eJournals unsere jugend 67/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art67d
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2015
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Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bei Refugio München

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2015
Jürgen Soyer
Mit bis zu 9.000 neu ankommenden unbegleiteten Minderjährigen rechnet die Landeshauptstadt München für das Jahr 2015. Die Zahl dieser jungen und jüngsten Geflüchteten könnte möglicherweise sogar noch weiter steigen. Erschreckend ist vor allem, dass sich darunter zunehmend Kinder finden, die deutlich jünger als zehn Jahre sind und oft eine Odyssee von mehreren Jahren hinter sich haben.
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419 unsere jugend, 67. Jg., S. 419 - 425 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art67d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Jürgen Soyer Jg. 1967; Dipl.-Sozialpädagoge, Dipl.-Theologe, Geschäftsführer der Flüchtlingshilfsorganisation Refugio München, Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bei Refugio München Schutz des Kindeswohls hat Vorrang Mit bis zu 9.000 neu ankommenden unbegleiteten Minderjährigen rechnet die Landeshauptstadt München für das Jahr 2015. Die Zahl dieser jungen und jüngsten Geflüchteten könnte möglicherweise sogar noch weiter steigen. Erschreckend ist vor allem, dass sich darunter zunehmend Kinder finden, die deutlich jünger als zehn Jahre sind und oft eine Odyssee von mehreren Jahren hinter sich haben. Es ist für Mitteleuropäer schwer vorstellbar, was es bedeutet, wenn ein achtjähriger Junge oder ein zehnjähriges Mädchen ohne Eltern und Familie über den Landweg oder das Mittelmeer nach Deutschland flieht. Die Erlebnisse, die auf diese Kinder ungefiltert und mit voller Wucht einstürmen, sind schon für Erwachsene unerträglich. Doch - so merkwürdig es klingen mag - darin kann für viele dieser Kinder eine Chance liegen. Denn durch eine Mischung aus kindlicher Naivität, schier grenzenlosem Überlebenswillen und der Fähigkeit, akute Bedrohungen emotional und rational ausblenden zu können, gelingt einem gewissen Prozentsatz dieser Minderjährigen die Flucht, ohne posttraumatische Belastungsstörungen zu erleiden. Das bedeutet nicht, dass diese Unbegleiteten keine Unterstützung benötigen würden. Im Gegenteil. Bei Refugio München, dem Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer, bemüht sich das Team um jedes Einzelschicksal. Viele sind traumatisiert Viele Kinder und Jugendliche, die die Flucht nach Deutschland geschafft haben, berichten neben Kriegserlebnissen in ihren Heimatländern auch von anderen traumatischen Erlebnissen, die sie an den Grenzen Europas oder in einem europäischen Land bei ihrer Aufnahme machen mussten. Ein Projekt des Bayerischen Sozialministeriums zur Früherkennung besonders vulnerabler Flüchtlinge ergab laut Abschlussbericht vom 17. 12. 2012 eine Traumatisierungsrate unter den erwachsenen Flüchtlingen von über 30 Prozent. Die Rate unter Kindern und Jugendlichen dürfte aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit zwar noch höher liegen - grundsätzlich alle Unbegleiteten als traumatisiert zu bezeichnen, entspräche aber nicht der Realität. 420 uj 10 | 2015 Therapieangebote und Hilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Professionelle Hilfe ist in jedem Fall angeraten - ob therapeutisch oder im sozialen Bereich als Hilfe zur Integration. Die Kapazitäten des gerade 20 Jahre alt gewordenen psychosozialen Zentrums Refugio München sind jedoch begrenzt, auch wenn die Zahl von 30 festangestellten PsychotherapeutInnen und SozialpädagogInnen eine hohe Professionalität und Leistungsfähigkeit zeigt. Wenn sich zweimal pro Jahr Schutz- und Hilfesuchende für einen Therapieplatz anmelden können, gehen leider viele von ihnen vorläufig leer aus. Aktuell können lediglich 135 unbegleitete Minderjährige bei Refugio München betreut und begleitet werden. Der Rest muss warten - oder kommt im besten Fall in einer anderen Einrichtung unter. Bei Refugio München müssen strenge Maßstäbe hinsichtlich der Altersgrenze für einen Therapieplatz angelegt werden: In einigen Fällen könnten qua Gesetz zwar Maßnahmen der Jugendhilfe bis zum Alter von 27 Jahren gewährt werden - Refugio muss die Linie jedoch schon bei der Altersgrenze von 18 Jahren ziehen, um auch nur annähernd dem Bedarf gerecht werden zu können. Gründe von Flucht Am vorläufigen Ende eines oft leidvollen Weges stehen hoffentlich ein Therapieplatz und die meist parallel einsetzende Sozialberatung. In dieser glücklichen Situation angekommen, könnten sich Perspektiven für die Kinder und Jugendlichen eröffnen, die in ihren Heimatländern nie gegeben wären. Aktuell verzeichnet Refugio eine weiterhin hohe Zahl von unbegleiteten Minderjährigen aus Afghanistan, Eritrea, Somalia, Syrien und Kongo - Tendenz weiter steigend. Denn die Herkunftsländer sind gleichsam Spiegel internationaler, nationaler oder manchmal auch regionaler Konflikte, Krisen und Kriege. Die Eltern geben ihre Kinder in die Hände von Schleppern, weil sie verhindern wollen, dass sie in die Hände der IS-Kämpfer, von Boko Haram oder Al Shabab fallen und dort definitiv verloren sind. Sie muten ihren Kindern Unvorstellbares zu - mitunter auch deshalb, weil sie hoffen, dass - schaffen sie es und erhalten die Minderjährigen einen Aufenthaltsstatus - der Rest der Familie leichter nach Europa nachkommen könnte. Wenn Traumata therapiert und Integration durch Sozialberatung gelingen soll, muss nach der konkreten Geschichte des Kindes gefragt werden. Beispiel Libyen. Das Land ist eine Art Nadelöhr für Menschen geworden, die den gefährlichen Fluchtweg über das Mittelmeer wagen. Und es ist eine Falle für diejenigen, die nicht genügend Geld haben, um ihre Flucht direkt fortzusetzen. Eine unheilvolle Allianz aus Kleinkriminellen, organisierten Banden und einer Polizei, die gern wegschaut, sorgt im Land dafür, dass viele, die es an Körper und Seele einigermaßen unbeschadet bis dorthin geschafft haben, oft genug in Libyen misshandelt, missbraucht und versklavt werden. Die Schlepper fordern plötzlich mehr Geld, das die Kinder und Jugendlichen in der Regel nicht aufbringen können. Also sind sie gezwungen, dieses Geld zu erarbeiten - häufig durch das Verkaufen des eigenen Körpers. Das zu wissen, ist für den Therapieverlauf und die soziale Integration von Bedeutung. Nur so ist es beispielsweise zu verstehen, warum einerseits die Auskunfts- und Gesprächsbereitschaft gegenüber staatlichen Stellen sehr eingeschränkt ist - andererseits zum Beispiel ein unbegleiteter Minderjähriger völlig emotionslos berichtet, wie eine Rakete ins Nachbarhaus einschlug und unter anderem vier Kinder in Stücke zerfetzte. Für ihn war dieses Ereignis Normalität. Maßstäbe, Emotionen und Wahrnehmung sind bei solchen minderjährigen Flüchtlingen abhanden gekommen und müssen in einer Therapie wiedergefunden werden. In der Therapie selbst werden Worte und andere Ausdrucksformen für diese schrecklichen Erlebnisse gefunden, um dem Grauen Gestalt und Form geben zu können. Wie weit Trauma 421 uj 10 | 2015 Therapieangebote und Hilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge greifen kann, zeigen überdies Berichte von TherapeutInnen, die psychosoziale Störungen durch dramatische Erlebnisse bereits bei Ungeborenen im Mutterleib feststellen konnten. Gleiche Rechte für junge Flüchtlinge Einen Schritt zurück: Noch bis 2013 hatte sich die Bundesregierung beharrlich geweigert, auch minderjährigen Flüchtenden Schutz nach der UN-Kinderechtskonvention zu gewähren. Die Unterzeichnung dieser Vereinbarung war von Deutschland nur unter Vorbehalt vollzogen worden. De facto bedeutete das, dass diese Kinder und Jugendlichen keinen Anspruch auf Leistungen der Jugendhilfe hatten. Das änderte sich erst mit dem Koalitionsvertrag von 2013, in dem die SPD durchsetzte, dass Flüchtlingskinder die gleichen (sozialen) Rechte haben sollen wie deutsche. Die sogenannte asylrechtliche Handlungsfähigkeit wurde im gleichen Zuge von 16 auf 18 Jahre angehoben. Das bedeutete für die Praxis von Refugio München, dass nun auch unter 18-Jährige in jedem Fall ein Anrecht auf Jugendhilfe - und damit auch auf Therapie und Sozialberatung - hatten. Inhaltlich war damit ein längst überfälliger Schritt vollzogen. In der Praxis prallten die neuen Regelungen allerdings auf eine nur ansatzweise vorbereitete Verwaltung. Ressourcenknappheit und Unerfahrenheit sind bis heute die größten Hemmnisse in der konsequenten Umsetzung der gesetzlichen Regelungen. Die Vorgaben werden insbesondere in Ballungszentren weiterhin nur sehr schwer umzusetzen sein - hier fehlen in erheblichem Maße Kapazitäten und qualifiziertes Personal. Mit dem erwähnten Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde auch der Regelsatz des Asylbewerberleistungsgesetzes, der bis zu 35 Prozent unter den Hartz IV-Sätzen lag, für verfassungswidrig erklärt. Bis zu der Zeit lebten viele Kinder und Jugendliche im Leistungsbezug in purer Armut. Die Regelsätze orientieren sich nun am Regelsatz von Hartz IV. Auch die zusätzlichen Leistungen wie Nachhilfe oder Geld für Klassenfahrten werden nunmehr bewilligt. Deutliche Einschränkungen sieht das Asylbewerberleistungsgesetz weiterhin in der Gesundheitsversorgung vor. AsylbewerberInnen in Bayern erhalten keine Krankenversicherung (erst nach 15 Monaten Aufenthalt in Deutschland gemäß § 2 AsylbLG), sondern müssen sich für einen Arztbesuch einen Krankenschein beim Sozialamt abholen. Manche Sozialämter vergeben dafür extra Termine, bei manchen kann man dafür ohne Termin vorsprechen. Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht nur eine Krankenbehandlung bei„akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen“ vor (§ 4 AsylbLG) und gibt in § 6 AsylbLG unter „Sonstigen Leistungen“ noch Spielraum, dass zum Beispiel chronische Erkrankungen auch behandelt werden können. Allerdings ist bei fachärztlichen Behandlungen oft vorgesehen, dass ein Amtsarzt den Flüchtling begutachten muss, ob die Behandlung unerlässlich ist. Erst dann wird ein Krankenschein vom Sozialamt ausgestellt. So werden Leistungen wie Brillen, Zahnspangen, Psychotherapien oder Krankengymnastik oft nicht übernommen, wenn sie nicht von einem Amtsarzt für unerlässlich erachtet werden. Davon sind begleitete Minderjährige direkt betroffen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erhalten in der Regel schon von Anfang an eine Krankenversicherung über das Jugendamt und sind von dieser Leistungseinschränkung nicht betroffen. Das System Jugendhilfe Im Idealfall durchlaufen die unbegleiteten Minderjährigen vom Betreten deutschen Bodens bis zur Unterbringung folgende Stationen: Ankommen in der Erstaufnahmeeinrichtung: Im Falle Münchens werden dort bis zu 30 Unbegleitete pro Tag registriert. 422 uj 10 | 2015 Therapieangebote und Hilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Prüfung der Voraussetzungen zur Inobhutnahme: Es wird geklärt, ob es sich um einen minder- oder volljährigen Flüchtling handelt. Festsetzung der Minderjährigkeit: Wird Minderjährigkeit festgestellt, erfolgt die Inobhutnahme, ein Antrag auf Vormundschaft wird gestellt. Betreuung im Übergangswohnen: Es folgt die Zuweisung in das Übergangswohnen mit Wohnsitzanmeldung, Erstellung eines Clearing-Berichts. Verteilung: Nicht alle in den beiden Ballungszentren München und Hamburg ankommenden Flüchtlinge bleiben auch dort, die zuständigen Behörden verteilen sie innerhalb des Bundeslandes. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden in der Regel nicht in andere Bundesländer umverteilt, da sie gleich am Ort ihrer Antragstellung vom Jugendamt in Obhut genommen werden müssen. Ein im Juli verabschiedeter Gesetzentwurf sieht ab 2016 eine bundesweite Verteilung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge vor. Integration von Anfang an Gleichzeitig mit der Inobhutnahme und der Bestellung eines Vormundes soll den Minderjährigen der Schulbesuch ermöglicht werden. Dort - so die Erfahrung von Refugio - besteht eine sensible Nahtstelle, auf die die Lehrkräfte vorbereitet sein müssen. Die oft jahrelange Flucht hat aus Kindern sehr früh junge Erwachsene gemacht, die sich oft nur widerwillig einem staatlichen Regelwerk aussetzen wollen. Zudem führt die scheinbare Ruhe und Sicherheit des neuen Lebensortes zum Aufbrechen der lang überdeckten eigenen Fluchtgeschichten. Die TherapeutInnen von Refugio stehen in dieser Situation vor der Aufgabe, diesem Wirrwarr wieder Struktur zu geben, die Unordnung der Gedanken zu ordnen. Jugendhilfe, Vormund und Refugio gehen dabei eine enge Verbindung ein, um den Kindern und Jugendlichen ein selbstbestimmtes und angstfreies Leben zu ermöglichen. Denn auch wenn sie nicht traumatisiert sind, sind sie dringend auf Unterstützung angewiesen. Wenn dabei einige von ihnen durch die Flucht und die Erlebnisse durchaus in ihrer Persönlichkeit stärker und reifer geworden sind, leiden doch nahezu alle unter Anpassungsschwierigkeiten innerhalb ihrer neuen Heimat. Sie müssen lernen, was die deutsche Gesellschaft von ihnen erwartet, welche Wege sie gehen können und was ihnen schadet. Shqipe Krasniqi, Kinder- und Jugendtherapeutin bei Refugio München: „Viele Jugendliche können unglaublich viel erreichen, wenn man ihnen die Mittel dafür zur Verfügung stellt. Ich hatte beispielsweise zwischen 2007 und 2009 ein afghanisches Mädchen als Klientin. Sie war Friseurin - konnte aber weder schreiben noch lesen. Heute studiert sie, ist mit ihrem Freund in eine eigene Wohnung gezogen und ist in diesem neuen Leben tatsächlich angekommen. Das sind für uns Glücksmomente, wenn wir wieder einem Menschen auf dem Weg geholfen haben.“ Das Problem liegt nach den Erfahrungen von Refugio nicht im Nicht-Wollen der ankommenden jungen Flüchtlinge als vielmehr in den unzureichenden Ressourcen und oft auch in der mangelnden kulturellen Sensibilität bzw. den unzureichenden Erfahrungen des Personals in den Jugendhilfeeinrichtungen. Dabei ergeht es unbegleiteten Minderjährigen besser als Erwachsenen und Minderjährigen in Gemeinschaftsunterkünften. Bei Kindern und Jugendlichen wurde mit der Gesetzesnovelle aus dem Jahr 2013 sichergestellt, dass eine psychosoziale Betreuung erfolgen soll. Bei Erwachsenen und Minderjährigen in einer Gemeinschaftsunterkunft gibt es eine solche verpflichtende Regelung nicht - sie bleiben sich in den Einrichtungen oft selbst überlassen, werden unzureichend gefördert und sind deshalb oft chancenlos - in der Regel für sehr lange Zeit. 423 uj 10 | 2015 Therapieangebote und Hilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge In jedem Fall ist jede Form der Unterbringung in der Jugendhilfe ein großer Stabilisierungsfaktor für die Kinder und Jugendlichen im Vergleich zur Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften. Die engmaschige fachliche Begleitung und in der Regel die gute Vernetzung mit anderen Unterstützungsformen wie Sportvereinen, ÄrztInnen, TherapeutInnen oder Schulen stellt eine wichtige Stütze für die jungen Menschen dar. Therapieplätze sind begrenzt Zurück zur Arbeit von Refugio. Dort werden alle Minderjährigen zunächst angehört. Lediglich Kinder unter 14 Jahren bekommen sofort einen Therapieplatz. Bei allen anderen wird nach Dringlichkeit entschieden. Mit den Jugendlichen selbst werden keine sogenannten Abklärungsgespräche geführt, die bei Erwachsenen üblich sind und der Feststellung des tatsächlichen Therapiebedarfs dienen. Bei Minderjährigen analysieren die TherapeutInnen aus den vorliegenden Dokumenten den konkreten Handlungsbedarf. Werden lediglich Verhaltensstörungen diagnostiziert, die aufgrund von Anpassungsproblemen in der neuen Umgebung entstanden sind, wird keine Therapie begonnen. War der Jugendliche aber nachweislich im Gefängnis, hat er Narben von Folter, kann er nicht schlafen und hat Alpträume, gibt es ein intensives Erstgespräch, bei dem - neben dem/ der TherapeutIn - der Vormund, ein/ e VertreterIn des Jugendamtes bzw. ein/ e DolmetscherIn anwesend sind. Zunächst wird das Gespräch in großer Runde geführt, um zu erfragen, wie die Sicht der Erwachsenen auf den unbegleiteten Minderjährigen ist. Anschließend spricht der/ die Refugio-TherapeutIn allein mit dem/ der Jugendlichen, um seine/ ihre Sicht auf die Dinge zu erfahren. Diese Gespräche dauern in der Regel 1 ½ bis 2 Stunden. Danach kann entschieden werden, ob - und wenn ja, wie schnell - eine Psychotherapie notwendig ist. Die Therapieformen und die Häufigkeit der Sitzungen werden individuell festgelegt. Anfangs treffen sich TherapeutIn und KlientIn meist einmal wöchentlich zu einer einstündigen Sitzung. Die Wege der Therapie sind dabei unterschiedlich. Die MitarbeiterInnen von Refugio entscheiden, ob etwa bei Kindern eine Kunst- oder auch eine Gesprächstherapie erfolgversprechender ist. Kinder werden in jedem Fall spielerischer mit ihrer psychischen Störung konfrontiert. Wenn ein Kind erzählt, dass es Alpträume hat, dann versuchen die TherapeutInnen beispielsweise, diesen Traum zu malen oder ihm ein „schönes Ende“ zu geben. Den Kindern und Jugendlichen werden zudem praktische Tipps vermittelt, wie sie sich künftig auch selbst aus wiederkehrenden Krisensituationen befreien können - etwa durch den gezielten Einsatz einer speziellen Atemtechnik. Erfolgsfaktoren von Therapie Die Dauer der therapeutischen Begleitung kann sich zwischen zwölf Wochen und zwei Jahren bewegen. Ziel ist jeweils die Stabilisierung der KlientInnen in ihrem neuen Lebensumfeld. Am Ende der Therapie sehen sich TherapeutIn und KlientIn oft nur noch vierteljährlich - dann kann der Ausstieg aus der Begleitung vorbereitet werden. Nicht jede Therapie mündet allerdings direkt in einen erfolgreichen Abschluss und die Phase der Stabilisierung der KlientInnen. Mitunter ist eine zwischenzeitliche Einweisung in psychiatrische Einrichtungen notwendig, weil die KlientInnen beispielsweise suizidale Gedanken haben. Ebenfalls problematisch für den Erfolg der Therapie stellt sich der asylrechtliche Aufenthaltsstatus der Kinder und Jugendlichen dar. Solange dieser nicht abschließend geklärt ist, bestehen Unsicherheit und wenig Bereitschaft, sich gänzlich auf einen Prozess der Integration einzulassen. 424 uj 10 | 2015 Therapieangebote und Hilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Aktuelle politische Einlassungen lassen hier jedoch hoffen, dass zumindest diejenigen Kinder und Jugendlichen aufenthaltsrechtlichen Schutz genießen werden, die sich in schulischer oder beruflicher Ausbildung befinden. Angesichts des drohenden Fachkräftemangels in Deutschland greift allerdings auch dieser Kompromiss zu kurz, denn motivierte und qualifizierte Arbeits- und Führungskräfte werden künftig in noch viel stärkerem Maß ausschlaggebend für den volkswirtschaftlichen Erfolg europäischer Staaten sein. Eine dauerhafte Aufenthaltsregelung wäre für alle Beteiligten sinnstiftend. Sozialberatung erfordert Vertrauen Neben den therapeutischen Angeboten genießt Refugio München hohes Ansehen im Bereich der Sozialberatung - nicht zuletzt bei den entsprechenden staatlichen und kommunalen Trägern. Das Vertrauen zwischen KlientIn und BeraterIn ist - ähnlich wie in der Therapie - ausschlaggebend für den Erfolg der Beratung. Die konkreten Unterstützungsleistungen von Refugio sind allerdings begrenzt. Im Bereich der Suche und Vermittlung von Wohnraum treffen die MitarbeiterInnen von Refugio auf ähnlich schwierige Bedingungen wie andere Wohnungssuchende auch. Allerdings können erfolgreich Hilfestellungen bei Gesprächen mit AnwältInnen oder der Ausländerbehörde gegeben werden. Auch bei der Bewältigung alltagspraktischer Fragen wie „Wie schließe ich einen Handy-Vertrag ab? “, „Wo kaufe ich einen Fahrschein für die S-Bahn? “ oder schlicht Beziehungsproblemen können Refugio-MitarbeiterInnen helfen. Jeder Fall ein Menschenschicksal Die Fluchtursachen und -verläufe scheinen sich zunächst zu gleichen. In Gesprächen mit den unbegleiteten Minderjährigen zeigt sich jedoch, dass jeder Fall ein besonderes Schicksal darstellt und entsprechende Interventionen benötigt. Aber auch die Gelingensfaktoren sind unterschiedlich. Ein Einblick in die tägliche Arbeit von Refugio München: Y. aus Afghanistan war vier Jahre alt, als er mit seiner Familie in den Iran flüchten musste. Später verweigerte man ihm dort, zur Schule zu gehen. Afghanen sind im Iran eine benachteiligte Volksgruppe und werden oft massiv verfolgt. Y. musste auf der Straße Geld für den Unterhalt der Familie verdienen. Er wurde damals mehrfach sexuell missbraucht. Auch während der Flucht wurde er missbraucht. Y. beginnt, Drogen zu konsumieren. Schließlich findet er den Weg zu Refugio. Es gelingt dem Therapeuten, sein Vertrauen zu gewinnen. Er spürt, dass sich Menschen für ihn interessieren und sich sorgen. Im Therapieverlauf gab es aber durchaus Rückschläge. Über andere Dinge, die ihm während dieser Zeit widerfahren waren, spricht er bis heute nicht - über die ihm widerfahrene sexuelle Gewalt kann er in der Therapie bereits reden. Inzwischen hat Y. seinen Hauptschulabschluss gemacht, eine Ausbildung begonnen und arbeitet in einem Altersheim. Die Intervention durch die Therapie bei Refugio München war notwendig. Y. hat gelernt, dass seine Vergangenheit Teil seines Lebens bleiben wird. Er hat zwar hin und wieder noch Alpträume - kann aber damit umgehen und findet wieder zurück in die Realität. Mit 17 Jahren kam S. aus Somalia nach Deutschland und wurde bei Refugio für eine Therapie aufgenommen. Sie war eine Notfall-Patientin. Ihr Vater war in der Heimat durch eine Autobombe getötet worden. Mit ihrer Mutter und den Geschwistern gelang damals zunächst die Flucht ins Nachbarland. S. wurde zu Hause unterrichtet. Als ihre Mutter starb, wurden S. und ihre Geschwister getrennt und zu verschiedenen Verwandten geschickt. S. wurde bei diesen Verwandten sexuell missbraucht. 425 uj 10 | 2015 Therapieangebote und Hilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Schließlich konnte S. nach Europa fliehen, landete in Ungarn und musste dort einige Monate verbringen. Was dort passiert ist, kann sie bis heute nicht erzählen. Es scheint aber sicher zu sein, dass sie auch dort mehrfach sexuell missbraucht wurde. Als sie zu Refugio kommt, weint sie tagelang. Die Aufgabe der Therapeutin war, die ständige Frage von S. zu beantworten: „Bin ich verrückt? “ Diese Frage wurde zum Kern der Therapie, um ihre Alpträume, ihre Schlafstörungen und ihre Schuldgefühle zu bekämpfen. Sie fühlte sich für den Tod ihres Bruders verantwortlich, der vor einer Polizeikontrolle geflohen und tödlich verunglückt war. In der Wohngruppe, in der sie untergebracht wurde, geht es ihr weiter schlecht. Sie findet keine Ruhe und kommt in eine betreute Einzelunterkunft. Das Verhältnis zum Aufsichtspersonal, das auch nachts die Zimmer kontrolliert, ist von Misstrauen und Angst geprägt. Mit maßgeblicher Unterstützung von Refugio München hat sie den Qualifizierenden Mittelschulabschluss gemacht und wird bald die Realschule abschließen, um anschließend zu studieren. Sie fühlt sich nicht zuletzt ihrer verstorbenen Mutter verpflichtet, diesen Bildungsweg zu gehen und das Beste aus ihrem Leben zu machen. Eine Gesamteinschätzung oder gar Prognose zur Frage von unbegleiteten Minderjährigen ist nur schwer zu geben. Die Bedingungen für therapeutische und sozialintegrative Unterstützungsleistungen sind in München im Verhältnis zu vielen anderen Städten und Regionen gut. Dennoch bleibt es Forderung, die tatsächlichen und wirksamen Angebote der Jugendhilfe nicht dadurch auszuhebeln, indem auf die Versorgungslücke, mangelnde Ressourcen und unzureichende Erfahrungen verwiesen wird. Kinder und Jugendliche gehören zu einer besonders vulnerablen Gruppe und müssen deshalb vom Tag ihrer Ankunft in Deutschland an auch wirklich alle Leistungen in Anspruch nehmen können, die einem effektiven Kindeswohlschutz und gelingenden Zukunftsperspektiven dienen. Jürgen Soyer Refugio München Rosenheimer Straße 38 81669 München juergen.soyer@refugio-muenchen.de www.refugio-muenchen.de