eJournals unsere jugend 67/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art66d
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Ausdifferenzierte Hilfen zur Erziehung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge beim SOS Kinderdorf in Saarbrücken

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Karin Heck
Der folgende Beitrag versteht sich als Praxisbericht und möchte Anregungen geben für umfängliche und differenzierte Jugendhilfeleistungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
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410 unsere jugend, 67. Jg., S. 410 - 418 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art66d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Ausdifferenzierte Hilfen zur Erziehung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge beim SOS Kinderdorf in Saarbrücken Der folgende Beitrag versteht sich als Praxisbericht und möchte Anregungen geben für umfängliche und differenzierte Jugendhilfeleistungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. von Karin Heck Jg. 1961; Diplom-Sozialarbeiterin, Bereichsleiterin für Jugendhilfe im SOS Kinderdorf Saarbrücken Ausgangssituation Seit viereinhalb Jahren sammelt das SOS Kinderdorf Saarbrücken (SOS KD SB) Erfahrungen in der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UmF). Ab Oktober 2010 kamen in Saarbrücken vermehrt unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (41) an. Die Mehrzahl der männlichen Jugendlichen stammte aus Afghanistan und wurde von der Bundespolizei aus dem ICE/ TGV von Paris kommend nach Frankfurt geholt und vom Jugendamt des Regionalverbandes Saarbrücken in Obhut genommen. Die Bundesregierung hatte gerade die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen, und das Jugendamt des Regionalverbandes setzte die Gleichbehandlung der ausländischen Minderjährigen konsequent um. Die Kinder- und Jugendschutzstelle des Regionalverbandes Saarbrücken, betrieben im Trägerverbund vom SOS Kinderdorf Saarbrücken, dem Diakonischen Werk an der Saar und der Partnerschaftlichen Erziehungshilfe, wurde zur ersten Zuflucht der Jugendlichen. Dort waren die Platzkapazitäten schnell erschöpft, und die Jugendlichen wurden zunächst auf reguläre Wohngruppen verteilt. Relativ schnell wurde deutlich, dass die Zahlen der ankommenden Jugendlichen neue Lösungen erforderten. Neben dem Diakonischen Werk bot das SOS Kinderdorf Saarbrücken eine damals im Umbau befindliche Wohngruppe ab März 2011 nur für die Aufnahme von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen an. Im Laufe des Jahres 2011 kamen etwa 200 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Saarbrücken an und wurden im Rahmen der Jugendhilfe versorgt. Bis zum Jahr 2014 stiegen die Zahlen in Saarbrücken kontinuierlich an, sodass Ende 2014 ca. 370 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Jugendhilfe versorgt wurden. Im Laufe der Jahre entwickelten mehrere Jugendhilfeträger in Saarbrücken, darunter auch das SOS Kinderdorf, ein ausdifferenziertes, auf- 411 uj 10 | 2015 Ausdifferenzierte Hilfen zur Erziehung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge einander abgestimmtes Hilfekonzept für junge Flüchtlinge. Seit September gelang auch der Einstieg in die überbetriebliche Ausbildung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in berufsbildende Angebote des SOS KD. Ausdifferenziertes Hilfesystem Gemeinsam im Trägerverbund mit den beiden oben schon benannten Trägern werden aktuell zwei Clearinghäuser zur Inobhutnahme und Erstversorgung von männlichen Flüchtlingen mit aktuell über 56 Plätzen betrieben. Sehr selten werden minderjährige Mädchen in Obhut genommen; die Gründe liegen durch traditionelle Festschreibungen in den Herkunftsländern und die Gefahren während der Flucht auf der Hand. Ankommende allein reisende Mädchen werden in Saarbrücken direkt in Wohngruppen untergebracht. Alle männlichen Jugendlichen durchlaufen ein etwa dreibis sechsmonatiges Clearingverfahren, welches mit einem Clearingbericht eine Empfehlung über die weitere Versorgung im Rahmen der Jugendhilfe ausspricht. Bei den Anschlusshilfen bietet das SOS Kinderdorf Saarbrücken unterschiedliche Versorgungsformen an: ➤ Vollstationäre Wohngruppe für unter 16-jährige Flüchtlinge und solche, für die im Clearingverfahren ein besonderer Förderbedarf deutlich wurde (Traumatisierung, Entwicklungsverzögerung etc.), ➤ Jugendwohngemeinschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die keine 24-Stunden-Betreuung benötigen (derzeit verfügt das SOS KD über vier Wohngemeinschaften mit insgesamt zehn Plätzen), ➤ Mobile Betreuung als vollstationäre Form der intensiven Betreuung für solche Flüchtlinge, die wegen besonderer Problemlagen in einer Wohngruppe mit dem Gruppensetting nicht zurechtkommen oder einen engen Rahmen im überschaubaren Betreuungssetting brauchen (flexibel, drei bis vier Plätze), ➤ Betreutes Wohnen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die andere Hilfesettings schon durchlaufen haben, die schon weitgehend integriert sind und über die nötige Selbstständigkeit verfügen (ambulante Hilfeform in der eigenen Wohnung). Im Folgenden werden nun diese einzelnen Hilfeformen näher dargestellt. Ein Pool von sozialpädagogischen Fachkräften arbeitet hochvernetzt und koordiniert in den unterschiedlichen Hilfesettings. Clearinghaus für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Die Minderjährigen, die in Saarbrücken im Jahr 2011 ankamen, stammten fast ausschließlich aus Afghanistan. Die Jugendlichen berichteten von großen inoffiziellen Camps in Paris. Die Zahlen der aufgegriffenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge wuchsen wie in anderen Regionen kontinuierlich und lagen 2014 bei 290. Inzwischen stammen die Jugendlichen mehrheitlich aus den Ländern Eritrea, Afghanistan, Syrien und anderen afrikanischen Staaten. Im Auftrag von und in guter Kooperation mit dem örtlichen Jugendhilfeträger, dem Regionalverband Saarbrücken, wurde 2011 ein Clearinghaus für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit 28 Plätzen in Völklingen eröffnet. Im Trägerverbund der Träger Diakonisches Werk an der Saar, Partnerschaftliche Erziehungshilfe und SOS Kinderdorf Saarbrücken arbeiten dort Fachkräfte in der Inobhutnahme, der Erstversorgung und dem Clearing der Jugendlichen. Aufgenommen werden ohne die Begleitung Erwachsener einreisende Kinder und Jugendliche von 10 bis 17 Jahren, wobei die Jugendlichen häufig zwischen 14 und 17 Jahre alt sind. 412 uj 10 | 2015 Ausdifferenzierte Hilfen zur Erziehung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Die Aufgaben des Clearinghauses sind: ➤ Inobhutnahme, außerhalb der Dienstzeiten des Jugendamtes durch einen Bereitschaftsdienst des Clearinghauses, ➤ Grundversorgung, ➤ Clearingverfahren mit den Bestandteilen: • Altersfeststellung durch In-Augenscheinnahme durch die Mitarbeiter_innen des Jugendamtes, • Gesundheitsabklärung durch einen Arzt und Behandlung von Erkrankungen, • Gewährung der Grundversorgung, • Klärung der Personensorge/ Bestellung eines Vormundes, • enge Kooperation mit dem Vormund, • Einleitung der Hilfeplanung, • Begleitung des Asylverfahrens und Klärung der ausländerrechtlichen Fragen, • Sprachförderung und beginnende schulische Integration, • Klärung der individuellen Perspektive und Beratung zu Anschlussmaßnahmen. Am Ende des Clearingverfahrens steht ein Clearingbericht, der die persönlichen Ressourcen und Problemlagen der Jugendlichen, den biografischen Hintergrund, die schulischen Vorkenntnisse und die gesundheitliche und psychische Situation, die Sprachkompetenz und die Empfehlung einer Verlegung innerhalb der Jugendhilfe beinhaltet. Zusätzlich bieten die Mitarbeiter_innen Hilfe bei der Verlegung in andere Jugendhilfeeinrichtungen an. Strukturell gliedert sich das Clearinghaus in einen Inobhutnahmebereich mit acht Plätzen und zwei Clearing-Etagen mit jeweils fünf Zwei- Bett-Zimmern. 14 pädagogische Fachkräfte arbeiten in Schicht- und Wochenenddiensten immer zu dritt rund um die Uhr im Haus. Die Mitarbeiter_innen fühlen sich einer wertschätzenden Grundhaltung gegenüber den Jugendlichen verpflichtet und legen Wert auf die Vermittlung erster kultureller Kenntnisse und Kompetenzen. Da es aufgrund der schnell anwachsenden Flüchtlingszahlen immer wieder zur Überbelegung kam, musste im Sommer 2014 ein zweites Clearinghaus in Merzig-Besseringen eröffnet werden. Die Binnendifferenzierung wird je nach den aktuellen Bedarfen angepasst. Aktuell reicht die Platzkapazität auch in diesem Haus nicht mehr aus, alle Jugendlichen gut zu versorgen. Ein weiterer Ausbau kommt wegen der anstehenden bundesweiten Umverteilung der ausländischen minderjährigen Flüchtlinge höchstens vorübergehend infrage. Von den beschäftigten Fachkräften werden in der Praxis immer wieder große Anstrengungen geleistet, um der nicht planbaren Situation gerecht zu werden. Beschulung während des Clearingverfahrens Seit Eröffnung des Clearinghauses war es dem Trägerverbund wichtig, von Beginn an Möglichkeiten zum Spracherwerb für die Jugendlichen anzubieten. Dies geschah im ersten Jahr durch einen vierstündigen Sprachkurs, der jeweils vormittags angeboten wurde und den Jugendlichen neben dem Lernen auch eine verlässliche Tagesstruktur bot. Grundsätzlich unterliegen alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge der Schulpflicht bzw. der Berufsschulpflicht, und die schulische Versorgung liegt als Aufgabe beim Bildungsministerium. Unabhängig von der altbekannten Diskussion, die auch im Saarland geführt wurde, ob der Spracherwerb Voraussetzung für den Schulbesuch ist oder ob es die Aufgabe der Schule ist, die Sprache zu vermitteln, müssen in der Praxis oft die einzig vorhandenen Lösungen gewählt werden. Seit 2015 ist eine Beschulung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in den Clearinghäusern in speziellen Klassen nun endlich gelungen. Sie werden, wenngleich noch viele Hürden und Schwierigkeiten bei der Umsetzung im System Schule bestehen, in den Regelschulen gesondert beschult. Da mit dem Abschluss des Clearingverfahrens eine Ortsverän- 413 uj 10 | 2015 Ausdifferenzierte Hilfen zur Erziehung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge derung einhergeht, geschieht eine reguläre Beschulung erst im Rahmen der endgültigen Unterbringung. Wohngruppen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Grundsätzlich können junge Flüchtlinge in allen stationären Jugendwohngruppen aufgenommen werden und die Durchmischung mit deutschen Jugendlichen bringt nach unseren Erfahrungen Vorteile für die Integration und den Spracherwerb mit sich. Aber die hohen Bedarfe nach Versorgungsangeboten für die spezifische Zielgruppe haben zum Angebot spezifischer Wohngruppen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge geführt. Die Wohngruppe des SOS Kinderdorfes mit acht Plätzen bietet neben allen Angeboten einer normalen Jugendwohngruppe eben auch einige Besonderheiten. Die Fachkräfte können durch ihre Spezialisierung und ihr im Laufe der Praxis erworbenes Fachwissen professioneller und effektiver auf die Problemlagen der Flüchtlinge reagieren. Wichtige Spezifika dieser Wohngruppe sind: ➤ Abgestimmtes Aufnahmeverfahren in enger Zusammenarbeit mit den Clearinghäusern Nach Versuchen der interkulturellen Mischung werden derzeit wieder nur afghanische Jugendliche versorgt. Die Aufnahme erfolgt nach einer Vorstellung des Jugendlichen in der Wohngruppe und entsprechenden Informationen über die Bedingungen des Zusammenlebens, die in der Regel von einem Dolmetscher übersetzt werden. Die Aufnahmeentscheidung erfolgt in der Regel einvernehmlich. ➤ Konzept des Sicheren Ortes Nach traumatischen Überlebensbedingungen während der Flucht und dem Durchlaufen des Clearingverfahrens erhalten die Flüchtlinge in der WG die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, das eigene Zimmer als Rückzugsort und persönlichen Bereich zu gestalten, sich am Wohnort zu orientieren und ein eigenes Netz sozialer Bezüge zu entwickeln. Dazu gehören sowohl gemeinsame Freizeitangebote mit den Mitbewohnern als auch eigene Freizeitgestaltung mit Freunden. Wichtig ist in der Wohngruppe auch ein verlässliches Beziehungsangebot in Form eines Bezugsbetreuungssystems. ➤ Hilfe beim Spracherwerb Je nach Stand des Spracherwerbs und des Alters des Jugendlichen wird ein Schulplatz oder aber vorgeschaltet (bei anstehendem Berufsschulbesuch) ein Sprachkurs zugeschnitten auf die individuellen Voraussetzungen gesucht. Die Fachkräfte der Wohngruppe bieten nachmittags Hausaufgabenhilfe an. Spezifische Sprachförderung und auch Nachhilfe wird aufgrund des sehr hohen Bedarfes von Praktikant_innen und auch von Ehrenamtlichen geleistet. Der Spracherwerb ist nicht nur in Bezug auf die zukünftige Integration der Jugendlichen in alle gesellschaftlichen Bereiche wichtig, sondern macht Verständigung im Alltag erst möglich. Aushandlungsprozesse über Regelwerke in der WG, Beteiligung und Artikulation eigener Bedürfnisse, Austausch über kulturelle Unterschiede werden erst durch Sprache möglich. ➤ Hilfe beim Erwerb alltagspraktischer Fähigkeiten Da von den jungen Männern in Deutschland ein Übergang in die Selbstständigkeit zügig erwartet wird, wird viel Wert auf alltagspraktische Trainings gelegt. Dabei werden die Jugendlichen bei Reinigung und Hygiene, Wäschepflege, Bedienung von Haushaltsgeräten, beim Kochen und bei gesunder Ernährung (durch eine Hauswirtschaftskraft) und natürlich beim Umgang mit Geld und beim Einkaufen unterstützt. ➤ Hilfe bei der Aufarbeitung der Biografie und Fluchtgeschichte Für die Flüchtlinge ist eine vertrauensvolle, professionelle Beziehung zu erwachsenen Helfer_innen zunächst sehr fremd, und die Bezie- 414 uj 10 | 2015 Ausdifferenzierte Hilfen zur Erziehung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge hungsgestaltung geschieht behutsam. Immer wieder bieten die Fachkräfte Raum und Zeit zum persönlichen Einzelgespräch, damit die Jugendlichen von belastenden Erlebnissen und erlittenem Leid berichten können. Die Öffnung der Jugendlichen geschieht in individuell unterschiedlichem Tempo. Die Mitarbeiter_innen bieten Hilfe bei der Bewältigung biografisch belastender Erfahrungen und vermitteln therapeutische Hilfe. ➤ Vermittlung in therapeutische Angebote nach Bedarf Bei psychischen Problemen, Traumatisierungen oder starken Belastungen durch familiäre Vorkommnisse in der Heimat stellt das Team der Fachkräfte Kontakte zu niedergelassenen Psychotherapeut_innen her, teilweise können Therapien bei Muttersprachlern vermittelt werden. In akuten psychischen Krisen hat sich die Zusammenarbeit mit der örtlich zuständigen Kinder- und Jugendpsychiatrie bewährt. ➤ Gesundheitsfürsorge Viele der jungen Flüchtlinge haben gesundheitliche Probleme, und zu Beginn ihres Aufenthaltes sind viele Arztbesuche notwendig. Neben der Behandlung akuter Gesundheitsprobleme wie Darmerreger, Hautkrankheiten oder orthopädische Probleme stehen auch häufig Zahnsanierungen, Versorgung mit Sehhilfen, Operationen wegen chronischer Erkrankungen an. Im Rahmen der Prävention kümmern sich die Mitarbeiter_innen um die notwendigen Impfungen bei der Hausarztpraxis des Vertrauens vor Ort. ➤ Unterstützung und Begleitung im asylrechtlichen Verfahren und bei der Regelung ausländerrechtlicher Fragen Die fachliche Beratung in asylrechtlichen Fragen findet in der Regel durch „UmF-Mobil“, ein ursprünglich vom Bund gefördertes Projekt, statt, in dem ein hohes Fachwissen über asylrechtliche Fragen vorhanden ist. Natürlich begleiten die Fachkräfte der WG die Jugendlichen zu Anhörungen, zum Bundesamt und zur Ausländerbehörde. Sie leisten nach Abschluss des Asylverfahrens Hilfe bei der Erlangung eines Nationalpasses. ➤ Enge Zusammenarbeit mit dem Vormund Für das Gelingen der Hilfe ist die enge Zusammenarbeit mit dem vom Familiengericht bestellten Amtsvormund notwendig. Gerade bei jüngeren unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist eine enge Absprache des pädagogischen Rahmens, der z. B. auch Ausgangszeiten und Übernachtungsbesuche außerhalb der Wohngruppe umfasst, wichtig. ➤ Spezifische Angebote Besondere, auf die Zielgruppe ausgerichtete Angebote lassen sich im Gruppensetting gut verwirklichen. So bieten die Fachkräfte jährlich einen Schwimmkurs an (immer wieder ertrinken in Deutschland junge Flüchtlinge beim Baden). In diesem Jahr wurde ein Fahrrad-Fahrtraining angeboten, denn die Verkehrsregeln sind den Jugendlichen oft gar nicht bekannt. Auch besondere sexualpädagogische Angebote in Zusammenarbeit mit ProFamilia gehören zum Angebot. Jugendwohngemeinschaften (JWGs) für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Hierbei handelt es sich um eine ebenfalls stationäre Form der Betreuung, die allerdings durch sozialpädagogische Fachkräfte nur an den Wochentagen nachmittags bis in die Abendstunden hinein gewährleistet wird. Nachts und am Wochenende leben die Jugendlichen unbetreut, wobei in Notfällen ein Bereitschaftsdienst aktiv wird. Die Bewohner der JWGs haben daher in der Regel in der Wohngruppe schon eine gewisse Selbstständigkeit erlernt oder kommen direkt aus dem Clearinghaus und haben dort aufgrund ihres Alters, 17 Jahre, und/ oder ihres Entwicklungsstandes die Empfehlung für eine JWG erhalten. Räumlich handelt es sich 415 uj 10 | 2015 Ausdifferenzierte Hilfen zur Erziehung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge um vom Träger angemietete Wohnungen in normalen Mietshäusern, für die vom Landesjugendamt eine Betriebserlaubnis erteilt wird. Die Flüchtlinge erhalten für das Leben in der JWG einen Unterhalt, den sie lernen selbstständig einzuteilen, und versorgen sich individuell selbst. Bei der Zusammensetzung der kleinen Wohneinheiten hat es sich bewährt, Wünsche und Vorstellungen der Jugendlichen, mit wem sie zusammenleben möchten, zu berücksichtigen. So werden die JWGs des SOS KD immer nur mit Jugendlichen der gleichen Nationalität, teilweise sogar der gleichen Ethnie, belegt, da das Zusammenleben dann harmonischer verläuft und die Konfliktbearbeitung deutlich leichter gestaltet werden kann. Da die Jugendlichen auch ohne die Anwesenheit von Betreuungspersonal miteinander auskommen müssen, haben sich kleine Wohneinheiten mit zwei bis drei Jugendlichen bewährt. Andere Jugendhilfeträger, die teilweise JWGs mit sechs Plätzen angeboten hatten, sind inzwischen ebenfalls zu kleineren Wohneinheiten übergegangen. Die sozialpädagogischen Aufgaben in den JWGs liegen eher in der Hilfe bei der individuellen Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen. Natürlich erhalten sie weiter Hilfe bei der Haushaltsführung, und auch das gemeinsame Kochen mit den Betreuungspersonen wird von den Jugendlichen als traditionelle familiäre Erfahrung sehr geschätzt. Die Flüchtlinge in der JWG besuchen meist schon eine Regelschule, wo sie auf einen Hauptschulabschluss hinarbeiten, oder oft auch eine Berufsschule, wo sie in einem dualen Berufsvorbereitungsjahr oder einem Berufsgrundschuljahr versuchen, einen Abschluss zu erlangen. Die Entwicklung einer realistischen beruflichen Perspektive bildet in der JWG einen Schwerpunkt in der sozialpädagogischen Begleitung, und nach Erlangung eines Schulabschlusses beginnt meist die Suche nach adäquaten Ausbildungsplätzen. Einigen der Jugendlichen gelingt es sogar, eine sehr begehrte Ausbildungsstelle als KFZ-Mechatroniker zu finden. Neben der alltagspraktischen Hilfe und der weiteren schulischen Förderung liegt ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit in der Akkulturation, der Auseinandersetzung mit kulturellen Werten, der Reflexion des Verhaltens und der Probleme bei der Bewältigung des Alltages gemeinsam mit den Jugendlichen, um so individuelle Reifungsprozesse anzustoßen. Da in den JWGs konsequent nach dem Bezugsbetreuungssystem gearbeitet wird, stellt hier die Beziehungsarbeit einen deutlich höheren Stellenwert in der Pädagogik dar. Auf der Grundlage der vertrauensvollen Helferbeziehung werden auch schwierigste Themen besprechbar. Übergreifend für alle JWGs gibt es Angebote der Gruppenarbeit, sowohl im freizeitpädagogischen Bereich als auch im Bildungsbereich (Sexualpädagogik etc.). In den Ferien bieten wir eine übergreifende Ferienfreizeit an. Das SOS KD SB hält derzeit vier JWGs mit insgesamt zehn Plätzen vor. In jeder JWG arbeiten mindestens zwei Fachkräfte, um auch in Vertretungssituationen Beziehungskontinuität gewährleisten zu können. Besonderes Augenmerk wird auf die Übergänge der Hilfeformen gelegt. Die Jugendlichen der Wohngruppe lernen ihre neuen Bezugspersonen schon vor dem Umzug kennen und bereiten gemeinsam den Wechsel vor. Steht bei weiterer positiver Entwicklung ein Übergang in die eigene Wohnung mit weiterer ambulanter Jugendhilfe in Form des Betreuten Wohnens an, so bleibt die Bezugsbetreuung auch in diesem Rahmen stabil. Einige unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erhalten auch über die Volljährigkeit hinaus Jugendhilfe nach § 41 SGB VIII. Die Entscheidung über die Bewilligung dieser Hilfe wird im Hilfeplanverfahren immer anhand der individuellen sozialpädagogischen Bedarfe der Jugendlichen getroffen. Die Verweildauer in den JWGs ist individuell sehr unterschiedlich und liegt zwischen neun Monaten und zwei Jahren. 416 uj 10 | 2015 Ausdifferenzierte Hilfen zur Erziehung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Mobile Betreuung Für einzelne Jugendliche, für die die bisher beschriebenen Unterbringungsformen keine adäquate Hilfeform darstellen, bieten wir als intensivere, individuellere Hilfe eine Mobile Betreuung an. Dabei wird ein erhöhtes Kontingent von Betreuungsstunden im Vergleich zur JWG vorgehalten. Die Mobile Betreuung kann sowohl in einer Einzelwohnung als auch im überschaubaren Betreuungssetting der Mobilen Betreuung mit Büroräumen der Mitarbeiter_innen vor Ort stattfinden. Diese Hilfeform bieten wir an für Jugendliche mit Schwierigkeiten im Zusammenleben mit anderen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen oder bei krisenhaften Entwicklungen in den anderen Betreuungssettings. Es handelt sich um eine Hilfeform, die ursprünglich für Jugendhilfefälle mit Bedarf nach intensiver Unterstützung bei der Verselbstständigung konzipiert wurde. Die sozialpädagogischen Aufgaben decken sich mit denen der bisher beschriebenen Angebote. Zusätzlich wird intensiv die soziale Kompetenz gefördert und an den individuellen, auch psychischen Problematiken der Jugendlichen gearbeitet. Betreutes Wohnen Bei positiver Gesamtentwicklung und zunehmender Selbstständigkeit kann im Hilfeplanverfahren ein Übergang in diese ambulante Hilfeform beschlossen werden. Meist leben die Jugendlichen dann schon zwei Jahre oder länger in Deutschland, sind sowohl schulisch und beruflich integriert und können relativ selbstständig ihren Alltag gestalten, haben aber weiterhin einen sozialpädagogischen Förderbedarf. Da die afghanischen Jugendlichen oft bildungsmotiviert sind, haben schon einige von ihnen eine duale Ausbildung begonnen. Zunächst erhalten die Jugendlichen Unterstützung bei der Wohnungssuche, was in Saarbrücken derzeit wegen des knappen Angebots an bezahlbaren, kleinen Wohneinheiten eine recht große Herausforderung bedeutet. Nicht selten dauert es etwa vier Monate, bis für den Flüchtling die passende Wohnung gefunden wird. Der Mietvertrag wird von ihm selbst, bei Minderjährigkeit vom Vormund unterschrieben. Gemeinsam wird die Wohnung eingerichtet, wird die Anmeldung beim örtlichen Energieunternehmen getätigt, wird die behördliche Ummeldung erledigt und werden die finanziellen Angelegenheiten zur Finanzierung der eigenen Wohnung geregelt. Die Flüchtlinge erhalten in dieser Hilfeform eine Pauschale zur Bestreitung ihres gesamten Unterhaltes. Die sozialpädagogische Unterstützung wird im Rahmen von Fachleistungsstunden, deren Anzahl fallbezogen verhandelt wird, übernommen. Wie schon erwähnt behält der Jugendliche immer, wenn dies möglich und angezeigt ist, seine Bezugsperson. Das Betreute Wohnen stellt nach unserer Erfahrung oft ganz besondere Anforderungen an die heranwachsenden Flüchtlinge, da sie von ihrer kulturellen Sozialisation in ihren Heimatländern nicht gewöhnt sind, alleine zu leben. Immer wieder wird beobachtet, dass das Alleine- Leben die jungen Menschen in besonderem Maße zu einer intensiven Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Biografie und der Fluchtentscheidung bringt, und nicht selten treten in dieser Phase Depressionen oder auch andere Traumafolgestörungen zutage. Nicht zu unterschätzen sind in dieser Phase der Verselbstständigung die Erwartungen der Familien im Heimatland, die oft finanzielle Unterstützung als Existenzgrundlage im Heimatland erwarten und kein Verständnis für die langen und mühsamen Ausbildungswege in Deutschland aufbringen. Vor diesem Hintergrund benötigen die Flüchtlinge kontinuierliche, intensive Hilfe bei der Entwicklung der eigenen beruflichen Perspektive. 417 uj 10 | 2015 Ausdifferenzierte Hilfen zur Erziehung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Auf Wunsch der Jugendlichen kann ein Betreutes Wohnen auch gemeinsam mit einem Freund in einer gemeinsamen Wohnung durchgeführt werden, was in der Praxis aber neben finanziellen Herausforderungen eben andere Schwierigkeiten bei unterschiedlicher Länge der Hilfegewährung mit sich bringt. Ausbildung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Wie schon erwähnt, gelingt es den bildungsmotivierten Flüchtlingen, mit entsprechender Unterstützung Schulabschlüsse zu erlangen und danach den Einstieg in reguläre duale Ausbildungsstellen zu schaffen. Aber natürlich bringen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ganz unterschiedliche Kompetenzen mit und lernen in sehr unterschiedlichem Tempo, teilweise auch bedingt durch gute individuelle Förderung an den Schulen oder eben deren Fehlen. Da das arbeitsmarktpolitische Förderinstrumentarium für Asylsuchende stark eingeschränkt ist und auch an den jeweiligen Aufenthaltsstatus gekoppelt ist, ist es besonders schwierig gerade für die Jugendlichen, die wegen langsamem Spracherwerb keinen Schulabschluss schaffen oder aufgrund anderer Vermittlungshemmnisse keine Chance auf dem Ausbildungsmarkt haben, eine Alternative zu finden. Da das SOS KD SB neben der Jugendhilfe auch über einen berufsbildenden Bereich mit überbetrieblichen Ausbildungen für junge Menschen mit Vermittlungshemmnissen verfügt, ist es im Herbst 2014 ebenfalls mit finanzieller Unterstützung des Jugendamtes gelungen, zwei Jugendlichen eine Ausbildungsstelle als „Fachkraft im Gastgewerbe“ anzubieten. Beide jungen Männer werden im Ausbildungsrestaurant wegen ihrer Höflichkeit, ihres Respektes und ihrer Kundenorientierung sehr geschätzt. Die hohen schulischen Anforderungen werden durch zusätzlichen Stützunterricht in der Einrichtung abgefedert. Die Erfahrungen im ersten Jahr der Ausbildung sind bisher positiv. Weitere Bedarfe für überbetriebliche, sozialpädagogisch begleitete Ausbildung und auch vorgeschaltete berufsorientierende Maßnahmen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge stehen außer Frage, um gelingende Integrationsprozesse zu gestalten. Besondere Gelingensfaktoren der Hilfen beim SOS Kinderdorf in Saarbrücken Die Grundlage für die gute Versorgung und Integration der jungen Flüchtlinge in Saarbrücken stellen das breit ausdifferenzierte Angebot und die unkomplizierten Übergänge zwischen den einzelnen Angeboten dar. Aber es sollen noch weitere Faktoren benannt werden, die zum Gelingen der Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge beitragen: ➤ Ohne die konsequente Haltung des Jugendamtes des Regionalverbandes Saarbrücken gegenüber Hilfsangeboten für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und die gute, stark vernetzte Zusammenarbeit wäre die Angebotspalette kaum realisierbar gewesen. ➤ Gute Netzwerke und enger fachlicher Austausch zwischen allen mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen arbeitenden Trägern in Gremien, aber auch in der Betreuung einzelner Flüchtlinge tragen zum Wohl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge bei. Die enge Zusammenarbeit im Trägerverbund ermöglicht die Verteilung von Risiken und Belastungen auf mehrere Partner. ➤ Weitreichende Beteiligungskultur in allen Angeboten für junge Flüchtlinge und Lernprozesse durch die Umsetzung von vielfältigen partizipativen Ansätzen tragen zum Erfolg der Jugendhilfemaßnahmen bei und erscheinen bei den biografischen Erfahrungen der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge absolut notwendig. 418 uj 10 | 2015 Ausdifferenzierte Hilfen zur Erziehung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ➤ Sowohl in der Wohngruppe als auch in unseren Verselbstständigungsangeboten arbeitet ein Team von Fachkräften, Erzieher_innen und Sozialpädagog_innen, die sich im Laufe der praktischen Arbeit mit den Flüchtlingen vielfältige Kenntnisse und Erfahrungen angeeignet haben und sowohl extern wie intern für die Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen fortgebildet werden. Auch traumapädagogische Ansätze werden in Inhouse-Schulungen vermittelt und in externer Supervision reflektiert. ➤ Die Betreuung und Begleitung der jungen Flüchtlinge ist eine sehr fordernde, aber auch spannende und emotional berührende Sozialarbeit, bei der die Fachkräfte für sich persönlich oft positive Lernprozesse und auch Freude und Wirksamkeit in der Arbeit erleben. Gerade wo die verbale Verständigung noch nicht so gut funktioniert, erspüren die ausländischen Jugendlichen sehr sensibel, ob jemand gerne mit ihnen arbeitet. Ende der Jugendhilfe Die meisten heranwachsenden Flüchtlinge bleiben auch nach Ende der Jugendhilfe in Saarbrücken in ihrem gewohnten sozialen Umfeld. Bei gelungener beruflicher Integration können sie ihren Lebensunterhalt selbst finanzieren. Bei notwendiger Überleitung zum SGB II und zu anderen Leistungen wie Berufsausbildungsbeihilfe oder BaFöG gibt es noch erhebliche bürokratische und gesetzliche Hürden zur Finanzierung des Lebensunterhaltes, die einer dauerhaften gesellschaftlichen Integration der motivierten Zuwanderer im Wege stehen. Karin Heck SOS-Kinderdorf Saarbrücken Jugendhilfe Seilerstraße 6 66111 Saarbrücken karin.heck@sos-kinderdorf.de