigt. Kriterien und Anforderungen an den weiteren Aufbau von Strukturen zur Aufnahme und Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland Der Bundesfachverband UMF sieht die angedachte quotale Verteilung nicht als Lösung für die im Kontext der Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen auftretenden Probleme. Vielmehr wäre die gemeinsame Erarbeitung eines Aufnahmekonzepts notwendig. Insbesondere fehlen bislang klare, im Gesetz verankerte Kriterien, die festlegen, wie die Sicherung und Bestimmung des Kindeswohls und die Dokumentation zu erfolgen haben. Zudem ist die Frage des Aufbaus von kompetenten Strukturen vor Ort, die die Jugendlichen aufnehmen sollen, weitgehend offen. Allen beteiligten Akteuren im Bereich „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ ist klar, dass der Aufbau von Kompetenzen nicht kurzfristig funktionieren kann. Die Erfahrungen zeigen im Gegenteil, dass es einer langfristigen Aufbauarbeit bedarf. In einem Verteilverfahren kann das Kindeswohl nur gesichert werden, wenn der Aufbau von Strukturen ermöglicht und gefördert wird, die die häufig hoch belasteten Kinder und Jugendlichen angemessen versorgen, begleiten und ihre Entwicklung fördern können. Es muss insbesondere vermieden werden, dass innerhalb der Länder, denen unbegleitete Jugendliche zugewiesen werden, „in die Fläche“ verteilt wird, ohne dass die einzelnen Kommunen die Mittel und Möglichkeiten haben, die notwendigen Strukturen vorzuhalten bzw. aufzubauen. Die Jugendhilfe wird bei einem entsprechenden System im Mittelpunkt stehen, allerdings gelingt die Aufnahme nur im Netzwerk, in verbindlichen Kooperationen. Die weiteren Verfahrensbeteiligten sind u. a. Ausländerbe- 407 uj 10 | 2015 Die vorläufige Inobhutnahme als neuer Sonderweg der Jugendhilfe hörden, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Bundespolizei, die Familien- und Verwaltungsgerichte, die Schulen, Beratungsstellen und RechtsanwältInnen, zivilgesellschaftliche Akteure wie Kirchen und Moscheen, ehrenamtliche Vormünder und MentorInnen, Flüchtlingsräte und flüchtlingssolidarische AktivistInnen und natürlich auch die FreundInnen und Bekannten der Jugendlichen. Im Folgenden werden zunächst Kriterien genannt, die vor Ort erfüllt sein müssen, damit eine angemessene, d. h. dem individuellen Kindeswohl gerecht werdende Betreuung und Versorgung der Minderjährigen gesichert werden kann. In einem zweiten Schritt werden die Erfordernisse an eine Beteiligung der Jugendlichen benannt. Anschließend wird der Bedarf an übergeordneter Unterstützung für den Aufbau von Strukturen vor Ort benannt. Kriterien und Mindestanforderungen für kommunale Aufnahmestrukturen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ➤ Grundlage für gelingende Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sind Identifizierung der lokalen und rechtlichen Akteure und Schaffung von Netzwerken. Die Erfahrung zeigt, dass stets das Zusammenspiel von verschiedenen Akteuren ein lokal angepasstes Aufnahmekonzept und erfolgreiche Strukturen für die Jugendlichen ermöglicht. Die Jugendhilfe ist dabei wesentlicher Akteur, sie hat im oben genannten Netzwerk eine koordinierende Funktion. Eine qualitativ angemessene Versorgung wird aber nur möglich sein, wenn Zuständigkeiten abgesprochen und Kompetenzen gebündelt werden: Örtliche Netzwerke werden angestoßen durch die Bildung von Arbeitsgemeinschaften gem. § 78 SGB VIII, durch lokale Arbeitskreise, insbesondere aber auch durch den Aufbau des Kontakts zu Ausländerbehörden und BAMF-Außenstellen sowie zu möglichen lokalen Beratungs- und Fachstellen. Wichtig ist ebenso der Einbezug der Arbeitgeber und der Schulen vor Ort, um frühzeitig eine Perspektive für die Jugendlichen entwickeln zu können. ➤ Die Jugendlichen müssen angemessene Unterbringungsmöglichkeiten im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe erhalten. Auch für sie gilt, dass passgenaue Hilfen anzubieten sind. Das SGB VIII bietet eine Vielzahl von unterschiedlichen Möglichkeiten, die auch unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen offen stehen. Eine qualifizierte Aufnahmestruktur kann entsprechende Angebote schaffen. Das heißt auch, dass eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften und Einrichtungen ohne Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII grundsätzlich nicht angemessen ist. Es darf innerhalb der Jugendhilfe keine doppelten Standards für ausländische und einheimische Jugendliche geben. ➤ Ein Teil der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge benötigt eine spezielle medizinische und therapeutische Versorgung. Das impliziert, dass vor Ort Strukturen existieren müssen, die entsprechende Angebote vorhalten können. Auch in der Aufnahmerichtlinie, Art. 25, 2013/ 33/ EU, ist der Zugang hierzu verbrieft. Insbesondere hinsichtlich der psychosozialen Versorgung ist es notwendig, eine angemessene Diagnostik, qualifizierte TherapeutInnen und geeignete DolmetscherInnen zur Verfügung zu stellen. ➤ Die Beschulung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge muss von Beginn ihres Aufenthalts in Deutschland an möglich sein. Dazu braucht es geeignete Willkommensklassen, in denen die Jugendlichen aufgenommen werden können. Zudem müssen die Kommunen dafür Sorge tragen, dass die Jugendlichen sodann die Möglichkeit haben, in Regelschulen zu wechseln, und im Anschluss an die Schule Zugang zu Ausbildungen erhalten. Die Erfah- 408 uj 10 | 2015 Die vorläufige Inobhutnahme als neuer Sonderweg der Jugendhilfe rung zeigt, dass die Jugendlichen bei guter Unterstützung schnell eigene Lebensperspektiven entwickeln können. ➤ Eine Hauptaufgabe in der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist eine qualifizierte rechtliche Vertretung. In der Praxis stellt insbesondere das Asyl- und Aufenthaltsrecht für die Vormundschaften eine große Hürde dar. Um diesem hohen Anspruch gerecht zu werden, brauchen Vormünder eine Unterstützung durch Ergänzungspfleger. Zudem ist es sinnvoll, wenn mit lokalen Beratungsstrukturen ein regelmäßiger Austausch implementiert wird. ➤ Wesentliche Grundbedingung einer angemessenen Versorgung unbegleiteter Minderjähriger ist deren Beteiligung an allen Schritten und Entscheidungsprozessen. Dazu gehört zunächst, dass die Jugendlichen verstehen können müssen, wo sie sind und was mit ihnen geschieht. Dazu braucht es verständliche Informationen, die schriftlich und mündlich zur Verfügung stehen. DolmetscherInnen, die die Landessprache des Jugendlichen beherrschen, müssen vor Ort in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen. Transparenz und Information wirken Misstrauen und Gerüchten entgegen, sodass einem Untertauchen oder etwa dem Abrutschen in Delinquenz entgegengewirkt werden kann. Zugleich ist eine transparente Information der erste Schritt zu einem „Empowerment“ der Jugendlichen. Darüber hinaus müssen Konzepte für die Beteiligung der Jugendlichen umgesetzt werden (vgl. Bundesfachverband UMF 2013). ➤ Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen stehen die gleichen Beschwerdemöglichkeiten wie allen anderen Kindern und Jugendlichen offen. Um einen Zugang, beispielsweise zu Ombudsstellen, zu gewährleisten, braucht es eine gute, transparente Information der Jugendlichen. Ombudsstellen können insbesondere bei Konflikten im Rahmen der Jugendhilfe helfen. ➤ Es gibt in vielen Kommunen junge Menschen, die selbst als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eingereist sind. Um Strukturen zu bilden, wäre es sinnvoll, auf konkretes Erfahrungswissen zurückzugreifen. Das erdet und kann Lösungen schaffen, die nicht nur aus Sicht der Verwaltung Sinn ergeben. ➤ Grundlegend ist festzustellen, dass der Auf- und Ausbau von qualitätsvollen Strukturen in den Kommunen der fachlichen und finanziellen Unterstützung bedarf. In einer Diskussion um die zuständigen Orte und mögliche Zuständigkeitskonzentrationen erscheint es sinnvoll, bei den Kommunen für den Aufbau von möglichen Kompetenzzentren zu werben und entsprechende Anreize zu schaffen. Dazu ist eine zusätzliche Unterstützung erforderlich. Notwendig erscheint die Einrichtung übergeordneter Stellen, die den Fachkräften und weiteren Beteiligten vor Ort den Zugang zu Wissen und Fachlichkeit ermöglichen sowie Aufsichtsfunktionen wahrnehmen. Hierbei sind insbesondere die Landesjugendämter als fachliche Struktur und Träger der Zuständigkeiten denkbar. ➤ Es fehlt häufig an Fachwissen der verschiedenen Akteure, an therapeutischen Angeboten sowie an spezifischen Beschulungsmaßnahmen für die betroffenen Minderjährigen. Notwendig sind langfristige Schulungskonzepte für die beteiligten Akteure. Angebote fachkompetenter Institutionen wie DIJuF, Erziehungshilfeverbände, B-UMF oder Flüchtlingsräte können erhebliche Unterstützung bieten. Darüber hinaus empfiehlt es sich, dass die Länder gemeinsam an Fachhochschulen den Aufbau von unterstützenden Angeboten in der Ausbildung vorantreiben. Dazu gehört auch das Entstehen von Fachliteratur. ➤ Eine gute Praxis ist die Erarbeitung von gemeinsamen Handreichungen zur Frage der Aufnahme und des Umgangs, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen und durch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugend- 409 uj 10 | 2015 Die vorläufige Inobhutnahme als neuer Sonderweg der Jugendhilfe ämter (BAG LJÄ). Dies bringt einerseits die verschiedenen Parteien zusammen und kann gleichzeitig zur Ausgestaltung der gesetzlichen Spielregeln dienen. Andererseits führt dies auch zu einer Entlastung der Jugendhilfe, da damit eine Verantwortlichkeit der verschiedenen Akteure anerkannt wird. Entsprechende Handreichungen dienen zudem einer Weitergabe der Abläufe und des Wissens, wenn weitere Standorte zur Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen entstehen. ➤ Die Aktivierung der Zivilgesellschaft ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen werden die Kompetenzen der Flüchtlingsräte und flüchtlingssolidarischen Menschen gebraucht, insbesondere bei ausländerrechtlichen Fragestellungen. Zum anderen kann durch den Aufbau von ehrenamtlichen Vormundschaftsstrukturen eine wirksame Integration der Jugendlichen schnell vorangetrieben werden. Zivilgesellschaft kann die professionellen Strukturen aber nur unterstützen, nicht ersetzen. Es gibt in der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen - trotz aller Kontroversen der letzten Monate - sehr viele positive Erfahrungen. Aufnahme gelingt, wenn die Rechte der jungen Menschen beachtet werden. Die Erfahrungen zeigen auch, dass es ein Zusammenspiel vieler Akteure ist, die eine gelingende Aufnahme und Versorgung ermöglicht. Die Debatte um die Verteilung darf nicht übersehen, dass die bestehenden Strukturen weiter gestärkt und neue Strukturen nachhaltig aufgebaut werden müssen. Niels Espenhorst Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. Paulsenstraße 55 - 56 12163 Berlin Literatur Bundesfachverband UMF (2013): Handlungskonzept Partizipation in stationären Einrichtungen. Berlin