unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art68d
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2015
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Sozialpädagogische Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe
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2015
Heiner van Mil
Im Rahmen einer Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe ist es das Ziel, gemeinsam mit den jungen Menschen ihre aktuelle Situation umfassend und zielgerichtet zu erkunden und so herauszufinden, welche Hilfe sie benötigen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, werden professionelle Konzepte und geeignete Verfahren und Instrumente benötigt.
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426 unsere jugend, 67. Jg., S. 426 - 437 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art68d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Sozialpädagogische Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe Ein Rahmenmodell für die Praxis Im Rahmen einer Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe ist es das Ziel, gemeinsam mit den jungen Menschen ihre aktuelle Situation umfassend und zielgerichtet zu erkunden und so herauszufinden, welche Hilfe sie benötigen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, werden professionelle Konzepte und geeignete Verfahren und Instrumente benötigt. von Heiner van Mil Jg. 1988; M. A. Reha-Wiss., Fachbereichsleiter und Berater im Aufnahme- und Clearingzentrum der Ev. Jugendhilfe Bergisch Land (EJBL) gGmbH in Remscheid/ Wermelskirchen Vorbemerkungen Die Diagnostik bzw. das Fallverstehen stellt eine zentrale Methode der sozialpädagogischen Arbeit dar. Nur wenn Professionelle wissen, warum sie wann was tun und hierdurch die funktionale und nebenwirkungsarme Prozessgestaltung - zumindest in einem gewissen Maße - sichern, ist ihr Handeln als ethisch legitim zu betrachten. Um Interventionen jedoch passend bzw. wirksam einsetzen zu können, reicht das Bauchgefühl nicht aus, sondern bedarf es einer professionell gestalteten Vorarbeit (van Mil in Vorb.; Schmidt 2010, 5). Diagnostisches Handeln findet sich entsprechend in allen Phasen eines sozialpädagogischen Hilfeprozesses: Heiner (2013, 13) unterscheidet zwischen der Orientierungsdiagnostik zur Verschaffung eines Überblicks zu Beginn eines Hilfeprozesses, der Zuweisungsdiagnostik zur Ermittlung des Hilfebedarfs, der Gestaltungsdiagnostik zur Überprüfung und Anpassung laufender Interventionen sowie der Risikodiagnostik zur kurzfristigen Einschätzung von potenziellen Gefahren. In der Praxis des Aufnahme- und Clearingzentrums der Evangelischen Jugendhilfe Bergisch Land gGmbH in Remscheid liegt der Schwerpunkt der Arbeit auf dem Bereich der Zuweisungsdiagnostik; es ist hierbei das Ziel, den jeweiligen Hilfebedarf der jungen Menschen und ihrer Familien sowie die wahrscheinliche Passung zu möglichen Hilfeformen zu erkunden und mit diesem Wissen die Wahrscheinlichkeit des Gelingens weiterer Hilfeprozesse zu erhöhen (van Mil in Vorb.). Dabei werden sozialpädagogische, systemisch-beraterische und psychologische Diagnostikverfahren und -instrumente kombiniert; die Diagnostik wird entsprechend von einem multiprofessionellen Team durchgeführt. Schwerpunktmäßig im Rahmen der sozialpädagogischen und beraterischen Anteile wird auf Basis eines Modells gearbeitet, welches die Professionalität in den Diagnostikprozessen sichern soll. In dem vorliegenden Artikel wird dieses Modell vorgestellt. 427 uj 10 | 2015 Sozialpädagogische Diagnostik Sozialpädagogische Diagnostik bedeutet die Beschreibung fremder Wirklichkeiten in einem in der Regel institutionellen Kontext, welcher meist durch systemimmanente Machtgefälle geprägt ist. Obwohl diagnostisches Handeln somit einerseits fachlich und ethisch geboten ist, birgt es andererseits gleichzeitig die Gefahr, grundlegende professionsethische Werte zu verletzen. Eine Auflösung dieses Dilemmas ist nur durch die bewusste und an verbindlichen Orientierungspunkten ausgerichtete Gestaltung des diagnostischen Prozesses möglich. Eine mögliche Rahmung, die sich in dieser Hinsicht als besonders funktional erwiesen hat, ist die systemische Orientierung. Durch die Betrachtung von sozialen und psychischen Phänomenen unter systemischen Gesichtspunkten ist es möglich, zahlreiche ethische Spannungsfelder aufzulösen und gleichzeitig Funktionalität herzustellen. So schließt beispielsweise die systemische Annahme, dass psychische wie soziale Systeme grundsätzlich geschlossen und daher von außen nur schwer zu erkunden sind, die Möglichkeit von absoluten diagnostischen Deutungen kategorisch aus (ausschließlich Hypothesen sind möglich). Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass es sich bei Systemen um dynamische Phänomene handelt und systeminterne Prozesse grundsätzlich non-linear verlaufen. Durch Berücksichtigung dieser Annahmen wird einerseits der Gefahr dauerhafter Etikettierungen vorgebeugt und zudem Sichtweisen nach dem Prinzip einfacher Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge aufgelöst. Den Gefahren, einzelne Akteure als die alleinigen „Verursacher“ eines Problems zu betrachten sowie bedingende und einflussreiche Kontextfaktoren und Beziehungsmuster aus dem Blick zu verlieren, wird somit vorgebeugt. Weitere zentrale Merkmale bzw. Annahmen des systemischen Arbeitens sind die begrenzte und individuelle Kontingenz bzw. Anschlussfähigkeit/ Passung, die Ressourcen- und Lösungsorientierung, das Gebot der Herstellung von Handlungsfähigkeit sowie die unweigerlichen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Systemen, insbesondere den Klienten- und Helfer-Systemen. Die Orientierung an systemischen Annahmen und Grundsätzen stellt in hohem Maße Funktionalität und ethische Legitimität in den diagnostischen Prozessen her, die Auseinandersetzung mit diesen Annahmen und Grundsätzen sowie die Überführung derselben in die Praxis ist jedoch umfangreich und an zahlreichen Stellen komplex. Im vorliegenden Artikel soll es - wie bereits erwähnt - um die überblicksartige Vorstellung eines Modells gehen, mithilfe dessen sich Diagnostikprozesse organisieren und gestalten lassen. Die systemische Orientierung stellt dabei einen wichtigen und übergeordneten Rahmen dar. Für einen umfassenden und tiefergehenden Einblick in die systemisch orientierte sozialpädagogische Diagnostik verweise ich daher auf meine entsprechenden Ausführungen (Dutzmann 2014, 271ff; van Mil in Vorb.). Das „Baustein-Modell“ Das professionelle sozialpädagogisch-diagnostische Handeln findet in einem Spannungsfeld statt. Auf der einen Seite ist es das Ziel, die Komplexität der Wirklichkeit zu reduzieren, um so Handlungsfähigkeit herzustellen. Dies funktioniert wiederum nur, indem Informationen in Sprache dargestellt, geordnet und teils verkürzt werden (Borg-Laufs 2013, 200). Auf der anderen Seite sollen die Komplexität der Wirklichkeit sowie die Vielfalt verschiedener Sichtweisen geachtet und in keinem Fall durch unreflektierte Vereinfachungen verfälscht werden. Dieses Spannungsfeld aufzulösen, ist nicht möglich. Es muss vielmehr das Ziel sein, sich in diesem möglichst sicher und verantwortungsvoll - also professionell - zu bewegen (van Mil in Vorb.). Im Aufnahme- und Clearingzentrum in Remscheid werden Kinder und Jugendliche vollstationär betreut, die kurzfristig einen Schutz- und Schonraum benötigen oder deren bisherige Hilfen aufgrund mangelnder Passung abgebrochen werden mussten. Wenn das multiprofessionelle Team des Zentrums von allen Beteiligten - die jungen Menschen eingeschlossen - 428 uj 10 | 2015 Sozialpädagogische Diagnostik einen entsprechenden Auftrag erhält, wird eine psychosoziale Diagnostik mit dem Ziel der gemeinsamen Perspektiventwicklung durchgeführt, wobei die sozialpädagogische Diagnostik wiederum große Anteile hat (s. o.). Zur Prozessstrukturierung wurde ein Modell entwickelt, welches sich in der Praxis als sehr funktional erwiesen hat. Um Komplexität reduzieren und ein differenziertes Bild eines Falls erhalten zu können, in welchem sowohl Problemlagen als auch Ressourcen gesondert sichtbar werden, ist es notwendig, einzelne Bereiche zu fokussieren. Dabei bedarf es eines Rahmens, um einem dysfunktionalen Zerfall des Prozesses vorzubeugen. Nur so können einzelne Aspekte sichtbar, dann verortet und am Ende Teil eines verständlichen Gesamtbildes werden. Das Zusammenfügen der Einzelinformationen wird durch die Orientierung an der Modellstruktur erleichtert und vor allem garantiert, sodass der Entstehung „blinder Flecken“ in der Fallarbeit vorgebeugt wird. Des Weiteren werden Wechselwirkungen, synergetische Effekte und andere Zusammenhänge sichtbar, wodurch einerseits Anschlussstellen für Interventionen gefunden werden können und sich andererseits das Gesamtbild eines Falls in funktionaler Weise ändern kann. Wie das Schaubild zeigt, besteht das Modell aus fünf Bausteinen. Die Anordnung der Bausteine im Schaubild stellt keinen Ablauf oder gar eine Hierarchie dar. Vielmehr handelt es sich um eine abstrakte Verortung der einzelnen Bereiche aus dem Blickwinkel der betroffenen Person. Im Zentrum des Bildes befinden sich das Erleben und Denken sowie das Handeln und Verhalten des Menschen zum aktuellen Zeitpunkt. Das Zentrum ist von einem Kreis umgeben, welcher die sozialen Bezugssysteme und deren Einflüsse auf die Person darstellt. In der horizontalen Mitte bildet sich eine Zeitachse aus Vergangenheit bzw. Biografie und der Zukunft bzw. den Zielen und Wünschen der Person. Beide Bereiche bzw. „Bausteine“ haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Gegenwart und damit die anderen drei Bereiche. Sowohl die Pfeile der Zeitachse als auch das Piktogramm deuten eine Vorwärtsbewegung an. Hierdurch werden die Annahmen von Dynamik und Lösungsorientierung, die der systemisch orientierten Diagnostik zugrunde liegen, symbolisiert. Schaubild 1: Das Diagnostikmodell 429 uj 10 | 2015 Sozialpädagogische Diagnostik Im Folgenden werden die fünf „Bausteine“ nacheinander hinsichtlich ihrer Bedeutung in den Blick genommen. Die „Bausteine“ Ziele und Wünsche Die Frage nach den Wünschen und Zielen der Beteiligten hat in der Regel einen sehr hohen Stellenwert in diagnostischen Prozessen. Buttner (2010, 8) definiert beispielsweise den Bereich der Ziele sogar als das bedeutsamste diagnostische Element, indem er die Diagnostik selbst als Instrument für die Bearbeitung von zuvor gesetzten Zielen definiert. Zu Prozessbeginn formulierte Ziele sind jedoch erfahrungsgemäß häufig abstrakt und lediglich von wenigen Akteuren formuliert. Es macht daher m. E. mehr Sinn, eine Diagnostik als Klärungs- und Erkenntnisprozess zu verstehen. Zielsetzungen dürfen und sollten während des Prozesses entstehen und sich zudem verändern können (Pantucek 2009, 185). Dieses Verständnis schließt die Formulierung von Prozesszielen zu Beginn nicht aus, sondern sorgt vielmehr für eine gewisse Flexibilität und somit für die Auflösung machtvoller und statischer Geltungsansprüche. In Prozessen der Kinder- und Jugendhilfe sollte es - zumal es das achte Sozialgesetzbuch in den §§ 5 und 8 vorschreibt - selbstverständlich sein, den Zielen und Wünschen der jungen Menschen einen besonderen Stellenwert einzuräumen. Die Erfahrung in der Arbeit des Aufnahme- und Clearingzentrums in Remscheid zeigt jedoch, dass es viele Kinder und Jugendliche nicht gewöhnt sind, nach ihren Zielen gefragt zu werden (siehe auch Delfos 2012, 145ff ), und ihnen die Benennung solcher bzw. die Auseinandersetzung hiermit entsprechend schwer fällt. Als funktionales Prinzip hat sich die Unterscheidung von Zielen und Wünschen erwiesen. Ziele können demnach als die absichtsvolle Ausformulierung bzw. als Ausdruck von Wünschen verstanden werden. Im Bereich der Wünsche kann und darf zunächst alles seinen Platz haben, auch wenn es noch so fantastisch oder unwahrscheinlich wirken mag. In einem zweiten Schritt werden dann vor diesem Hintergrund Ziele formuliert, bearbeitet und auch kritisch reflektiert. Entsprechend können die Instrumente zur Erfassung ausgewählt werden (s. u.). Die Beziehungen zwischen jungen Menschen und Fachkräften in der Jugendhilfe bewegen sich in einem ständigen und nicht auflösbaren Spannungsfeld. Die Fachkräfte müssen in jeder Situation jeweils erneut entscheiden, wie sie die Selbstbestimmung der jungen Menschen, ihren Schutzauftrag und die gesellschaftlichen Integrationserwartungen in ihren Entscheidungen jeweils gewichten bzw. diesen Faktoren Rechnung tragen (Urban 2004, 214). Häufig entstehen hierbei Widersprüche, welche reflektiert, diskutiert und ggf. ausgehalten werden müssen. Ein multiperspektivischer Anspruch in der Bearbeitung von Zielen und Wünschen nach systemischem Verständnis ist hierbei ein hilfreicher Rahmen (van Mil in Vorb.). Viele Kinder und Jugendliche empfinden es beispielsweise bereits als große Wertschätzung, dass ihre persönlichen Sichtweisen - und darunter insbesondere ihre Ziele und Wünsche - eingehend und mehrfach erfragt werden und im Abschlussbericht garantiert ihren Platz finden. Auf dieser Basis fällt es ihnen oftmals leichter, sich auch mit anderen, ggf. konträren Sichtweisen konstruktiv auseinanderzusetzen. Biografie Um eine Person, ihre Situation, ihre Sicht auf sich selbst und die Welt und damit auch Einflussfaktoren für ihr individuelles Verhalten und Erleben annähernd verstehen zu können, muss ihre Biografie in den Blick genommen werden (Pantucek 2009, 204). In diesem „Baustein“ der Diagnostik liegt somit ein elementares Erkennt- 430 uj 10 | 2015 Sozialpädagogische Diagnostik nispotenzial für die diagnostische Arbeit in den anderen Bereichen. Die Biografiearbeit verlangt allerdings ein hohes Maß an Sensibilität und Fachlichkeit von den durchführenden Fachkräften (Ryan/ Walker 2007, 11f ). Zum einen geht es um das Verstehen von sehr persönlichen Prozessen, die lange vor Eintritt der Fachkräfte in dieselben begonnen haben (Müller 2009, 100ff ). Des Weiteren lassen besonders traumatische Belastungen bei vielen Kindern und Jugendlichen die Biografiearbeit zu einer großen Herausforderung werden, da hierbei gesonderte Expertisen gefragt sind (Baierl 2014, 21ff ). Die biografischdiagnostische Arbeit muss daher besonders genau geplant und bereits im Vorfeld reflektiert werden. Es ist erfahrungsgemäß beispielsweise sinnvoll, vorhandene Daten vor dem Einstieg in die direkte Arbeit mit dem jungen Menschen zu sichten. Hierdurch bietet sich zumindest in einem gewissen Maße die Möglichkeit, entsprechende Themen bereits im Vorfeld zu kennen und ihre Bearbeitung entweder gut vorzubereiten oder sie gänzlich an entsprechend ausgebildete Fachkräfte abzugeben. Erleben und Denken In diesem Bereich der Diagnostik wird der Fokus in besonderer Weise auf die subjektive Wahrnehmung (Selbstwahrnehmung und Gefühlswelt) der Kinder und Jugendlichen gerichtet. Es soll erfasst werden, in welchen Bereichen der junge Mensch subjektiv Not empfindet, und genauso, in welchen er gegenteilige Erfahrungen macht und somit wertvolle Ressourcen ausgemacht werden können. Neben der subjektiven Qualität der Wahrnehmungen und dem individuellen Umgang mit diesen spielt auch die Erfassung des jeweiligen Kontextes eine wesentliche Rolle. Es hat sich zudem bewährt, die zeitlichen Dimensionen (Vergangenheit und Zukunft) sowie soziale Faktoren (Wahrnehmung anderer Personen) mit zu berücksichtigen (van Mil in Vorb.). Handeln und Verhalten Das Handeln und Verhalten von Kindern und Jugendlichen ist der Bereich ihrer Person, welcher nach außen in besonderer Weise sichtbar wird. Insbesondere „störendes“, „auffälliges“ oder „abweichendes“ Verhalten wird oftmals zuerst fokussiert und beschrieben (z. B. Myschker 2009). In vielen Fällen sind es gerade diese Veränderungen im Verhalten, die als Abweichung von den gesellschaftlichen Konstruktionen des„Normalen“ einen Anlass für sozialpädagogische Hilfen darstellen. Sofern keine organischen Ursachen für auffällige Veränderungen im Verhalten eines jungen Menschen vorliegen, kann jedes Verhalten eines Menschen aus systemischer Perspektive als Ausdruck und Verfolgung eines subjektiven Sinns verstanden werden (Dutzmann 2014, 271). Um diesen Sinn annähernd erfassen zu können, müssen in der Regel auch Erkenntnisse aus der Arbeit zu den anderen „Bausteinen“ herangezogen werden. Der systemische Rahmen gibt des Weiteren das (ethische) Ziel vor, im Rahmen sozialpädagogischer Diagnostik nicht nur institutionelle, sondern auch individuelle Handlungsfähigkeit herzustellen (van Mil in Vorb.). Somit reicht es nicht aus, lediglich „Defizite“ zu erkennen und einen entsprechenden Bedarf darzustellen. Vielmehr muss auch gewinnbringendes Handeln und Verhalten in den Blick genommen und gezielt als Ressource bzw. Anknüpfungspunkt für die weitere Entwicklung funktionaler und/ oder alternativer Handlungs- und Verhaltensweisen genutzt werden (Baumann 2009, 36). Familie und Bezugssysteme In den vier bisher dargestellten „Bausteinen“ liegt der Fokus auf den Kindern und Jugendlichen selbst bzw. auf Bereichen ihrer Person. In diesem „Baustein“ wird der junge Mensch nun primär als Teil seiner sozialen Systeme betrachtet, wodurch eine wichtige Ergänzung der anderen vier Bereiche stattfindet. Dennoch wird 431 uj 10 | 2015 Sozialpädagogische Diagnostik auch hier die Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen an vielen Stellen des Prozesses hoch gewichtet. Die Familie, als in der Regel primäres Bezugssystem von Kindern und Jugendlichen, findet in diesem Bereich der Diagnostik besondere Berücksichtigung. Daneben werden aber auch weitere wichtige Sozialsysteme, wie die Peergroup oder die Schule, in den Blick genommen. Betrachtet werden vor allem Beziehungs-, Kommunikations- und Rollenkonstellationen sowie wiederkehrende Muster. Es soll herausgefunden werden, welche belastenden und förderlichen Merkmale und Funktionen ein soziales System hat. Hierbei spielt auch die jeweilige Lebenslage (Wohnsituation, wirtschaftliche Lage, In-/ Exklusion in gesellschaftliche Funktionssysteme etc.) mit ihren Wirkungen eine bedeutende Rolle. Anwendung des Modells Bei der Anwendung des Modells handelt es sich nicht um einen hierarchisch gegliederten, sondern um einen zirkulären Prozess, in welchem alle Bereiche bzw. „Bausteine“ der Diagnostik miteinander in Wechselwirkung stehen. Die „Bausteine“ werden also nicht nacheinander, sondern gleichzeitig bzw. mit mehrfach wechselnder Gewichtung bearbeitet. Die Wechselwirkungen werden über sogenannte „reflexive Schleifen“ sichtbar gemacht und in einen funktionalen Zusammenhang gebracht. Diese „Schleifen“ sind als obligatorische und regelmäßig wiederkehrende Momente im Prozessverlauf zu verstehen, in welchen von einer Metaperspektive aus die Fallverläufe und bisherigen Erkenntnisse reflektiert werden. In der Praxis sind dies insbesondere regelmäßige Fallbesprechungen, in denen gemeinsam Hypothesen generiert und überprüft werden und das Modell wiederum als Grundlage dient. Durch die Beteiligung mehrerer Fachkräfte wird dabei ein hohes Maß an Multiperspektivität gewährleistet. Die individuelle Gewichtung der einzelnen Bereiche ergibt sich erst im Laufe der Fallarbeit. Maßstab sind dabei die jeweils bis zu diesem Zeitpunkt gewonnenen Erkenntnisse, welche z. B. die Vertiefung der Arbeit zu einem „Baustein“ erforderlich machen. Wie bereits erwähnt, bietet die Modellstruktur die Sicherheit, dass dennoch kein Bereich vernachlässigt wird. Über themenübergreifende und ganzheitlich orientierte Diagnostikinstrumente (insbesondere„Alltags“-Beobachtungen und -Gespräche, Aktensichtung, allgemeine Ressourcendiagnostik) ist es möglich, Hypothesen zu generieren, welche dann in den einzelnen Themenbereichen verortet und mit entsprechend spezifischen Instrumenten und Verfahren differenziert überprüft werden können. Gleichzeitig können in der Arbeit zu einem „Baustein“ Hypothesen für die weitere Arbeit zu diesem und anderen „Bausteinen“ generiert werden. In der direkten Arbeit mit den jungen Menschen hat sich das Modell zudem als hilfreiches Erklärungsinstrument bewährt. So können insbesondere zu Beginn des Prozesses anhand des Schaubilds die relevanten Themenfelder veranschaulicht werden und oftmals eine erste Reduktion von Komplexität in der Selbstbetrachtung stattfinden. Nicht zuletzt wird durch die Betrachtung einzelner Bereiche einer potenziellen Fremd- und Selbststigmatisierung vorgebeugt, da einzelne Bereiche und nicht der „gesamte Mensch“ mit Problemen in Verbindung gebracht werden und gleichzeitig die Betrachtung von Bereichen, die eher von Ressourcen geprägt sind, nicht vernachlässigt, sondern garantiert wird. Es bietet sich des Weiteren an, einen an die Struktur des Modells angepassten Methodenkatalog zu entwickeln (s. u.). Dies hat sich als praktikabel erwiesen und entspricht zudem einer Forderung aus dem wissenschaftlichen Diskurs um die sozialpädagogische Diagnostik. Hier wird eine Kategorisierung der Instrumente und Verfahren für eine Erfordernis der Praxis 432 uj 10 | 2015 Sozialpädagogische Diagnostik gehalten und eine entsprechende Unterteilung nach Gegenstandsbereichen dabei als eine funktionale und legitime Möglichkeit angesehen (Buttner 2010, 8f ). Zuletzt kann die Struktur des Modells auch für die Gliederung der Verlaufs- und Abschlussdokumentation übernommen werden, sodass sich der funktionale Mehrwert des Modells in der praktischen Arbeit ohne großen Aufwand und vor allem ohne inhaltliche Verluste sichern lässt. Das Modell eignet sich für Fallbetrachtungen in sozialpädagogischen Kontexten und hat sich in der Praxis entsprechend insbesondere als Rahmen für sozialpädagogische und beraterische Anwendungen sowie als Grundlage für die Zusammenführung mit psychologisch-diagnostischen Erkenntnissen bewährt. Medizinische Aspekte finden in der Modellstruktur zwar keinen unmittelbaren Platz, müssen aber dennoch mitberücksichtigt werden; es sollte grundsätzlich der Anspruch sein, den Blick auf einen Fall bzw. die Arbeit mit den jungen Menschen biopsycho-sozial auszurichten (Gahleitner 2013, 25). Junge Menschen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe haben in der Regel in den jeweiligen Einrichtungen bzw. Wohngruppen ihren aktuellen Lebensmittelpunkt. Daher sollten die dort tätigen Fachkräfte (auch im Rahmen eines diagnostischen Prozesses) die Aufgabe des Case-Managements und damit der notwendigen interdisziplinären Ausgestaltung der Prozesse übernehmen (van Mil in Vorb.). Instrumente und Verfahren Wie bereits oben erwähnt, gibt es einige diagnostische Instrumente, die einen übergeordneten Stellenwert einnehmen. Diese sind als diagnostische Handlungen zu betrachten, welche einerseits thematisch fast alle „Bausteine“ abdecken und zudem - je nach Anwendungssetting in unterschiedlichem Ausmaß - in jedem Fall zur Anwendung kommen. Daher ist es wichtig, diese Handlungen auch entsprechend als diagnostische Instrumente zu begreifen und sie somit für eine Professionalisierung und Reflexion zugänglich zu machen. Es handelt sich hierbei um die Instrumente: 1) Beobachtung, 2) Gespräch, 3) Sichtung vorhandener Daten sowie 4) Ressourcenanalyse. Zu 1): Etwas zu beobachten, ist zunächst als ein natürlicher und fast unausweichlicher Vorgang zu betrachten. Entsprechende Beobachtungen fließen unweigerlich in die Wirklichkeitskonstruktionen der Fachkräfte ein und bestimmen das Bild auf einen Fall. Es ist daher wichtig, in jedem Fall bewusst und bei Bedarf auch gezielt zu beobachten (z. B. Martin/ Wawrinowski 2006, 27). Gleichzeitig können über Beobachtungen wichtige Bereiche erfasst und entsprechend Hypothesen generiert und Erkenntnisse erlangt werden. Zu 2): Ähnliches gilt für Gespräche. Neben den begleitenden Gesprächen bei explizit diagnostischen Einzelterminen entstehen insbesondere in der stationären Kinder- und Jugendhilfe zahlreiche weitere Gespräche, wie z. B. beim gemeinsamen Mittagessen oder Krisen- und Konfliktgespräche. Zu 3): Die Sichtung vorhandener Daten ist auf der einen Seite notwendig, um Risiken und Anknüpfungspunkte für die eigene Arbeit zu kennen. Gleichzeitig besteht hier das Risiko, den eigenen Blick von vornherein durch fremde Sichtweisen beeinflussen zu lassen. Zu 4): Unter systemischer Perspektive macht es zuletzt Sinn, auch die Ressourcendiagnostik als übergreifendes Instrument zu betrachten. Ressourcen sind eine wesentliche Voraussetzung, um Problemlagen auflösen zu können; sei es als persönliches oder soziales Potenzial, welches von den betroffenen Menschen unmittelbar selbst genutzt wird oder als Anknüpfungspunkt für weitere Hilfen dienen kann (van Mil in Vorb.). Ein an das Modell angepasster Methodenkatalog bietet dann die Möglichkeit, zu einzelnen Bereichen sowie zur fokussierten Hypothesenüberprüfung gezielt bzw. abgestimmt auf den jeweiligen Informationsbedarf zu arbeiten (s. o.). 433 uj 10 | 2015 Sozialpädagogische Diagnostik Die systemische Ausrichtung erfordert dabei ein hohes Maß an Einbeziehung der jungen Menschen, weshalb es das Ziel sein muss, den Katalog mit entsprechend geeigneten Instrumenten und Verfahren zu füllen. Im Aufnahme- und Clearingzentrum in Remscheid wurde ein solcher Katalog entwickelt und wird laufend überarbeitet und erweitert. Es besteht dabei die Herausforderung, jeweils altersgerechte Instrumente und Verfahren zur Verfügung zu stellen, um die Kinder und Jugendlichen angemessen am Prozess beteiligen zu können. Es hat sich hierbei bewährt, den Blick zu erweitern und neben den einschlägigen Diagnostikinstrumenten auch weitere (verwandte) Materialien aus dem sozialpädagogischen Interventionsspektrum mitaufzunehmen und diese ggf. zu modifizieren. Im Folgenden werden beispielhaft einige sozialpädagogische und beraterische Instrumente und Verfahren skizziert, welche in der sozialpädagogisch-diagnostischen Arbeit des Aufnahme- und Clearingzentrums bisher erfolgreich Anwendung gefunden haben. Grundsätzlich wird in jedem Prozess zu jedem „Baustein“ gearbeitet, um „blinde Flecken“ zu vermeiden. Während somit inzwischen einige Instrumente und Verfahren obligatorisch angewendet werden, kommen andere nur bedarfsmäßig zur gezielten Vertiefung einzelner Bereiche zum Einsatz. Gleichzeitig findet insbesondere hinsichtlich der Verbindung mit den psychologischen Anteilen der Diagnostik ein enger interdisziplinärer Austausch zwischen den Fachkräften des Aufnahme- und Clearingzentrums statt. Instrumente und Verfahren: Ziele und Wünsche Aus dem Kontingent der systemisch-lösungsorientierten Instrumente stammt die sogenannte „Wunderfrage“. Diese ist bei der Ermittlung (unbewusster) Wünsche hilfreich. Die jungen Menschen werden zu der Vorstellung aufgefordert, alle Probleme seien wie durch ein Wunder über Nacht verschwunden, sie selbst hätten von dem Wunder allerdings nichts mitbekommen. Die Kinder und Jugendlichen sollen nun - beispielsweise anhand eines Tagesablaufs - beschreiben, woran sie bemerken, dass das Wunder geschehen ist. Dabei sollte nicht die Abwesenheit von Problemen, sondern das Vorhandensein positiver Dinge im Vordergrund stehen (z. B. Durrant 2004, 90ff ). Bei Bedarf können Ziele nun im weiteren Verlauf aus solchen Verfahren zur Erhebung von Wünschen abgeleitet werden. Um klar formulierte bzw. definierte Ziele zu bearbeiten, eignen sich Zielplanungsraster, welche sich in der Fachliteratur in unterschiedlichen Formen finden (z. B. Heiner 2004, 218ff ). Im Aufnahme- und Clearingzentrum wurde ein Vorgehen entwickelt, in welchem sich die jungen Menschen in drei Schritten mit ihren Zielen auseinandersetzen sollen. Im ersten Schritt werden dabei Nah-, Mittel- und Fernziele auf einem Zeitstrahl eingetragen. Danach werden die Ziele hinsichtlich ihrer Bedeutung für die jungen Menschen selbst und für andere Personen sowie nach weiteren Kriterien, wie beispielsweise der Verwirklichungschance oder den Folgen der Zielerreichung, skaliert. Im dritten und letzten Schritt werden die Begleitfaktoren (Ressourcen, Merkmale der Zielerreichung etc.) erhoben. Bedeutsam ist es, grundsätzlich zwischen den persönlichen Zielen der jungen Menschen und denen anderer Personen zu unterscheiden, die Perspektiven nebeneinanderzustellen und gleichermaßen wertzuschätzen. Instrumente und Verfahren: Biografie Um die Biografie der jungen Menschen zu erfassen, werden einerseits vorhandene Daten ausgewertet (s. o.) und zudem obligatorisch eine Anamnese bzw. Entwicklungsanalyse durchgeführt (Harnach 2011, 120f ). Dies geschieht in der Regel auf Basis von Gesprächen mit den Kindeseltern und/ oder anderen Bezugspersonen, die den jungen Menschen im besten Fall seit dessen Geburt durchgehend begleiten. 434 uj 10 | 2015 Sozialpädagogische Diagnostik Um ergänzend hierzu die Perspektive der jungen Menschen zu erkunden, hat sich die Erstellung einer sogenannten „Lebenskette“ als hilfreich erwiesen. Hierbei stellen die Kinder und Jugendlichen sowohl symbolisch (mittels Perlen) als auch explizit (schriftlich auf Kärtchen) die aus ihrer Sicht wichtigen Lebensereignisse dar, sodass am Ende eine Kette entsteht. Die begleitenden Fachkräfte leisten dabei zwar Hilfestellungen, unterlassen es aber, ihrerseits auf Ereignisse hinzuweisen. Am Ende steht somit ein Produkt, welches ausschließlich die Sicht des Kindes darstellt (Lattschar/ Wiemann 2011, 143f ). Hierbei wird besonders deutlich, dass auch das Auslassen einer Information eine Information darstellen kann. Instrumente: Erleben und Denken In diesem „Baustein“ kann beispielsweise auf die systemische Teilearbeit zurückgegriffen werden. Dieser liegen - verkürzt dargestellt - die Annahmen zugrunde, dass Menschen in sich verschiedene Persönlichkeitsanteile versammeln, welche unterschiedlich stark ausgeprägt sind, verschiedene Funktionen haben sowie jeweils in bestimmten Kontexten aktiv sind und dann das Erleben und Verhalten einer Person bestimmen. Es besteht dabei die Möglichkeit, das „Selbst“ als steuernde Instanz zu stärken und mit den einzelnen Teilen bewusst in Kontakt zu treten. In diesem Rahmen werden die verschiedenen Teile identifiziert und mittels Bildkarten und Aussprüchen externalisiert. Im Folgenden können mit den Teilen beispielsweise Aufstellungen gemacht und so Problem- und Lösungsbilder dargestellt werden. Hierbei werden besonders häufig verborgende Ressourcen sichtbar (z. B. Holmes 2013). Des Weiteren bietet sich die Arbeit mit sogenannten „Gefühlskarten“ an; hierbei handelt es sich um Bildkarten, auf denen Figuren oder Menschen abgebildet sind, die jeweils ein Gefühl ausdrücken (z. B. Pflug 2012). Im Aufnahme- und Clearingzentrum wurde hierzu ein Verfahren entwickelt, in welchem die jungen Menschen sich unterschiedliche Karten aussuchen und auf dieser Basis anhand von Leitfragen ein Gespräch über die einzelnen Gefühle initiiert wird. So können Informationen darüber gewonnen werden, wie die Kinder und Jugendlichen Gefühlsausdrücke wahrnehmen, wie sie selbst Gefühle ausdrücken, in welchen Situationen sie sich wie fühlen, wie sie über ihr Empfinden kommunizieren und nicht zuletzt, wo es Ausnahmen von belastenden Situationen und damit Anknüpfungspunkte für lösungsorientierte Verfahren gibt. Zudem können die Karten zur Nachbereitung von krisenhaften Situationen genutzt werden, um die Kommunikation hierüber zu erleichtern. Zur Erfassung der Selbstwahrnehmung kann mit den jungen Menschen ein Selbstportrait, beispielsweise in Form eines sogenannten „Ich-Plakats“, erstellt werden. Hierbei werden verschiedene selbstbildbezogene Themenvorschläge gegeben (z. B.: „Ich bin…, ich kann…, andere sagen über mich…, ich mag…, ich will…“), welche dann - gerne auch kreativ - von den Kindern und Jugendlichen ausgefüllt werden. Instrumente: Handeln und Verhalten Für den Bereich des Handelns und Verhaltens liegen zahlreiche Instrumente vor. Zwar stammen diese meist aus Trainingsprogrammen und haben damit eher interventiven Charakter, anhand des „Fit for life“-Trainings nach Jugert et al. (2011) zeigt sich aber z. B., dass sich das entsprechende Instrumentarium auch für die diagnostische Arbeit nutzen lässt. Das genannte Training ist wiederum nach verschiedenen Bereichen des Handelns und Verhaltens unterteilt (z. B. Konfliktverhalten, Kommunikation, Körpersprache, Selbstmanagement), sodass hier die Auswahl der Instrumente nochmals differenzierter erfolgen kann. Zum Thema Selbstsicherheit wird beispielsweise ein Verfahren angeboten, in welchem die jungen Menschen ihr eigenes Verhalten in vorgegebenen 435 uj 10 | 2015 Sozialpädagogische Diagnostik Beispielsituationen einschätzen sollen. Im Bereich von Konfliktsituationen wird des Weiteren eine Übung vorgelegt, in welcher die Kinder und Jugendlichen einschätzen sollen, ob es sich bei bestimmten Situationen um einen Konflikt handelt oder nicht. Des Weiteren bietet die „plananalytisch orientierte Kinderdiagnostik“ nach Klemenz (1999) wertvolle Impulse für die Arbeit zu diesem „Baustein“. Diesem Konzept liegt die systemisch orientierte Annahme zugrunde, dass jeder Mensch subjektive Theorien über seine Umwelt bildet und sein Verhalten entsprechend ausrichtet. Probleme im Verhalten resultieren entsprechend aus unzulänglichen oder nicht mehr aktuellen Theorien, welche die individuelle Handlungsfähigkeit einschränken. Diese Diskrepanzen gilt es zu erkunden bzw. sollte erkannt werden, welcher Sinn/ welche subjektive Theorie hinter bestimmten Verhaltensweisen steht. In Fallbesprechungen hat es sich entsprechend als funktional erwiesen, Hypothesen über die Hypothesen der jungen Menschen zu formulieren. Daneben stellt einerseits die (Verhaltens-)Beobachtung ein wesentliches Instrument dar, zudem kann oftmals auf Erkenntnisse aus dem Bereich „Erleben und Denken“ zurückgegriffen werden. An diesen Schnittstellen werden die wechselseitigen Verbindungen zwischen den „Bausteinen“ und damit auch den einzelnen Instrumenten und Verfahren sichtbar. Instrumente: Familie und Bezugssysteme In diesem „Baustein“ kann verstärkt auf Instrumente und Verfahren der systemischen Praxis zurückgegriffen werden. So können mittels des sogenannten „Familienbretts“ symbolisch die Beziehungen zwischen den Mitgliedern eines sozialen Systems verbildlicht werden. Hierzu werden Holzfiguren anhand der Dimensionen Nähe/ Distanz und Zu-/ Abwendung aufgestellt und dienen als Gesprächsgrundlage. Das entstandene Bild ist dabei nicht statisch, vielmehr können zeitliche Unterschiede deutlich gemacht und auch neue Konstellationen ausprobiert werden (z. B. Schwing/ Fryszer 2012, 200ff ). Ein sehr bekanntes Instrument ist zudem das Genogramm. Hierbei können, je nach Anwendungsart sehr umfassend, Individuen in ihrer sozialen Umwelt dargestellt werden. Auf der vertikalen Ebene der Darstellung werden dabei die unterschiedlichen Generationen, auf der horizontalen Ebene die Beziehungen der Personen zueinander dargestellt. Hierdurch erhält man ein verhältnismäßig vollständiges Bild über ein Familiensystem, über welches wiederkehrende Muster, Traditionen und Strukturen sichtbar werden können. Ergänzend zu einem Genogramm kann eine Netzwerkanalyse angefertigt werden. In einem Schaubild werden weitere Akteure (FreundInnen, Institutionen, Helfersysteme etc.) notiert und z. B. über die Dimension Nähe/ Distanz zu dem jungen Menschen in Beziehung gesetzt. Genogramm und Netzwerkanalyse helfen dabei, einen Überblick über den Ort des jungen Menschen in seiner sozialen Welt zu erhalten und hierbei Ressourcen und Belastungsmomente ausmachen zu können (z. B. Beushausen 2012). Besonders gut lässt sich die Qualität von Einzelbeziehungen zudem über die Erstellung von Steckbriefen einschätzen. Die jungen Menschen erstellen solche für Bezugspersonen und beantworten beispielsweise Fragen nach dem schönsten/ traurigsten Erlebnis mit dieser Person. Des Weiteren können im Rahmen dieses Verfahrens zirkuläre Fragen (Vermutungen über die Sichtweisen anderer Personen) aufschlussreiche Perspektivwechsel anregen. Im Rahmen interdisziplinärer Zusammenarbeit können in diesem „Baustein“ auch Teile des „Multiaxialen Diagnosesystems Jugendhilfe (MAD-J)“ nach Jacob und Wahlen (2006) angewandt werden. Dieses Klassifikationssystem umfasst neben psychologischen und klinischen Aspekten auch eine Achse zur Erziehung und 436 uj 10 | 2015 Sozialpädagogische Diagnostik deren Bedingungen sowie eine Achse zu (psycho-)sozialen Stressoren und Belastungen. Da die jungen Menschen hierbei allerdings kaum beteiligt werden, sollte dieses Instrument nur ergänzend zur Anwendung kommen. Fazit Das hier beschriebene Modell ist einfach und in seiner Struktur ohne Zweifel leicht zu verstehen. In der Praxis des Aufnahme- und Clearingzentrums hat es sich vielleicht gerade deshalb seit seiner Einführung als äußerst funktionale Grundlage für alle Ebenen eines diagnostischen Prozesses erwiesen. Die einfache Struktur darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der sozialpädagogischen bzw. psychosozialen Diagnostik um ein hochanspruchsvolles Arbeitsfeld handelt. Ein Modell, wie es hier skizziert wurde, kann dabei nur eine praxisbezogene Arbeitshilfe darstellen. Das Modell allein bietet weder eine wissenschaftliche Basis noch Antworten auf Fragen und Herausforderungen der Praxis. An zahlreichen Stellen wurde deutlich, dass die diagnostische Arbeit im Aufnahme- und Clearingzentrum auf einer systemischen Grundlage basiert. Gleichzeitig findet eine ständige Auseinandersetzung mit anderen wissenschaftlichen Konzepten statt. Des Weiteren lässt das Modell beispielsweise offen, wie damit umgegangen werden kann, dass Diagnosen einerseits Bedarfe so darstellen müssen, dass diese an die Systeme der Hilfeinstitutionen anschlussfähig sind und gleichzeitig die Subjektivität und Individualität eines Falls bewahren. Auch das Spannungsfeld zwischen institutionellen Machtgefällen und dem ethischen Anspruch, auf einer solchen Basis keine Diagnostik durchzuführen, lässt sich durch das Modell allein nicht auflösen. Zur Beantwortung dieser und weiterer Fragestellungen bedarf es einer breiten theoretisch-konzeptionellen Diskussion bzw. Grundlagenarbeit (van Mil in Vorb.), auf deren Basis das Modell der „Bausteine“ dann eine tatsächlich einfache, aber sehr funktionale Arbeitshilfe darstellen kann. Heiner van Mil EJBL Aufnahme- und Clearingzentrum Waldhofstraße 10 42857 Remscheid heiner.van_mil@ejbl.de Literatur Baierl, M. (2014): Mit Verständnis statt Missverständnis. Traumatisierung und Traumafolgen. In: Baierl, M., Frey, K. (Hrsg.): Praxishandbuch Traumapädagogik. Lebensfreude, Sicherheit und Geborgenheit für Kinder und Jugendliche. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 21 - 46 Beushausen, J. (2012): Genogramm- und Netzwerkanalyse. Die Visualisierung familiärer und sozialer Strukturen. 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