eJournals unsere jugend 67/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art73d
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2015
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„Vorwärts - Rückwärts - Seitwärts - Ran!“

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2015
Eva Schone
Reinhold Schone
Der hier vorgelegte Beitrag beschäftigt sich kritisch mit der Situation der Jugendhilfe 25 Jahre nach Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes mit seinem ausdrücklichen durch die Einordnung in das Sozialgesetzbuch (SGB VIII) manifestierten (Dienst-) Leistungscharakter. Dieser Blick wird von zwei AutorInnen vorgenommen, die unterschiedlichen Generationen angehören und in internen Diskussionen oft verblüffende Übereinstimmungen zwischen „gestern“ und „heute“ feststellen müssen.
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477 unsere jugend, 67. Jg., S. 477 - 487 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art73d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Eva Schone Jg.1984; B. A. Soziologie, M. A. Erziehungswissenschaft, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kompetenzzentrum Soziale Dienste (kom.sd) Bielefeld „Vorwärts - Rückwärts - Seitwärts - Ran! “ Gedanken zum „Fortschritt“ der Jugendhilfe im neuen Jahrhundert Der hier vorgelegte Beitrag beschäftigt sich kritisch mit der Situation der Jugendhilfe 25 Jahre nach Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes mit seinem ausdrücklichen durch die Einordnung in das Sozialgesetzbuch (SGB VIII) manifestierten (Dienst-) Leistungscharakter. Dieser Blick wird von zwei AutorInnen vorgenommen, die unterschiedlichen Generationen angehören und in internen Diskussionen oft verblüffende Übereinstimmungen zwischen „gestern“ und „heute“ feststellen müssen. Solche Diskussionen führen nicht selten zu der Frage, welche Fortschritte die Jugendhilfe in der Zwischenzeit gemacht hat und wie diese Fortschritte zu bewerten sind, die es im Zeitverlauf dieses Generationsabstandes gegeben hat. Dieser Beitrag will Fragen aufwerfen, zu denen man sich positionieren und verhalten sollte, will man heute und in Zukunft im Bereich der Jugendhilfe tätig sein. Dabei konzentriert sich dieser Beitrag auf den Bereich der Familienförderung und den der Hilfen zur Erziehung und weniger auf die Jugendarbeit oder die Förderung in Tageseinrichtungen für Kinder - wiewohl auch dort die Fortschritts-Frage nicht so glatt und eindeutig zu beantworten wäre. Von der Ordnungstätigkeit zur Dienstleistung? Als das Kinder- und Jugendhilfegesetz 1990/ 91 nach über 20-jähriger Vorlaufdiskussion das alte Jugendwohlfahrtsgesetz ablöste, wurde dies von nicht wenigen als „Paradigmenwechsel in der Jugendhilfe“ (von der Ordnungstätigkeit zur Dienstleistung bzw. vom Eingriffszum Leistungsgesetz) charakterisiert. Fördernde und präventive Leistungsangebote traten in den Vordergrund; ordnungsrechtliche Eingriffe sollten nachrangig und auf das notwendigste Maß Prof. Dr. Reinhold Schone Jg. 1953; Diplom-Pädagoge, Fachhochschule Münster, Professor für Organisation und Management in der Sozialen Arbeit 478 uj 11+12 | 2015 Fortschritt der Kinder- und Jugendhilfe beschränkt werden. Jugendhilfe wollte nicht mehr nur Problemlagen von sozioökonomisch schlechter gestellten Randgruppen bearbeiten, sondern sich als Partner für alle Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern profilieren. Das SGB VIII galt als Gesetz gewordener Ausdruck der Umsetzung der im 8. Jugendbericht ausformulierten Maxime einer offensiven und lebensweltorientierten Jugendhilfe. Als Symbol dafür stand und steht auch heute noch der oft als Einmischungsauftrag charakterisierte § 1 Abs. 3 Punkt 4 SGB VIII: „Jugendhilfe soll (…) dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.“ Diese Einschätzung ist heute einer deutlichen Ernüchterung gewichen. Während in den 1990er Jahren die Kinder- und Jugendhilfe noch als eine Instanz gesehen wurde, die eine Eingriffszugunsten einer Dienstleistungsorientierung zu überwinden sucht und die statt einer gesellschaftlichen Normierungsfunktion den Auftrag einer subjektorientierten Unterstützung der Menschen bei ihrer Alltagsbewältigung verfolgt, ist die Debatte um Kontrolle, Zwang und Disziplinierung heute wieder stärker in den Vordergrund gerückt. Indikatoren, die diese Aussage unterstützen können: Die Zahl der wegen Gefährdung (nicht auf eigenen Wunsch und nicht als unbegleiteter Flüchtling) in Obhut (§ 42 SGB VIII) genommenen jungen Menschen stieg in der Zeit von 2005 bis 2013 um 76,2 % (von 17.758 auf 31.300). Die Zahl der Sorgerechtseingriffe wegen einer Gefährdung des Kindeswohls (§§ 8 a SGB VIII und 1666 BGB) durch vollständigen oder teilweisen Entzug elterlicher Sorgerechte und deren Übertragung auf (zumeist) Amtsvormünder/ -pflegerInnen stieg in der Zeit von 2000 bis 2011 um 69,5 % (von 7.505 auf 12.723, Statistisches Bundesamt 2014 a; 2014 b). Auch die wachsende Zahl der im Rahmen der Heimerziehung geschlossen untergebrachten Kinder und Jugendlichen (s. u.) (DJI 2013) passt in dieses Bild. Allein diese Entwicklungen machen deutlich, dass sich die Handlungsdoktrin der Jugendhilfe in diesem Bereich deutlich verändert hat und verstärkt auf hoheitliche Eingriffe gesetzt wird. Die zum Start des Kinder- und Jugendhilfegesetzes noch offensive und optimistische Grundhaltung gerät heute immer mehr in die Defensive. Lässt sich mit Blick auf Jugendarbeit, Kindertagesbetreuung und präventive Beratungsangebote der Dienstleistungsgedanke noch aufrecht erhalten, scheinen sich in den aufsuchenden Arbeitsbereichen, in denen weiterhin die sozioökonomisch schlechter gestellten AdressatInnen zu finden sind, ordnungsrechtliche Eingriffe zu häufen. Insbesondere unter der Formel des Kinderschutzes, aber auch bei der Beantwortung der Frage, was mit „nicht systemkonformen Kindern und Jugendlichen“ zu machen ist, lassen sich Entwicklungen beobachten und beschreiben, die zunehmend für Unbehagen sorgen und die Fragen zum Fortschritt der Jugendhilfe aufwerfen. Dieses Unbehagen soll im Folgenden an drei expandierenden bzw. im Fokus stehenden Praxisfeldern der Jugendhilfe exemplifiziert werde: Frühe Hilfen - Prävention als frühe Intervention Durch die aktuelle Diskussion um den Kinderschutz befinden sich Säuglinge und Kleinkinder ganz besonders im Fokus der Jugend- und Gesundheitshilfe. Unter der Überschrift „Frühe Hilfen“ sammelt sich seit Mitte des letzten Jahrzehnts ein interdisziplinär ausgerichtetes Konglomerat an unterschiedlichsten Aktivitäten, dessen weitgespannte Aufgabe es ist, „zwischen frühzeitiger, niedrigschwelliger Informierung und Unterstützung aller Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern auf der einen Seite und der Realisierung eines frühen Schutzauftrages des staatlichen Wächteramtes für ,Risikogruppen‘ auf der anderen Seite“ (BMFSFJ 2013, 300) zu fungieren. An dem diesem Ziel zugrunde liegenden Präventionsgedanken lässt sich zunächst wenig aussetzen, stellt er doch eine 479 uj 11+12 | 2015 Fortschritt der Kinder- und Jugendhilfe der Maximen der„Lebensweltorientierung“ dar. Mit Blick auf den oben zitierten § 1 Abs. 3 lassen sich aber Brüche zwischen der Präventionslogik des SGB VIII und den Frühen Hilfen erahnen. Der Verweis auf „positive Lebensbedingungen“ und eine „familienfreundliche Umwelt“ lässt an Präventionskonzepte denken, die an strukturellen und sozialen Gegebenheiten, also an gesellschaftlichen Verhältnissen ansetzen. Die Angebote Früher Hilfen stehen aber fast durchweg unter einer Präventionslogik, die auf Personen, also auf das Verhalten von Menschen, ausgerichtet ist. Nicht zufällig hält sich das System der materiellen Sicherung (SGB II) im Kontext der Frühen Hilfen sehr zurück bzw. wird vom Gesetzgeber auch nicht ernsthaft aufgefordert, hier substanzielle Beiträge zu leisten. Diese eher verhaltensbezogene Form der Prävention bringt insbesondere unter dem Blickwinkel der „Realisierung eines frühen Schutzauftrages“ (kritisch hierzu z. B. Schone 2014) sichtbar veränderte Interventionsstrukturen hinsichtlich der Durchführung von Inobhutnahmen und dem Entzug elterlicher Sorgerechte hervor: Bei den Inobhutnahmen wegen einer Kindeswohlgefährdung weist in der Zeit von 2005 bis 2013 die Altersgruppe der unter dreijährigen Kinder mit einer Steigerungsrate von 118,9 % (von 1.785 auf 3.907) die höchste Steigerungsquote aller Altersgruppen auf (Durchschnittliche Steigerung: 62 %, Statistisches Bundesamt 2014 a, 40; eigene Berechnungen). Bei den Sorgerechtseingriffen sind Säuglinge und Kleinkinder deutlich überrepräsentiert: 12.156 (43 %) von insgesamt 28.298 Sorgerechtseingriffen betreffen Kinder unter sechs Jahren (hierzu liegen keine gesonderten Zahlen für unter Dreijährige vor; Statistisches Bundesamt 2014 b, 11; eigene Berechnungen). Diese Zahlen belegen ein überproportional ansteigendes Aktivitätsniveau bezogen auf Säuglinge und Kleinkinder im Kontext des intervenierenden Kinderschutzes im letzten Jahrzehnt. Deutlich wird, dass es - so man nicht von einer plötzlichen massiven Verschlechterung von Lebenslagen von Familien als Ursache für diese Interventionen ausgehen will - eine Verschiebung der Grenzen gibt, die für kleinere Kinder als Kindeswohlgefährdung markiert werden. Diese Verschiebung der Grenzen (zu früheren und vermehrten Eingriffen) mag man nun als Gewinn des Kinderschutzes definieren, weil Kinder früher aus Gefahrensituationen „gerettet“ werden; man kann sie aber auch als Zeichen dafür sehen, dass Fachkräfte der Jugendhilfe Eingriffsschwellen vorverlagern und angesichts der dominierenden Diskussionen im Kinderschutz lieber zu früh als zu spät tätig werden, um sich nicht dem möglichen Vorwurf des mangelnden Kinderschutzes auszusetzen. Eine weitere These wäre, dass die Daten über den Anstieg der Eingriffe in das Sorgerecht von Eltern ein Zeichen dafür sind, dass der massive Ausbau von Frühen Hilfen - der durch seine präventive Orientierung ja gerade zur Vermeidung von Kindeswohlgefährdungen beitragen sollte - vielleicht geradezu vermehrte Eingriffe durch eine Verfeinerung des Kontrollblicks auf Familien erst hervorbringt. Ein Umstand, der nicht verwunderlich ist, denn da, wo Viele viel hinschauen, findet man auch viel. Insofern kann dieser Art der Prävention mit Blick auf die genannten Zahlen durchaus auch als eine Vorverlagerung des kontrollierenden Blickes des Wächteramtes interpretiert werden. Damit wächst die Dringlichkeit, dass die Mahnung, die Merchel schon vor einigen Jahren ausgesprochen hat, Eingang in die Diskussion um die Zukunft der Frühen Hilfen findet: „Die Frage, wann und in welcher Weise der private Lebensraum eines Kindes und einer Familie vom Staat beobachtet, bewertet und zum Gegenstand einer Intervention gemacht werden kann und soll, berührt die grundlegende Frage des Verhältnisses von Öffentlichkeit und 480 uj 11+12 | 2015 Fortschritt der Kinder- und Jugendhilfe Privatheit, von gesellschaftlicher Kontrolle und individueller Freiheit, von eigenständigem Elternrecht auf Erziehung und Gewährleistung des Kindeswohls. Wie diese Frage in der Gesellschaft diskutiert wird, hat Auswirkungen für das Selbstverständnis und für die Handlungsmöglichkeiten der Jugendhilfe“ (Merchel 2008, 12). Schutzkonzepte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe - Rückfall in eine autoritäre Jugendhilfe? Wenn Eltern die Erziehung ihrer Kinder allein nicht angemessen bewältigen können und eine dem Wohl der Kinder entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist, hat das Jugendamt die Pflicht, sie im Rahmen der Hilfe zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) zu unterstützen. Wenn das Wohl von Kindern gefährdet ist, ist es die Aufgabe des Jugendamtes, das Kind vor dieser Gefährdung zu schützen (§ 8 a SGB VIII). Diese Aufträge sollen im Folgenden am Beispiel der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) betrachtet werden. Für Familien, in denen eine Intervention unumgänglich ist, avancierte die SPFH spätestens seit der Einführung des SGB VIII zu einem gängigen, weil lebensweltorientierten Hilfeansatz. Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagsproblemen in der Familie, der Erziehung aber auch im Umgang mit Ämtern, bei der Lösung von Krisen unter Beachtung des Prinzips der Parteilichkeit mit der Familie sind einige häufig genannte Merkmale dieser Hilfeform. Auch wenn die SPFH in Anlehnung an Habermas (1981) als „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Karsten/ Otto 1987 a; Peters 1990) nicht unkritisiert blieb, war man sich doch im Großen und Ganzen einig, dass sie im Vergleich zur Heimerziehung durch ihren Lebensweltbezug für viele Kinder die adäquatere erzieherische Hilfe sei. Im 8. Jugendbericht wird die Rolle der Fachkraft der SPFH als „Freundin, Mithausfrau, Bezugsperson, Vorbild, Beraterin (…) [und als] erweiterter Teil des Familiensystems“ (BMJFFG 1990, 139) beschrieben. 23 Jahre später hat sich das Aufgabenprofil der Fachkräfte in der SPFH aber deutlich verschoben. Die VerfasserInnen des 14. Kinder- und Jugendberichts konstatieren, dass die SPFH mittlerweile „ganz selbstverständlich für ‚Kontrollaufträge‘ in sogenannten Kinderschutzfällen eingesetzt [wird]“ und „der bedeutsamer gewordene Kinderschutz [nirgendwo] offensichtlicher [ist], der mit einer verstärkten Kontrolle der privaten Erziehungs- und Versorgungstätigkeiten“ (BMFSFJ 2013, 336) einher geht. Dieser ernüchternde Schwenk in der Programmatik der SPFH geht darauf zurück, dass immer mehr Jugendämter im Kontext der nunmehr schon seit zehn Jahren andauernden Diskussionen zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung dazu übergehen, Hilfepläne im Rahmen der Hilfen zur Erziehung mit sog. Schutz- und Kontrollkonzepten zum Kinderschutz zu versehen (Lüttringhaus/ Streich 2010; Rotering 2008). Schutzkonzepte stellen im Rahmen einer Hilfe zur Erziehung (und auch im Falle, dass eine solche Hilfe nicht zustande kommt) eine konkrete Anforderung an die Personensorgeberechtigten dar, um ihre Kinder vor Gefahren für ihr Wohl (im Sinne des § 8 a SGB VIII und des § 1666 BGB) zu schützen. Diese Möglichkeit ist indes weder gesetzlich explizit vorgesehen, noch gibt es einen nennenswerten fachlichen Diskurs über die Legitimation, Geeignetheit, Tragfähigkeit etc. solcher Schutzkonzepte und über deren Auswirkungen auf die Erziehungshilfen und das Selbstverständnis ihrer Träger. Aber auch ohne eine solche begleitende fachliche Diskussion hat sich die Installation von Schutzkonzepten in nahezu allen Jugendämtern nach je eigenen Konzepten durchgesetzt. Erstmalig intensiver haben sich Lenkenhoff u. a. (2013) im Rahmen einer qualitativen Studie speziell mit dem Thema „Schutzkonzepte“ aus- 481 uj 11+12 | 2015 Fortschritt der Kinder- und Jugendhilfe einandergesetzt. In der Studie wurden 15 Eltern sowie die für sie zuständigen ASD-Fachkräfte und die für sie zuständigen SPFH-Fachkräfte zu den in diesen Fällen realisierten Schutzkonzepten befragt. Die von Lenkenhoff u. a. vorgefundenen Schutzkonzepte richteten sich hier indes häufig nicht auf die Abwehr einer akuten Kindeswohlgefährdung, sondern oft eher auf die Abwendung von latenten Bedrohungen für das Wohl der Kinder. Das beinhaltete, dass Gefährdungen oft nicht (genau) benannt werden konnten, und sich somit die Schutzkonzepte auch nicht auf die Abwendung von konkreten Gefährdungssituationen, sondern zumeist auf potenzielle Gefährdungsrisiken (z. B. Absicherung von Steckdosen in der Wohnung von Krabbelkindern) bezogen. Aufgrund dieser Unschärfe variierten auch die Schutzkonzepte sehr stark. Sie reichten von der klaren Formulierung von präzisen Auflagen zur Sicherstellung als gefährdet angesehener konkreter basaler Versorgungsleistungen von Kindern bis hin zur eher allgemeinen Formulierung (mehr oder weniger) verbindlicher Erwartungen an das Verhalten der Eltern. Bei der Realisierung von Schutzkonzepten müssen die betroffenen Eltern den Fachkräften (des Jugendamtes und der freien Träger) das Recht einräumen, ihr Verhalten zu kontrollieren. Zentrale Kontrollmodalitäten bestehen z. B. in (unangemeldeten) Hausbesuchen und in der Aufforderung an die Eltern, behandelnde ÄrztInnen (z. B. im Kontext einer Drogenbehandlung) oder andere Fachkräfte (TherapeutInnen) von der Schweigepflicht zu entbinden oder gar darin, regelmäßige Drogenscreenings durch die Fachkräfte selbst zuzulassen. Diese Aufladung des leistungsrechtlichen Dreiecks mit ordnungsrechtlichen Aufgaben stellt auch jugendhilferechtlich eine große Herausforderung dar. Die Fachkräfte der freien Träger indes scheinen wenig Probleme damit zu haben, solche Schutzkonzepte mit den ihnen zugehörigen Kontrollaufträgen zu übernehmen (Schone 2012; Lenkenhoff u. a. 2013). Aufträge dieser Art gehören nicht selten zur Selbstverständlichkeit ihrer Arbeit, in die neue KollegInnen ohne größere Diskussion einsozialisiert werden. Die Kommentierung dieser Befunde möchte man am liebsten Karsten/ Otto überlassen, die schon vor fast 30 Jahren schrieben: „Unter der fortschrittlich eingefärbten Fahne der Hilfe zur Selbsthilfe dokumentiert sich ein Widerspruch zwischen Privatheit und Öffentlichkeit und verschiebt Grenzen des Eingriffs, der dann unabhängig vom Prinzip der Freiwilligkeit oft die früheren Ergebnisse einer Zwangsfürsorge fortschreibt. Die sozialpädagogische Familienhilfe wird dann ein äußerst bewegliches Kontrollinstrument staatlicher und sozialer Normalisierung, das tief in die Privatsphäre hineinreicht” (Karsten/ Otto 1978b, 476). Friedhelm Peters kommentiert die Entwicklung aktuell mit der provokanten Titelfrage: „Erleben wir wirklich ein neues Kontrollmuster oder kommt die SPFH zu sich selbst? “ (Peters 2012, 29) Zusammenfassend lässt sich hier eine Entwicklung feststellen, in der die Idee der Erziehungshilfe als Dienstleistung immer weiter in die Defensive gerät zugunsten einer Erziehungshilfe, die sich vorrangig als Kinderschutz definiert. Ausgesprochen bedenklich wird dies, wenn der - zwangsläufig - autoritäre Charakter von Schutzkonzepten auch in Bereiche vordringt, wo es nicht um die Abwehr von Kindeswohlgefährdung geht, sondern um eher allgemeine Erwartungen an die Eltern bezüglich ihrer Erziehungsleistungen. Das Projekt von Lenkenhoff u. a. (2013) zeigt, dass diese Grenzen im Alltag längst verschwimmen. Auch wenn es keine gesetzlichen Veränderungen im § 31 SGB VIII gab, scheint die Idee einer ganzheitlich und lebensweltorientierten parteilichen Hilfe zunehmend durch die Zielvorgabe der Kontrolle des elterlichen Erziehungsverhaltens verdrängt zu werden. 482 uj 11+12 | 2015 Fortschritt der Kinder- und Jugendhilfe Geschlossene Unterbringung in alten und neuen Gewändern Neben der SPFH wird hier ein weiterer Bereich der Hilfen zur Erziehung betrachtet der - nach Ansicht des Autors/ der Autorin - längst überwunden hätte sein müssen, denn streng genommen dürfte dieser Abschnitt mit Blick auf das Thema 25 Jahre SGB VIII gar keinen Platz in diesem Beitrag einnehmen. Die Geschlossene Unterbringung (GU) und freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM oder FM) wurden und werden als erzieherisches Mittel an keiner Stelle im SGB VIII erwähnt. Man kann sogar noch weitergehen und unterstellen, dass solche erzieherischen Formen dem Grundgedanken des SGB VIII zuwiderlaufen. Die VerfasserInnen des 8. Jugendberichts konstatieren dann auch seinerzeit, dass geschlossene Unterbringung vor allem dem öffentlichen Bedürfnis nach Sicherheit und von der Pädagogik ausgehenden Bedürfnis nach gesichertem Zugriff entspräche. Als Setting in der Heimerziehung, als Maßnahme der Jugendhilfe sei sie nicht gerechtfertigt (BJFFG 1990, 152). Nichtsdestotrotz gibt es sie. Namen wie die „Hasenburg“ in Brandenburg oder der„Friesenhof“ in Schleswig-Holstein schaffen es sogar mit schier unglaublichen Skandalen bis in die öffentliche Diskussion. Im Namen der Jugendhilfe wurden hier im Zuge von z. T. illegalen Zwangsmaßnahmen gegen Kinder und Jugendliche, mit denen Jugendhilfe überfordert ist, Kinderrechte und damit der Rechtstaat selbst mit Füßen getreten. Mit dem Begriff GU verbinden viele noch Einrichtungen, die an die Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre in der BRD erinnern und die mit dem Begriff der „totalen Institution“ betitelt werden können (was sicher auf die beiden genannten Einrichtungen auch heute noch zutrifft). Mit der gesamten Jugendhilfelandschaft haben sich aber auch Formen der GU gewandelt. Vollständig geschlossene Einrichtungen sind heute tatsächlich immer weniger zu finden. Vielmehr ist die Rede von offenen Einrichtungen mit „temporärem“ oder „individuellem“ Freiheitsentzug. Diese Begriffsbestimmungen führen aber in eine unübersichtliche Grauzone. In den letzten Jahren wird sogar der § 8 a SGB VIII als Begründung für Unterbringungen dieser Art herangezogen, da die Teilgeschlossenheit Selbst- und Fremdgefährdung verhindere und Schutz und Halt biete, diene sie dem Schutz des Kindeswohls (Permien 2012, 328). Sank die Anzahl der eingerichteten Plätze von 1990 mit 400 Plätzen bis 1996 auf ca. 122 (vgl. IGfH 2013, 9) scheint der Wind sich ab Anfang des neuen Jahrtausends gedreht zu haben. Schon der 11. Kinder- und Jugendbericht begrüßte diese Neuentwicklung und stellt fest, dass die Probleme von Jugendlichen nicht gelöst werden könnten, indem man sie zum „Opfer der Verhältnisse“ mache. Daher wird erstmals seit der Einführung des SGB VIII in einem Bericht die zeitweilige pädagogische Betreuung in einer geschlossenen Gruppe als eine dem jeweiligen Fall angemessene Intervention eingestuft (BMFSFJ 2002, 239f ). Die VerfasserInnen des aktuellen Berichtes (2013) loben diesen Vorstoß ausdrücklich und heben hervor, dass sich die fachliche Debatte um geschlossene Unterbringung bzw. freiheitsentziehende Maßnahmen in Heimen seit der differenzierten Haltung des Elften Kinder- und Jugendberichts versachlicht habe (BMFSFJ 2013, 350). Laut DJI haben sich vor diesem Hintergrund die Platzzahlen bis zum Jahr 2013 wieder mindestens verdreifacht auf ca. 390 Plätze (DJI 2013). Das Statistische Bundesamt legt Zahlen vor, nach denen 1.049 Kinder und Jugendliche im Jahr 2011 von FEM betroffen waren (IGfH 2013, 9). Individueller und temporärer Freiheitsentzug, sowie der schwammige Gebrauch von Rechtsbegriffen machen es allerdings äußerst schwierig, genaue quantitative Aussagen zu treffen. Betrachtet man aber nicht nur freiheitsentziehenden, sondern auch die (kurzfristig) 483 uj 11+12 | 2015 Fortschritt der Kinder- und Jugendhilfe freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, dürften die oben genannten Platzzahlen zur GU nur die Spitze des Eisberges sein (IGfH 2013, 13). Bei der Evaluation eines Kriseninterventionszentrums mit Freiheitsentziehenden Maßnahmen kommen Menk u. a. aber auch heute wieder zu dem für die Jugendhilfe ernüchternden Ergebnis, dass Anlass und Auslöser für die Maßnahmen eher die Krisen des Jugendhilfesystems sind als die individuellen Belastungen der Jugendlichen (Menk u. a. 2013, 278). Damit entspricht die heutige Analyse genau der von vor über 25 Jahren. Das Einschließen von Kindern und Jugendlichen (heiße es nun GU oder FEM) bleibt Symptom eines überforderten Jugendhilfe-Systems, auch, wenn es sich heute unter Hinzunahme individualpädagogischer Konzepte und Begründungen scheinbar moderner geriert. Festzuhalten bleibt: Es ist auch nach 25 Jahren SGB VIII nicht gelungen, den Freiheitsentzug (sei es als Geschlossene Unterbringung oder als Freiheitsentziehende Maßnahme) aus dem Repertoire der Erziehungshilfe zu verbannen. Wieder anwachsende Zahlen (wenn auch unter z. T. anderen Etiketten) lassen einen „Fortschritt“ allenfalls in der Nomenklatur, nicht jedoch in der Grundhaltung gegenüber solchen Formen der Zwangserziehung erkennen. Dabei hatte die Erkenntnis, „Probleme von Kindern und Jugendlichen lassen sich nicht einsperren“ (IGfH 1980) schon vor 35 Jahren und damit schon vor und bei der Erarbeitung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes Pate gestanden. Deutungsmuster sozialer Problemlagen im Wandel Es lässt sich in der Praxis - wie in den vorausgehenden Punkten gezeigt werden sollte - eine deutliche Verschiebung normativer Grenzen feststellen. Diese Verschiebung vollzieht sich einerseits von außen (durch Politik und Gesetzgebung) gesteuert, andererseits aber auch implizit im professionellen Handeln der Institutionen und individuellen Akteure. So lässt sich eine eindeutige Tendenz zur Verantwortlichmachung der AdressatInnen beobachten, was zur Folge hat, dass mehr ihr Verhalten und weniger gesellschaftliche Verhältnisse als Ursache für bestehende Probleme angesehen werden (Mohr u. a. 2014). Dies schlägt sich deutlich auch im Denken und Handeln der professionellen Akteure nieder. Um mögliche Verschiebungen im Kontrollverhalten in der Kinder- und Jugendhilfe zu analysieren, wurden unter anderem von Mohr und Ziegler Deutungen und Motivzuschreibungen über soziale Problemlagen und Hilfebedarf der AdressatInnen in den Blick genommen. 2009 wurden im Rahmen eines Pretests für ein größeres Forschungsvorhaben knapp 180 angehende ErziehungswissenschaftlerInnen in einer Pflichtvorlesung im Schwerpunkt Soziale Arbeit an der Fakultät für Erziehungswissenschaft bezüglich politisch-moralischer Orientierungen und Deutungen befragt (Ziegler 2010). Bemerkenswert war, „dass z. B. Ursachen abweichenden bzw. kriminellen Verhaltens Jugendlicher der Tendenz nach weniger ,ungerechten gesellschaftlichen Bedingungen‘ (42 %), sondern eher einem „Mangel an Respekt vor Autorität und Ordnung“ (47 %) zugeschrieben wurden. Ferner waren etwa zwei Fünftel der Studierenden der Erziehungswissenschaft davon überzeugt, dass viele Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen einfach nicht arbeiten wollen (43,4 %) und dass der Sozialstaat dazu führe, dass Menschen immer weniger Selbstverantwortung für ihr Leben übernehmen (39,7 %)“ (Mohr/ Ziegler 2012, 279). Zusammenfassend hält Ziegler (2010, 281) fest, dass das, was als „klassisches sozialethisches und gerechtigkeitsbezogenes Selbstbild der Sozialen Arbeit beschrieben worden ist, sich nur in Ansätzen bei den Studierenden“ (Ziegler 2010, 281) finden ließ. 484 uj 11+12 | 2015 Fortschritt der Kinder- und Jugendhilfe Eine aktuellere Untersuchung, in deren Rahmen 730 Fachkräfte der Jugendhilfe aus mehr als 20 verschiedenen Einrichtungen befragt wurden, kommt zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Auch hier stimmten etwas mehr als 40 %„der Ansicht voll oder eher zu, dass die Ursache der Probleme ihrer KlientInnen darin bestehe, „dass diese einfach keine Lust dazu haben, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen“ (Mohr/ Ziegler 2012, 279). Ebenfalls knapp zwei Fünftel der Befragten meinen, dass die Unterstützungsleistungen, die ihre KlientInnen bekommen, „häufig dazu [führen], dass sie immer weniger bereit sind, selbst Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen“. Etwa ein Drittel plädiert dafür, dass Sozialpädagogen ihre KlientInnen stärker dazu erziehen sollten, sich anständig zu benehmen. 36,4 % plädierten für eine stärkere Betonung der Werte von Disziplin und Ordnung in der Sozialen Arbeit. Mehr als zwei Fünftel hoben die grundsätzliche Wichtigkeit hervor, mangelndes Kooperationsverhalten der KlientInnen zu bestrafen und ebenfalls knapp zwei von fünf Befragten forderten mehr Möglichkeiten als bisher, um mangelndes Kooperationsverhalten der KlientInnen zu sanktionieren (Mohr/ Ziegler 2012, 279). Vor diesem Hintergrund sprechen Mohr und Ziegler von einem Wandel der Deutungsmuster der Verursachung sozialer Problemlagen und damit einhergehender Kontrollkulturen. Dabei ließ sich feststellen, dass Deutungsmuster dieser Art nicht allein auf individueller (privater) Ebene zu verorten waren, sondern dass es einen Zusammenhang zwischen den Haltungen der Fachkräfte und der Organisationskultur bzw. der allgemeinen Arbeitssituation der Beschäftigten in den Einrichtungen gab. Somit unterschieden sich ganze Einrichtungen diesbezüglich deutlich voneinander. Die veränderte Kontrollkultur kann also nicht nur durch gesamtgesellschaftliche neokonservative Deutungen erklärt werden, sondern wird auch „…durch institutionelle und materielle Bedingungen und Belastungen begünstigt (…), die auf die Professionalität der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe nicht eben gedeihlich wirken, (…). Die Tendenz, dass Druck nach unten weitergegeben wird ist eine sozialwissenschaftliche Binsenweisheit, die jedoch vor dem Hintergrund aktueller sozialpolitischer (Steuerungs-)Debatten in der Kinder- und Jugendhilfe kaum zur Beruhigung beiträgt“ (Mohr/ Ziegler 2012, 280). Angesichts des aktuell immer schneller stattfindenden personellen Umschwungs in der Jugendhilfe ist die Notwendigkeit kritischer Diskussion und Reflexion der Handlungsgrundlagen der Jugendhilfe unverzichtbarer denn je. In einer sich entwickelnden Gesellschaft ist es fortwährend notwendig, die herrschenden Hilfe- und damit einhergehenden Kontrollkonzepte neu zu justieren - sei es, dass implizite Veränderungen im fachlichen Handeln und in der Wahrnehmung der professionellen Rolle von SozialpädagogInnen expliziert und zur Diskussion gestellt werden müssen, sei es, dass politische und gesellschaftliche Erwartungshaltungen kritisch beobachtet und reflektiert werden und dass man ihnen ggf. auch mit Widerspruch begegnet. Fazit Es scheint, dass neben der Entwicklung einer neuen Fachlichkeit, die auch mit in das SGB VIII einfloss, im Laufe der Jahre das „politische Bewusstsein und solidarische Handlungsfähigkeit immer stärker ins Hintertreffen“ (Gintzel u. a. 2011, 11) geraten sind. Durch die mediale und politische Präsenz zu Themen wie Kinderschutz oder kriminelle Jugendliche und durch die gesetzgeberischen Aktivitäten (KICK, BuKiSchG) ist - zumindest in den exemplarisch beschriebenen Arbeitsfeldern - ein enormer Druck auf die Jugendhilfe entstanden. Sie wird von außen zunehmend reduziert auf ihre Aufgabe als Überwachungsbehörde von abweichenden Gesellschaftsmitgliedern und als Eingriffsinstanz zum Schutz vor Kindeswohlgefährdung. Diese Außensicht, die in gewisser Weise auch 485 uj 11+12 | 2015 Fortschritt der Kinder- und Jugendhilfe eine gesellschaftliche Erwartung widerspiegelt, bleibt nicht ohne Folgen auf die fachlichen Haltungen und Orientierungen der Träger und der Fachkräfte der Jugendhilfe. Dabei sei dahingestellt, ob man dies als Zeichen einer erhöhten Sensibilität und Handlungsbereitschaft der Fachkräfte und eines endlich verbesserten Kinderschutzes interpretiert oder als Zeichen erhöhter Verunsicherung von Fachkräften, die auf diese Unsicherheiten mit verstärkt repressiven Antworten reagieren. Tatsache bleibt, dass die Jugendhilfe von einem massiven Wandel ihrer Problemwahrnehmungs- und -verarbeitungsstrategien betroffen ist (Schone 2012, 262). Vieles spricht dafür, dass berufliche Handlungsmodelle und Selbstverständnisse in Bewegung geraten (sind). Das Verständnis der Erziehungshilfe als partnerschaftliche Co-Produktion von Fachkräften und AdressatInnen weicht einer immer stärkeren „expertokratischen Eingriffs- und Überwachungstendenz“ (Wolff 2007, 138), einem Verständnis der mehr oder weniger autoritären Beeinflussung von Erziehungsverhalten durch die Fachkräfte. Hilfe und Kontrolle sind beides Bestandteile Sozialer Arbeit, da sozialpädagogische Hilfe nicht ohne Dimensionen von Kontrolle vorstellbar ist. Es stellt sich also nicht so sehr die Frage, ob Kontrolle oder wie viel Kontrolle die Hilfeleistungen prägen, sondern es stellt sich immer die Frage nach ihrer Ausformung und der ihr zugrunde liegenden Legitimation. Die Kernfrage für die Jugendhilfe und für den Fortschritt der Jugendhilfe ist also: Welche Hilfe- und Kontrollmuster erlangen hier die Oberhand: eher unterstützende, anleitende und fördernde oder eher bevormundende überwachende und bestrafende (dazu Franz 1995)? Für die Jugendhilfe stellt sich die Herausforderung, Kindern, Jugendlichen und ihren Familien „glaubhaft zu machen, dass an erster und entscheidender Stelle ihres Handelns die Sicherung des Anspruchs auf Teilhabe und auf Erziehung zu ,eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten‘ steht (…) Andernfalls hat sie keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit und wird von ihren Gegenübern mit Argwohn betrachtet, die sie dann völlig zu Recht als eine Kontroll- und Disziplinierungsinstanz wahrnehmen“ (Gintzel u. a. 2011, 15). Die aktuellen Anzeichen, dass sich autoritäre Muster wieder häufen, dass rigide Formen sozialer Hilfe und Kontrolle eher wieder an Konjunktur gewinnen und dass sowohl Hilfe als auch Kontrolle zunehmend mit repressiveren Mitteln durchgesetzt werden, deuten darauf hin, dass ein gewisser Argwohn (nicht nur) der AdressatInnen berechtigt scheint. Als das SGB VIII eingeführt wurde, hatte sich die Praxis schon lange über das JWG hinaus entwickelt; seine Einführung wurde als gesetzliche Anpassung an eine schon geläufige Praxis verstanden. 25 Jahre später kann man feststellen, dass sich die Praxis wiederum verändert hat. Sprach man damals aber von der Weiterentwicklung der Disziplin zu einer modernen dienstleistungsbezogenen Jugendhilfe und der Professionalisierung der Fachkräfte, verliert sie zur Zeit diese Richtung anscheinend wieder aus dem Blick - vor allem, wenn es um den Umgang mit gesellschaftlich benachteiligten Menschen geht. In der aktuellen Praxis lässt sich - wie dieser Beitrag zeigen will - eine merkliche Verschiebung in Richtung interventionistischer Überlegungen und in Richtung auf ein stärker kontrollierendes und eingreifendes Jugendhilfeverständnis beobachten. Wenn hierzu keine breite differenzierte und differenzierende Diskussion geführt wird, läuft die Jugendhilfe - und allem voran die Erziehungshilfe - Gefahr, in alte, längst überwunden geglaubte Muster der Kinder- und Familienfürsorge zurückzufallen. Es wird immer notwendiger, in Ausbildung und Praxis offensiv das professionelle Selbstverständnis der Jugendhilfe zu thematisieren und einen breiten öffentlichen fachlichen Diskurs hierzu zu führen. Der 25. Geburtstag des Kinder- und Jugendhilfegesetzes wäre hierzu ein guter Anlass. 486 uj 11+12 | 2015 Fortschritt der Kinder- und Jugendhilfe Eva Schone Kompetenzzentrum Soziale Dienste (kom.sd) Universitätsstr. 25 33615 Bielefeld eschone@uni-bielefeld.de Prof. Dr. Reinhold Schone Fachhochschule Münster Fachbereich Sozialwesen Hüfferstr. 27 48149 Münster schone@fh-muenster.de Literatur BJFFG (Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit) (Hrsg.) (1990): Achter Jugendbericht (BT-Drs. 11/ 6576). 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