eJournals unsere jugend 67/11+12

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
111
2015
6711+12

„Wie soll das Jugendamt das alles hinbekommen!?“

111
2015
Joachim Merchel
Dass das Jugendamt eine zentrale Steuerungsfunktion für die kommunale Kinder- und Jugendhilfe zu erfüllen hat, zeigt ein einfacher Blick in das SGB VIII: Jugendhilferechtlich wird die elementare Steuerungsaufgabe codiert in der Formel der dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe zugeschriebenen „Gesamtverantwortung einschließlich der Planungsverantwortung“ (§ 79 Abs. 1 SGB VIII).
4_067_2015_11+12_0464
464 unsere jugend, 67. Jg., S. 464 - 476 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art72d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Wie soll das Jugendamt das alles hinbekommen! ? “ Intensivierte,komplexeundwidersprüchliche Steuerungserwartungen an das Jugendamt Dass das Jugendamt eine zentrale Steuerungsfunktion für die kommunale Kinder- und Jugendhilfe zu erfüllen hat, zeigt ein einfacher Blick in das SGB VIII: Jugendhilferechtlich wird die elementare Steuerungsaufgabe codiert in der Formel der dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe zugeschriebenen „Gesamtverantwortung einschließlich der Planungsverantwortung“ (§ 79 Abs. 1 SGB VIII). von Prof. Dr. phil. Joachim Merchel Fachhochschule Münster, Fachbereich Sozialwesen, Lehr- und Forschungsgebiet Organisation und Management Das (zweigliedrige) Jugendamt hat nicht nur eine „Garantenstellung“ (Wiesner 2011, §79 Rn. 3 a; Münder/ Tammen § 79 Rn. 2) gegenüber Leistungsberechtigten zur Erfüllung ihrer Rechtsansprüche, sondern es muss auch gewährleisten, dass die „erforderlichen und geeigneten Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen … rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen“ (§ 79 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII). Die damit auf die Einlösung der individuellen Rechtsansprüche und an einer angemessenen Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe ausgerichtete Verantwortung des Jugendamtes ist unbestritten und als Steuerungsanforderung den politisch und administrativ Verantwortlichen in der kommunalen Jugendhilfe präsent. Jedoch haben die unterschiedlichen Umgangsweisen mit den Steuerungsanforderungen zu verschiedenartigen Ergebnissen in der Verarbeitung solcher Anforderungen geführt, wie ein Blick in diesbezügliche Untersuchungen und eine wache Betrachtung der Praxis von Jugendämtern zeigen. Hier sind sehr verschiedene lokale und regionale Markierungen zu erkennen - sowohl bezüglich infrastruktureller Konzepte (z. B. zur sozialräumlichen Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe) und regionaler Schwerpunktsetzungen in den Angeboten (Gadow u. a. 2013; Pluto u. a. 2007) als auch hinsichtlich innerorganisatorischer Strukturierungen und Gestaltungspräferenzen (am Beispiel ASD s. Gissel-Palkovich/ Schubert 2015). Die bereits vor dem Inkrafttreten des SGB VIII erfolgten und im Gefolge des SGB VIII weitergeführten und neu angestoßenen Veränderungen in der kommunalen Jugendhilfe (u. a. Kreft u. a. 1993; Otto u. a. 1991; Petersen 1999) zeigen, dass und in welcher Weise unterschiedliche Modalitäten des Steuerungshandelns in Jugendämtern vollzogen wurden. 465 uj 11+12 | 2015 Steuerungserwartungen an das Jugendamt Über eine lange Zeit konnten Jugendämter ihre Steuerungsmodalitäten in einem Umfeld entfalten, von dem ein - aus heutiger Sicht - relativ mäßiger Steuerungsdruck ausging. Zwar wurden in der Fachöffentlichkeit neue Konzepte an das Jugendamt herangetragen, mit denen sich die Leitungspersonen vor dem Hintergrund kritischer Legitimationsanfragen und angesichts von Nachfragen der im Jugendamt tätigen Fachkräfte auseinandersetzen mussten; die damit einhergehenden Umgestaltungsprozesse mögen in einigen Jugendämtern auch zu schwierigen Prozessen und Konflikten geführt haben. Aber insgesamt agierte das Umfeld, innerhalb dessen Jugendämter tätig waren, nur begrenzt druckintensiv. Faktoren einer zunehmenden Intensität von Steuerungsanforderungen an das Jugendamt Dies hat sich in den letzten Jahren markant verändert. Der Steuerungsdruck, dem sich Jugendämter ausgesetzt sehen, hat sich intensiviert - ausgelöst vor allem durch zwei Entwicklungen, Kinderschutz und Entwicklung der Kosten für Hilfen zur Erziehung: ➤ „Steuerungsdruck im Kontext von ‚Kinderschutz‘ “: Fälle, in denen Kinder aufgrund tatsächlicher oder vermeintlicher Mängel in den Abläufen und/ oder im fachlichen Handeln bei Organisationen und Akteuren der Jugendhilfe zu Schaden oder gar zu Tode gekommen sind, haben die Jugendämter zum einen unter einen professionsinternen Legitimationsdruck und zum anderen unter einen durch Politik und mediale Öffentlichkeit ausgeübten Druck gesetzt. Dies hat begonnen mit dem ersten Fall aus Osnabrück, bei dem eine Sozialarbeiterin sich der strafrechtlichen Überprüfung ihres Handelns aussetzen musste (Mörsberger/ Restemeier 1997), und hat sich dann über die öffentlichen Debatten zu weiteren Fällen intensiviert. Es hat in der Folge u. a. in den Regelungen des Bundeskinderschutzgesetzes zu politischen Entscheidungen geführt. Über die Vokabel „Kinderschutz“ mit ihrer hohen legitimatorischen Bedeutung, aber auch mit ihrem wenig differenzierenden semantischen Gehalt (Merchel 2011, 191f ), wurden und werden Jugendämter unter einen dreifachen Steuerungsdruck gesetzt: fachlich im Hinblick auf die Überprüfung der Konzepte und Verfahrensweisen, organisational im Hinblick auf eine Gewährleistung angemessener und verlässlich praktizierter Abläufe sowie in einer medial vermittelten moralischen Komponente („Unsere Gesellschaft darf ein solches Leiden von Kindern nicht zulassen, und das Jugendamt ist dafür verantwortlich, dass Kinder nicht so leiden müssen! “). Auf dem Jugendamt lastet ein verstärkter fachlicher, politischer und medial vermittelter Druck, die „Abläufe in den Griff zu bekommen“, damit nichts passiert („… so etwas darf nicht wieder geschehen …“) und kein Kind zu Schaden kommt. ➤ „Steuerungsdruck durch Kostenentwicklung bei Hilfen zur Erziehung“: Steigende Fallzahlen und die damit einhergehenden Kostensteigerungen bei den Hilfen zur Erziehung (BMFSFJ 2013, 334ff; Lotte/ Pothmann 2010; Schilling 2013) setzen Jugendämter unter einen finanzpolitischen Druck. Angesichts der an vielen Orten außerordentlich schwierigen kommunalen Finanzsituation werden die steigenden Erziehungshilfeausgaben zu einer Belastung, die dadurch an Bedrohlichkeit zunimmt, dass die diesbezügliche Ausgabenentwicklung nicht kalkulierbar ist und als kaum von außen steuerbar erlebt wird. Dementsprechend werden die Jugendämter aufgefordert, Konzepte zu entwickeln und das innere Organisationsgeschehen so zu beeinflussen, dass man „die Finanzen in den Griff bekommt“. Der auf die Jugendamtsleitungen ausgeübte Druck wird intensiviert: Die Verhandlungen um Budgets werden härter, Budget-Überschreitungen bei Hilfen zur Erziehung werden nicht einfach mit dem Hinweis auf individuelle Rechtsansprüche akzeptiert, sondern münden in unangenehme und zähe Verhandlungssituationen, Controlling-Anforderungen werden rigider. 466 uj 11+12 | 2015 Steuerungserwartungen an das Jugendamt Die seit vielen Jahren anhaltenden Debatten um „Qualität und Kosten im ASD“ (so bereits ein Projekt in NRW aus den Jahren 1995 bis 1997; Schrapper u. a. 1998) intensivieren sich zunehmend, bis hin zu den Kontroversen zur „Umsteuerung der Erziehungshilfen von individuellen in sozialräumliche Angebote“ (Beiträge in „neue praxis“ 5/ 2011 und 6/ 2011). Dabei handelt es sich um eine politische Auseinandersetzung, die auf die Ebene der Jugend- und Familienminister der Bundesländer gehoben ist und deren praktischer Ausgang derzeit noch unklar ist. Im Zusammenhang mit diesen beiden Entwicklungen stehen drei weitere Steuerungsanforderungen, die in den letzten Jahren mit zunehmender Anspruchsintensität an Jugendämter adressiert wurden: ➤ „Wirkungen steuern“: Die Intensivierung von „Fall- und Kostensteuerung“ (häufig in genau dieser Verbindung! ) zieht konsequent die Forderung nach sich, die Zielorientierung in der Hilfeplanung nicht nur als methodische Ausrichtung zu praktizieren, sondern Wirkungsparameter als Steuerungsgrößen einzusetzen, indem ein mit Steuerungspotenzialen versehenes „Wirkungscontrolling“ im Hinblick auf Einzelfälle, Leistungsarten und Einrichtungen der Leistungserbringung aufgebaut und kontinuierlich praktiziert werden soll. ➤ „Prävention verbessern durch Aufbau und zielgerichtete Nutzung von Netzwerken“: Durch eine verstärkte Kooperation mit anderen Organisationen, insbesondere solchen aus dem Bildungsbereich (Schulen) und dem Gesundheitswesen, soll eine Öffnung der Kinder- und Jugendhilfe erfolgen mit den erwarteten Effekten, dass (a) problematische Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen früh erkannt werden und frühzeitig „niedrigschwellige Hilfen“ eingesetzt werden können und (b) „Regelangebote“ besser für das Vermeiden von Problemzuspitzungen eingesetzt werden können, sodass (c) ein frühzeitiger und wirkungsvoller„Schutz“ von Kindern möglich wird und (d) man einem Teil der möglicherweise später anfallenden kostenintensiven Maßnahmen ausweichen kann und auf diese Weise Kosten in der Kinder- und Jugendhilfe reduzieren oder zumindest auf einem Level halten kann. Der Prototypus für solche Strategien sind die im Bundeskinderschutzgesetz geforderten „Netzwerke Früher Hilfen“ (Sann 2012). Ferner ist auch die häufig geforderte Initiativfunktion der Jugendämter bei der Schaffung und Ausgestaltung von „kommunalen Bildungslandschaften“ (Deutscher Verein 2007 und 2010; stärker konzeptionell Maykus 2013) zum Teil hier einzuordnen. ➤ „Qualität steuern“: Spätestens mit den Anforderungen einer umfassenden Qualitätsentwicklung in allen Handlungsfeldern der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe durch das Einfügen des § 79 a in das SGB VIII ist das Jugendamt aufgefordert, nicht nur in quantitativer Hinsicht für die Jugendhilfe-Infrastruktur Sorge zu tragen, sondern auch in fachlicher Hinsicht eine dezidiert qualitätsentwickelnde Steuerungsfunktion zu übernehmen (Merchel 2015 a). Zwar war diese Dimension auch bisher programmatisch in der Jugendhilfeplanung enthalten, denn die Steuerung über Jugendhilfeplanung bezieht ausdrücklich den Faktor der „Eignung“, also eine qualitativ-fachliche Dimension, in die Ausrichtung der Jugendhilfeplanung gem. § 79 Abs. 2 SGB VIII ein. Jedoch werden durch die ausdrückliche Nennung des Grundsatzes der Qualitätsentwicklung in § 79 und die konkretisierenden Regelungen in § 79 a SGB VIII die meisten AkteurInnen in den Jugendämtern die Anforderungen als neuartige Herausforderung empfinden, die einen „zusätzlichen“ Anforderungs- und Steuerungsdruck markiert. In diesen insgesamt fünf Faktoren manifestieren sich intensivierte Steuerungsanforderungen an das Jugendamt, denen für die Zukunft ein vermutlich gleichbleibendes oder als zunehmend empfundenes Druckpotenzial prognostiziert werden kann. 467 uj 11+12 | 2015 Steuerungserwartungen an das Jugendamt Der „Kinderschutz“ wird wegen seiner hohen legitimatorischen Bedeutung und wegen der damit einhergehenden Anfälligkeit für mediale Aufmerksamkeit ein Thema bleiben, das die Agenda der Jugendämter bestimmen wird, zumal sich aufgrund der strukturellen Risikobelastung der Tätigkeit des ASD auch künftig Fallverläufe, die eine kritische mediale Aufmerksamkeit (bis hin zur Skandalisierung) herausfordern, selbst bei aller Sorgfalt und Achtsamkeit in Jugendämtern nicht werden vermeiden lassen. Ebenfalls ist absehbar, dass angesichts der Entwicklung in den Lebensverhältnissen der Kinder, Jugendlichen und Familien ein relationaler Rückgang der Fallzahlen sowie ein Einfrieren des finanziellen Aufwands für die Erziehungshilfen nicht zu erwarten sind - es sei denn, man dehnte die Normalitätsmaßstäbe und das Kriterium der Erforderlichkeit von Hilfen bzw. des erzieherischen Bedarfs (§ 27 SGB VIII) so, dass man in die Nähe einer fachlich kaum zu verantwortenden und rechtlich unangemessenen faktischen Hilfeverweigerung geriete, was allerdings wiederum ein hohes Risiko für ein Steuerungsversagen beim Thema „Kinderschutz“ zur Folge hätte. Denn die Kostenentwicklung bei den Hilfen zur Erziehung lässt sich nicht ohne den Blick auf die Auswirkungen der Kinderschutzdebatten angemessen bewerten (Müller u. a. 2012). Begleitet werden solche intensivierten, an konkreten Punkten ansetzenden Steuerungserwartungen von generalisierenden Konzeptformulierungen, die von den Jugendämtern Entwicklungsbemühungen fordern, durch die diese zu „strategischen Zentren für Fragen des Aufwachsens“ werden - so die Sachverständigenkommission im 14. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2013, 390). Diese Formulierung markiert einen umfassenden Steuerungsanspruch, der über die Kinder- und Jugendhilfe hinausgeht und der Kinder- und Jugendhilfe einen auf die Lebensbereiche von Kindern und Jugendlichen (u. a. Institutionen der formalen Bildung, Gesundheitsbereich, Hineinfinden in das Arbeitsleben etc.) umfassend ausgerichteten Gestaltungs- oder zumindest aktiven Mitgestaltungsauftrag zuspricht. Die Intensivierung solcher Steuerungsanforderungen, die bereits im o. g. Faktor „Prävention und Vernetzung“ aufscheint, lässt sich interpretieren als eine konsequente Weiterführung der bereits im 11. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2002) proklamiertenundbegründetenundim14.Kinder-und Jugendbericht aufgegriffenen These vom „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“, wodurch sich die Gestaltungs-, Kooperations- und Moderationsanforderungen an die Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe - und hier insbesondere an das Jugendamt als den zentralen infrastrukturellen Steuerungsakteur - breiter auffächern und intensivieren. Zu beachtende (Neben-)Folgen eines intensivierten Steuerungsdrucks Die Proklamation solcher Programmatiken wie im 14. Kinder- und Jugendbericht und der damit einhergehenden Steuerungsanforderungen mag fachpolitisch hoch plausibel und unterstützenswert sein. Auch die aufgeführten fünf Faktoren spiegeln reale Problemlagen und Widersprüche wider und werden sich daher nicht ohne Weiteres ihres Druckpotenzials entledigen lassen. Allerdings wird allein durch die Proklamation von Steuerungsanforderungen noch kein Problem gelöst; und hier sind nicht nur die in solchen Diskussionen immer wieder artikulierten Fragen der Ressourcen in Jugendämtern angesprochen. Allein durch eine Erweiterung der Ressourcen beim Jugendamt lassen sich die hier skizzierten Steuerungsprobleme nicht lösen. Denn mit der Intensivierung des Steuerungsdrucks sind zwei Folgen verbunden, die bei Überlegungen zum Umgang mit dem Steuerungsdruck nicht unbeachtet bleiben dürfen: 468 uj 11+12 | 2015 Steuerungserwartungen an das Jugendamt a) Es werden die Widersprüche verschärft, in denen das Jugendamt bei seinen Steuerungsbemühungen steckt und die es zu bewältigen hat, und zwar ohne dass die strukturelle Widersprüchlichkeit hin zu einem der darin enthaltenen Pole einseitig aufgelöst werden kann und sollte. b) Die für die öffentliche Jugendhilfe Verantwortlichen müssen kritisch überprüfen, ob die Konzepte und Kompetenzen, die zur Bearbeitung des Steuerungsdrucks und zu einem damit einhergehenden balancierenden Umgang mit Widersprüchen benötigt werden, sowie die entsprechenden organisationalen Voraussetzungen (einschl. der Ausstattung mit personellen und sachlichen Ressourcen) in angemessener Weise und angemessenem Umfang vorhanden sind. Strukturelle Widersprüche und Paradoxien in den Anforderungen an das Jugendamt Das Steuerungsfeld des Jugendamtes ist durch zwei strukturell vorgegebene Spannungsfelder geprägt, die traditionell diskutiert werden und zur „Grundausstattung“ einer jeden Debatte zu Strukturfragen in der öffentlichen Jugendhilfe gehören: das Spannungsfeld zwischen Hilfe und Schutz/ Kontrolle (als prägender Widerspruch in der Arbeit an und mit dem Einzelfall) und der Widerspruch zwischen einem Anspruch auf möglichst zielgenaue Steuerung und der Gewährleistung von Qualität einerseits und der Pluralität der Träger mit der ihnen gesetzlich zugesprochenen Autonomie in organisationalen und fachlichen Fragen (§§ 3,4 SGB VIII) andererseits (als prägender Widerspruch bei der Infrastrukturgestaltung). Das Jugendamt muss mit der Ambivalenz zwischen Hilfe und Kontrolle umgehen und beide Prinzipien in den Verfahren und Handlungsweisen zum Tragen kommen lassen, was insbesondere den ASD vor Herausforderungen stellt (Schone 2015) sowie für spezielle Anforderungen in der öffentlichen Darstellung und in der Imagebildung des Jugendamtes sorgt (Enders 2015). Die infrastrukturellen Steuerungsaktivitäten des Jugendamtes bewegen sich in dem Widerspruch, dass einerseits vom Jugendamt erwartet wird, eine bestimmte Qualität zu gewährleisten, dies aber andererseits in einem Steuerungsfeld, das keinen „Durchgriff“ auf die im Feld tätigen Organisationen erlaubt und auch angesichts der Autonomie der beteiligten Organisationssysteme gar keine Steuerung nach der Vorstellung eines „Durchgreifens“ ermöglichen würde. Die Erwartung einer infrastrukturellen Steuerung in Richtung einer möglichst zielgenauen Einbindung anderer Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe bricht sich an den Governance-Strukturen des Feldes (Nullmeier 2011), was die Einlösung einer solchen Erwartung durch das Jugendamt unmöglich macht, jedoch andererseits nicht dazu führen darf, sich generell von Steuerungserwartungen loszusagen. Es bedarf anderer, dem Feld angemessener und die Widersprüche balancierend verarbeitender Steuerungskonzepte, damit das Jugendamt einen Weg zur produktiven Verarbeitung der Spannungen finden kann. Neben diesen elementaren strukturellen Spannungsfeldern, in denen Steuerung durch das Jugendamt zu bewältigen ist, werden durch die intensivierten Steuerungsanforderungen weitere Widersprüche zugespitzt: ➤ Die Anforderung einer verschärften Kostensteuerung intensiviert den Widerspruch zwischen der Logik des Einzelfalls („bestmögliche Hilfe“ entsprechend dem jeweils individuellen Bedarf ) einerseits und der Logik einer auf Ressourcenbewirtschaftung ausgerichteten Organisation (Steuerung und Begrenzung der für die Organisation anfallenden Kosten, Einhalten von Budgetvorgaben) andererseits. 469 uj 11+12 | 2015 Steuerungserwartungen an das Jugendamt ➤ Die Anforderung einer organisationalen Steuerung der Hilfen (Gewährleistung kalkulierbarer Abläufe und einer „einheitlichen“ Qualität der Fallbearbeitung) zielt auf den Widerspruch zwischen der Logik des Einzelfalls, die ein individuelles Vorgehen sowie eine individuelle und flexible Ausgestaltung der Hilfen erfordert, und der Logik organisationaler Handlungsprogramme, die auf Kalkulierbarkeit und weitgehende Unabhängigkeit von personellen Ausprägungen und Zufälligkeiten ausgerichtet ist (Merchel 2015 c). In diesen Kontext ist auch die Spannung zwischen der Logik der individuellen Verantwortung bei pädagogisch ausgerichteten Entscheidungen einerseits und der Logik des notwendigen Teambezugs (und damit der organisationalen Verankerung) der Entscheidungen einzuordnen. ➤ Die Kooperation und die Netzwerkbildung mit anderen Organisationen erfordern einerseits die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich in die Eigenlogik der beteiligten Organisationen hineinzudenken und sich auf diese einzulassen, jedoch bedarf es andererseits gleichermaßen der Profilierung der eigenen Organisation und des Bestrebens, die anderen Organisationen zu Handlungsbeiträgen in Richtung der eigenen Handlungsprogramme zu veranlassen. Die Notwendigkeit, die Logik der anderen Organisationen zu beachten und zu würdigen, bricht sich an dem Ziel, die anderen Organisationen im Sinne der eigenen Handlungsprogramme „einzubinden“, und an der damit einhergehenden Notwendigkeit zur eigenen Profilierung, um mit den eigenen Intentionen in den vielgestaltigen Interaktionen nicht unterzugehen. Die Steuerungskomplexität liegt vor allem darin, dass keiner der beiden Pole des jeweiligen Spannungsverhältnisses vernachlässigt werden darf; jeder hat seine Legitimität, und die Vernachlässigung eines der beiden Pole würde zu fachlich und/ oder organisational unangemessenen Entscheidungen führen. Gleichzeitig kann im Grundsatz keine Patentlösung für eine gelingende Handhabung solcher Widersprüche vorgegeben werden. Handhabungen müssen in jeder Organisation und in vielen Situationen immer wieder neu gefunden werden, und es bedarf immer wieder der erneuten Prüfung, ob die Praxis im Umgang mit solchen Widersprüchen als angemessen zu bewerten ist. Das Steuerungshandeln bewegt sich in Spannungsfeldern und Widersprüchen, die sich zu Paradoxien verdichten können, deren einseitige Auflösung massive Fehler in der Organisation erzeugen und zu einer nachdrücklichen Delegitimierung des Jugendamtes führen würde. Sie müssen ausgehalten bzw. ausbalanciert werden - was angesichts eines zunehmenden Steuerungsdrucks mit einer Komplexitätsausweitung in den Anforderungen an Leitung einhergeht. Bode/ Turba (2014; 2015) haben solche Paradoxien in einem Zentrum der Aufgaben des Jugendamtes, dem Kinderschutz bzw. dem Umgang mit potenzieller oder drohender Kindeswohlgefährdung, analysiert. In ihrer qualitativen Studie charakterisieren sie die Entwicklungstendenz bei den Regulierungsaktivitäten der Jugendämter im Kinderschutz mit den drei Stichworten: „mehr Kosteneffizienz(orientierung), mehr Kontrolle und mehr Kooperation(sdruck)“ (2014, S. 137). Bei der Analyse zu den Auswirkungen in der Umsetzung dieser drei Tendenzen arbeiten sie „verschiedene, sich widersprechende Marschrichtungen“ heraus, zwischen denen sich die Praxisakteure zurechtfinden müssen und die in den Jugendämtern verarbeitet werden müssen. Gefordert werden „mehr Flexibilität und mehr Patentlösungen; mehr Nachhaltigkeit und weniger Interventionstiefe (etwa durch die Substitution personalintensiver durch niedrigschwellige oder ambulante Angebote); mehr Sicherheitsorientierung und weniger Kapazität für nachhaltige Steuerung…; mehr Arbeitsteilung und weniger Selbstständigkeit bei denen, die Fallkontakt haben; …Druck in Richtung mehr Wettbewerb und mehr Zusammenarbeit“ (2014, 363; Hervorhebung J. M.). „Organisierter Kinderschutz wird so zur Arena für permanentes Improvisie- 470 uj 11+12 | 2015 Steuerungserwartungen an das Jugendamt ren, in dem schulbuchmäßiges Handeln schnell an Grenzen stößt“ (2014, 366). In der Praxis scheinen solche Paradoxien und der Umgang mit ihnen bisher noch sehr begrenzt als ein Bündel von Anforderungen an die Organisation wahrgenommen worden zu sein, die in der Organisation sensibel beachtet, thematisiert und somit bearbeitbar gemacht werden müssen. Strategien des „Durchwurstelns/ muddling through“ scheinen zu dominieren: einseitige Zuweisungen des Problemumgangs an Personen (MitarbeiterInnen) ohne eine Wahrnehmung der Organisationsverantwortung, Abschiebung von Verantwortlichkeit an „Netzwerkpartner“, Personalisierung von Problemen (z. B. Interpretation von Strukturproblemen der „Netzwerkstrategien“ als „mangelnder Wille oder mangelnde Kompetenz“ einzelner Personen), psychologische Rationalisierungen (Verdrängung negativer Nebenfolgen von Entscheidungen, Leugnung von Widersprüchen, Uminterpretation von Entscheidungen z. B. einer primär unter Kostengesichtspunkten getroffenen Entscheidung als vermeintliche fachliche Innovation) (Bode/ Turba 2014, 366f ). Solche Formen des alltäglichen Umgangs mit Steuerungsdruck und mit den damit einhergehenden Paradoxien mögen oberflächlich und für eine gewisse Zeit die Handlungsfähigkeit eines Jugendamtes aufrechterhalten. Sie führen jedoch perspektivisch zu einer Destabilisierung und damit zu Einschränkungen in der professionellen Handlungskompetenz bzw. in der „organisationalen Identität“ der Jugendämter (Bode/ Turban 2015, 118) - und zwar deswegen, weil die genannten Bearbeitungsmodalitäten Konflikte erzeugen, deren permanente Bearbeitung Ressourcen bindet und das fachlich erforderliche Kooperationsklima gefährdet, weil MitarbeiterInnen demotiviert werden und sich in ihrer Berufsidentität nicht mehr angemessen beachtet fühlen (Bundesarbeitsgemeinschaft ASD/ KSD 2013) und weil letztlich die Effektivität der Arbeit und daraus folgend die Legitimität der Organisation nach außen gefährdet werden. Es bedarf also - neben den weiterhin in allen Organisationen vorfindbaren und zur Alltagsbewältigung notwendigen Modalitäten des „muddling through“ - anderer, reflektierterer Strategien des Umgangs mit dem Steuerungsdruck und mit den damit einhergehenden widersprüchlichen Anforderungen. Konzepte, Methoden und Ressourcen für den Umgang mit intensiviertem Steuerungsdruck Intensivierte Steuerungsanforderungen lassen sich nicht einfach dadurch einlösen, dass man den Druck auf die Organisationsverantwortlichen, also auf das Leitungspersonal in Jugendämtern erhöht und die Anforderungen ausschließlich individualisiert nach dem Motto „erweitert Eure Kompetenzen und strengt Euch an, dann klappt das schon …“. Die politisch und administrativ Verantwortlichen - und dazu gehören auch Leitungspersonen in Jugendämtern - müssen überprüfen, ob angemessene Bedingungen für einen Umgang mit den Druckfaktoren vorhanden sind bzw. geschaffen worden sind. Dabei geht es nicht nur um Fragen der sachlichen und personellen Ausstattung, sondern gleichermaßen um Konzepte, um den Kompetenzstand und die motivationale Situation der MitarbeiterInnen, um den für das Tätigwerden gestalteten strukturellen Rahmen, um in die Organisation eingeführte und in ihr verankerte Verfahrensweisen, um die in einem Jugendamt wirksamen Prägungen der Organisationskultur. Die in einer Verwaltung üblichen und tradierten Modi der Vorgabe von Handlungsweisen und der nachfolgenden Überprüfung von deren Umsetzung im Rahmen von Fach- und Dienstaufsicht sind sicherlich ein Element, mit dem Verbindlichkeit und Transparenz in einer Organisation hergestellt werden können. Die Strukturierung über Fach- und Dienstaufsicht wird auch weiterhin praktiziert werden müs- 471 uj 11+12 | 2015 Steuerungserwartungen an das Jugendamt sen, denn das Setzen von Regeln, mit dem in einer Organisation Kalkulierbarkeit und ein gewisses Maß an Verlässlichkeit in der Aufgabenerledigung hergestellt werden müssen, läuft dann ins Leere, wenn das Einhalten dieser Regeln nicht aktiv verfolgt, überprüft und ausgewertet wird. Leitungspersonen haben das geregelte Recht und die durch Verantwortung codierte Verpflichtung, das Handeln und die Entscheidungen der ihnen zugeordneten Personen (MitarbeiterInnen) oder der ihnen zugeordneten Organisationssegmente (Abteilungen, Sachgebiete, Teams) zu beobachten und zu prüfen - sowohl im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit als auch im Hinblick auf die fachliche Zweckmäßigkeit deren Handelns. Aber das primäre Setzen auf diesen Gestaltungsmodus verspricht nur begrenzt Erfolge, wenn es um den Umgang mit Paradoxien, mit Unkalkulierbarkeit der Aufgaben und Unsicherheiten in der Aufgabenbewältigung, also um die Notwendigkeit des Findens von jeweils situativen Bewältigungsversuchen geht. Gerade im ASD als dem Kernbereich des Jugendamtes, auf den die Druckfaktoren des Kinderschutzes und der Kostensteuerung bei den Erziehungshilfen zielen, müssen die MitarbeiterInnen mit einer „unberechenbaren Natur des Interventionsgegenstands“ umgehen, der sich manifestiert „in instabilen Problemsituationen und -verläufen, denen ebenso notorisch instabile Interventionsprozesse folgen“ (Bode/ Turba 2015, 108). Um mit solchen Konstellationen umzugehen, bedarf es eines von der Organisation vorgegebenen Rahmens, der jedoch flexible Interventionsweisen ermöglicht und situationsbezogenes, professionell reflektiertes Verhalten herausfordert und unterstützt. Der Versuch in Jugendämtern, dem Steuerungsdruck einseitig durch weitere Formalisierungen (Checklisten, Erweiterung des Formularwesens, Erweiterung von Dokumentationsanforderungen, Definition umfangreicher „Verfahrensstandards“ und deren Zusammenführung in „QM-Handbüchern“ u. a. m.) zu begegnen und dadurch eine Grundlage für eine intensivierte Fachaufsicht zu legen, mag der Logik der Bürokratie entsprechen und dadurch mit einer tradierten Organisationskultur von Verwaltung kompatibel sein. Eine adäquate Verarbeitung des Steuerungsdrucks resultiert daraus jedoch nicht. Denn zum einen besteht die Gefahr, dass durch weitere Formalisierung eine Absicherungsmentalität bei den Fachkräften erzeugt wird, bei der das Einhalten von Vorgaben und das routinisierte Abarbeiten vorgegebener Verfahrensstandards Vorrang erhält vor der einzelfallbezogenen Angemessenheit und der einzelfallbezogenen „Übersetzung“ der Sinnhaftigkeit von Regelungen. Zum anderen werden die zunehmenden Formalisierungen „als Widerspruch zum angestammten professionellen Selbstverständnis wahrgenommen“ (Bode/ Turba 2015, 116) und die Grundlagen für eine professionelle Identität der Akteure, die die Basis darstellt für eine adäquate Aufgabenerledigung der Jugendämter, geraten ins Rutschen (Bundesarbeitsgemeinschaft ASD/ KSD 2013). In einer ähnlichen Dynamik einer mangelnd sensiblen Ausgestaltung von Balancen wirken einseitig betriebswirtschaftlich ausgerichtete Vorgehensweisen der„Wirkungssteuerung“ (z. B. Hoffjan/ Böhle 2014) und des einseitig kennzahlenorientierten Controlling, mit denen eine Kostensteuerung bei den Erziehungshilfen erreicht werden soll. Wenn Managementkonzepte und Managementmethoden nicht ausreichend mit den Spezifika des Handlungsfeldes und der Arbeitsaufgaben vermittelt werden, können sie nicht produktiv im Jugendamt eingesetzt werden, und sie können sogar kontraproduktive Effekte nach sich ziehen, weil sie von den MitarbeiterInnen als „fremd/ nicht passend“ empfunden werden und nicht in das Professionalitätsverständnis eingebaut werden können. In solchen Fällen werden die Methoden die erhofften Effekte nicht erzeugen können. Auch im Hinblick auf die Finanzsteuerung bedarf es solcher Konzepte, die dem „Aufgabenfeld Ju- 472 uj 11+12 | 2015 Steuerungserwartungen an das Jugendamt gendamt“ gerecht werden und zwischen den zueinander in Spannung stehenden Prinzipien von „Fachlichkeit“, „Rechtsansprüchen“ und „nicht beliebig vermehrbarem Geld“ balancierende Wege möglich machen, die zu einer verantwortbaren Handhabung dieses Spannungsfeldes führen können (Merchel 2015 d). Infrastruktursteuerung: Jugendhilfeplanung Bei den genannten fünf Faktoren eines intensivierten Steuerungsdrucks geht es nicht nur um Verfahren und um den Umgang mit Paradoxien, die in der inneren Organisationsgestaltung des Jugendamtes deutlich werden. Vielmehr ist in einem auf Governance-Strukturen aufgebauten pluralen Feld wie der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe auch die Infrastruktur einbezogen. Bei den Faktoren „Prävention verbessern durch Aufbau und zielgerichtete Nutzung von Netzwerken“ und „Qualität steuern“ ist der Infrastrukturbezug offenkundig, jedoch auch im Hinblick auf den Faktor „Wirkung steuern“ werden freie Träger nicht nur peripher angesprochen, sondern die Verarbeitung dieses Faktors hat massive Auswirkungen auf die Infrastruktur, denn Wirkungskriterien müssen in einem pluralen Trägerfeld konstituiert und in Geltung gesetzt werden. In all diesen Steuerungsfragen ist Jugendhilfeplanung als infrastrukturbezogener Steuerungsmodus ebenso hineingezogen wie bei der Kostensteuerung der Erziehungshilfe, denn ohne sozialräumlich differenzierende Daten, ohne eine Verankerung des Bedarfs an Erziehungshilfen in einer adäquaten Angebotsstruktur und ohne ein fachlich tragfähiges Controlling (Hopmann 2010) kann keine fachlich verantwortbare Kostensteuerung bei den Erziehungshilfen erfolgen. Für eine adäquate Verarbeitung des intensivierten Steuerungsdrucks hat eine gut konzipierte und realisierte Jugendhilfeplanung einen höchst bedeutsamen Stellenwert. Die Bedeutung von Jugendhilfeplanung zeigt sich an weiteren „Strukturirritationen“ (Jordan u. a. 2015, 92f ), deren Dynamik die Kinder- und Jugendhilfe vor elementare Herausforderungen stellt: so insbesondere - neben den bereits skizzierten Druckfaktoren - der Funktionsverlust der offenen Kinder- und Jugendarbeit durch die Verlagerung der Tagesbetreuung auf die (offene und gebundene) Ganztagsschule, das Changieren der Kindertageseinrichtungen (vielfach bezeichnet als „Elementarstufe des Bildungssystems“) zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und dem System formaler Bildung, der Ausbau der Kindertagesbetreuung als qualitätsvolles Angebot einschließlich der Kindertagespflege, das Vorantreiben der interkulturellen Öffnung der Einrichtung und Angebote. Gadow u. a. (2013, 32f ) identifizieren nachdrückliche Anforderungen zur Umgestaltung der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe, für deren Bewältigung Steuerungskapazitäten erforderlich sind. Sie sehen die Jugendämter tendenziell überfordert „durch die Komplexität der Steuerungsanforderungen, die sich aufgrund der inhaltlichen Aufgaben und der vielschichtigen Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe ergeben, durch die stetige Beschleunigung von Entscheidungsfindungsprozessen sowie durch die Unübersichtlichkeit in Planungsprozessen bei wachsenden Intoleranzen gegenüber Planungsfehlern“ (Gadow u. a. 2013, 34). In den zitierten Anmerkungen von Gadow u. a. wird bereits erkennbar, dass eine Differenz zu konstatieren ist zwischen der zugespitzten Notwendigkeit von Jugendhilfeplanung einerseits und dem faktischen Stand, in dem sich die Jugendhilfeplanung in einem Großteil der Jugendämter befindet, andererseits. Die Praxis der Jugendhilfeplanung befindet sich insgesamt in einem Zustand, der wenig Anlass zu Optimismus bietet, will man die realen Handlungs- und Entwicklungspotenziale der Jugendhilfeplanung einschätzen im Hinblick auf die skizzierten Herausforderungen, mit denen das Jugendamt als die zentrale Steuerungsorganisation in der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe konfrontiert wird. 473 uj 11+12 | 2015 Steuerungserwartungen an das Jugendamt Zu konstatieren sind konzeptionelle Probleme in der Profilbildung der Jugendhilfeplanung (Modalitäten der Abgrenzung des Arbeitsfeldes gegenüber anderen Handlungsfeldern und Steuerungsformen im Jugendamt), Probleme durch unzureichende personelle und sachliche Ausstattung sowie Probleme in den organisationalen Abläufen (mangelnde Integration in die Arbeitsabläufe des Jugendamtes, Abhängigkeit von eher zufällig entstehenden Aufgabenzuweisungen, mangelhafte organisationale Verankerung der Verkoppelung zu anderen kommunalen Planungsbereichen etc.) (vgl. dazu Merchel 2010 a, 401ff und 2012; BMFSFJ 2013, 391). Somit ist auch die Jugendhilfeplanung an vielen Orten nur begrenzt in der Lage, die Bewältigung der skizzierten Steuerungsaufgaben konzeptionell kreativ und engagiert zu unterstützen - ein Mangel, der Möglichkeiten für eine bessere Praxis der Steuerung in der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe und für einen verbesserten Umgang mit dem Steuerungsdruck ungenutzt lässt. Eine „Neu-Aktivierung“derJugendhilfeplanung im Sinne einer Profilbildung, einer verbesserten personellen und sachlichen Ausstattung sowie einer verbesserten organisationalen Verankerung zwischen Eigenständigkeit des Aufgabengebiets einerseits und Ankoppelung an organisationalen Strukturen und Abläufen im Jugendamt andererseits ist dringend erforderlich (Bundesjugendkuratorium 2012)! Perspektiven Einige perspektivische Aspekte zu einer Verarbeitung des intensivierten Steuerungsdrucks auf die Jugendämter sind bereits angedeutet worden: Beachtung von und balancierender Umgang mit Spannungsfeldern und Paradoxien, sorgsame Beobachtung und Auswertung der Folgen und unbeabsichtigten Nebenfolgen von Entscheidungen und Steuerungsaktivitäten im Jugendamt, reflexive Verkoppelung von managementorientierten Steuerungsmodalitäten (Verfahrensstandardisierung als Teil von Qualitätsmanagement, Controlling etc.) mit den Eigenlogiken der Jugendhilfe-Aufgabenfelder, Neuaktivierung von Jugendhilfeplanung. Es geht also insbesondere um Formen der reflexiven Steuerung, bei der die mangelnde intentionale Steuerbarkeit von sozialen Systemen (wie z. B. dem Jugendamt) sowie die elementare Unsicherheit und begrenzte Planbarkeit in den Aufgabenfeldern der Kinder- und Jugendhilfe aufgegriffen und ein dafür angemessenes Steuerungsverständnis entwickelt wird (s. dazu Merchel 2015 e, 56ff ). Die zunehmenden Steuerungsanforderungen, mit denen Jugendämter konfrontiert werden, erfordern eine Organisationsentwicklung, die ausgerichtet ist an der Leitorientierung einer „organisationalen Lernfähigkeit“ (Merchel 2010 b). Dies ist zugegebenermaßen besonders schwer zu realisieren innerhalb einer - trotz aller Bemühungen zur „Verwaltungsreform“ - durch die Tradition der Bürokratie geprägten Kommunalverwaltung. Dazu bedarf es entsprechender Leitungspersonen, die Formen der reflexiven Steuerung entwickeln, praktizieren und gegenüber den Fachkräften im Jugendamt erlebbar machen. Und es bedarf einer sorgfältigen Personalentwicklung im Jugendamt, denn der Umgang mit den skizzierten Steuerungsanforderungen fordert die Fachkräfte in einer von vielen Fachkräften als Belastung empfundenen Weise: Denn auch sie müssen nicht nur mit quantitativ wachsenden Arbeitsanforderungen, sondern auch mit den qualitativen Belastungen durch die Konfrontation mit Paradoxien umgehen können, ihr Arbeitsalltag wird von den verschiedenen Faktoren des Steuerungsdrucks beeinflusst, und sie müssen sich in die reflexiven Steuerungsmodalitäten aktiv einbringen. Und dies alles in einer Situation, in der sich die Jugendämter anders als in früheren Zeiten einer Konkurrenz der Träger um qualifiziertes und motiviertes Personal stellen müssen. Eine sorgsame und qualifizierte Personalentwicklung wird zu einem bedeutsamen Systemerfordernis, um auch personell adäquat mit dem intensivierten 474 uj 11+12 | 2015 Steuerungserwartungen an das Jugendamt Steuerungsdruck auf Jugendämter umgehen zu können (Pamme/ Merchel 2014). Nicht zuletzt ist eine offensive Debatte darüber notwendig, was und wie und mit welchen Erwartungen in der Kinder- und Jugendhilfe gesteuert werden kann. Viele Äußerungen, in denen Steuerungsanforderungen an die Jugendämter gerichtet werden, enthalten unrealistische, weder theoretisch noch durch Erfahrungen begründbare Erwartungen. Vielfach wird mit „Steuerung“ die Erwartung verbunden, dass man durch zielgenaue und instrumentell durchorganisierte Steuerungskonzepte die soziale Wirklichkeit hinreichend entsprechend den politischen Intentionen und Vorgaben gestalten könne. Es käme eben nur darauf an, die „richtigen“ Hebel für die Steuerung zu finden und alle beteiligten Akteure auf ihre jeweilige Rolle zu verpflichten, die sie in einem Steuerungskonzept zugeschrieben bekommen haben. Ein solches, meist wenig offen ausgesprochenes und eher implizit vermitteltes Steuerungsverständnis, das sich am Denkmuster „Organisation als Maschine“ ausrichtet, wird den komplexen Vorgängen in der sozialen und politischen Wirklichkeit nicht gerecht, sodass diese Erwartungen häufig scheitern. Bei einem solchen Scheitern wird jedoch nicht das Steuerungsverständnis (selbst-)kritisch überdacht, sondern die Schuld für das Scheitern wird in der mangelnden Steuerungskompetenz der Jugendamtsakteure gesucht. Um solchen Fallen zu entgehen, müssen Jugendamtsakteure sowohl im Innern der Jugendämter und der Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe als auch nach außen gegenüber der Verwaltungsspitze und der Kommunalpolitik die Debatte um die Steuerbarkeit der Kinder- und Jugendhilfe und um ein adäquates Steuerungsverständnis offensiv angehen und gestalten. Prof. Dr. Joachim Merchel Fachhochschule Münster Fachbereich Sozialwesen Hüfferstr. 27 48149 Münster jmerchel@fh-muenster.de Literatur BMFSFJ (Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend) (Hrsg.) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht (BT-Drs. 17/ 12200). Eigenverlag, Berlin BMFSFJ (Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend) (Hrsg.) (2002): Elfter Kinder- und Jugendbericht (BT-Drs. 14/ 8181). Eigenverlag, Berlin- Bode, I., Turba, H. (2014): Organisierter Kinderschutz in Deutschland. Strukturdynamiken und Modernisierungsparadoxien. Springer VS, Wiesbaden Bode, I., Turba, H. (2015): Warum wird das „ganz normale Chaos“ zum Problem? Jugendämter als Hybridorganisationen mit Souveränitätsverlust. In: Apelt, M., Senge, K. (Hrsg.): Organisation und Unsicherheit. Springer VS, Wiesbaden 2015, 105 - 121 Bundesarbeitsgemeinschaft ASD/ KSD (2013): ASD - die bedrohte Berufsidentität der Fachkräfte und der Zustand der Organisation. Ein Aufruf zur kritischen Debatte um Zukunftsperspektiven im ASD. Das Jugendamt 86, 625 - 629 Bundesjugendkuratorium (2012): Eine aktive kommunale Jugendpolitik braucht eine strategisch ausgerichtete Jugendhilfeplanung - für eine Neuaktivierung der kommunalen Jugendhilfeplanung! In: Bundesjugendkuratorium (Hrsg.): Neuaktivierung der Jugendhilfeplanung: Potenziale für eine kommunale Kinder- und Jugendpolitik. Ernst Reinhardt, München, 8 - 17 Deutscher Verein (2010): Diskussionspapier des Deutschen Vereins zur Weiterentwicklung Kommunaler Bildungslandschaften. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins 90, 18 - 24 Deutscher Verein (2010): Empfehlungen des Deutschen Vereins zum Aufbau Kommunaler Bildungslandschaften. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins 87, 294 - 304 Enders, S. (2015): Jugendamt und ASD in den Medien - zwischen Überforderung und Untätigkeit? In: Merchel, J. (Hrsg.): Handbuch allgemeiner Sozia- 475 uj 11+12 | 2015 Steuerungserwartungen an das Jugendamt ler Dienst (ASD). 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München/ Basel, 418 - 430 Gadow, T., Peucker, C., Pluto, L., van Santen, E., Seckinger, M. (2013): Wie geht’s der Kinder- und Jugendhilfe? Empirische Befunde und Analysen. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel Gissel-Palkovich, I., Schubert, H. (2015): Der Allgemeine Soziale Dienst unter Reformdruck. Interaktions- und Organisationssysteme des ASD im Wandel. Nomos, Baden-Baden Hoffjan, A., Boehle, M. (2014): Auf die erreichten Wirkungen kommt es an! Organisationsübergreifende wirkungsorientierte Steuerung der Hilfen zur Erziehung. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins 94, 368 - 373 Hopmann, A. (2010): Controlling, Planung und Steuerung. In: Maykus, St., Schone, R. (Hrsg.), Handbuch Jugendhilfeplanung. 3. Aufl. VS, Wiesbaden, 309 - 318 Jordan, E., Maykus, St., Stuckstätte, E. Ch. (2015): Kinder- und Jugendhilfe. Einführung in Geschichte und Handlungsfelder, Organisationsformen und gesellschaftliche Problemlagen. 4. Aufl. Juventa, Weinheim/ Basel Kreft, D., Lukas, H. u. a. (1993): Perspektivenwandel der Jugendhilfe, Band 1 und 2. Eigenverlag ISS, Frankfurt/ M. Lotte, J., Pothmann, J. (2010): Bedarf an Hilfen für Familien ungebrochen - Inanspruchnahme steigt auf über 1 Million junger Menschen. In: KOMDAT 13, 2 - 4 Maykus, St. (2013): Bildung, Bürger und Kommune. Warum Jugendämter, Politik und Jugendhilfe Politisches einer Kommunalen Sozialpädagogik (wieder-) entdecken sollten. In: Eger, F., Hensen, G. (Hrsg.): Das Jugendamt in der Zivilgesellschaft. Juventa, Weinheim/ Basel, 190 - 226 Merchel, J. (2015 a): Qualitätsentwicklung in der Jugendhilfe: ein Auftrag des § 79 a SGB VIII und Perspektiven zur Umsetzung. In: ZFSH/ SGB 54, 241 - 246 Merchel, J. (Hrsg.) (2015 b): Handbuch allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). 2. Aufl. Ernst Reinhardt Verlag, München/ Basel Merchel, J. (2015 c): Organisationsgestaltung im ASD. In: Merchel, J. (Hrsg.) (2015 b): Handbuch allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). 2. Aufl. Ernst Reinhardt Verlag, München/ Basel, 47 - 64 Merchel, J. (2015 d): Fachliches Handeln und Finanzsteuerung. In: Merchel, J. (Hrsg.) (2015 b): Handbuch allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). 2. Aufl. Ernst Reinhardt Verlag, München/ Basel, 319 - 328 Merchel, J. (2015 e): Management in Organisationen der Sozialen Arbeit. Juventa, Weinheim/ Basel Merchel, J. (2012): Profil der Jugendhilfeplanung zur Herausbildung einer„Eigenständigen Jugendpolitik“ im kommunalen Bereich. Praxis und Handlungsoptionen in Jugendämtern. In: Bundesjugendkuratorium (Hrsg.): Neuaktivierung der Jugendhilfeplanung: Potenziale für eine kommunale Kinder- und Jugendpolitik. Ernst Reinhardt, München, 19 - 75 Merchel, J. (2011): Der „Kinderschutz“ und das rechtliche Steuerungskonzept: Anmerkungen anlässlich des Regierungsentwurfs zu einem„Bundeskinderschutzgesetz“. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens (RdJB) 59, 189 - 203 Merchel, J. (2010 a): Qualitätskriterien für Jugendhilfeplanung. In: Maykus, St., Schone, R. (Hrsg.): Handbuch Jugendhilfeplanung. 3. Aufl. VS, Wiesbaden, 397 - 406 Merchel, J. (2010 b): Verbesserung der Beobachtungsfähigkeit und Entwicklung organisationaler Lernfähigkeit: eine strategische Anforderung an Jugendämter. In: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (ZKJ) 4, 440 - 446 Mörsberger, Th., Restemeier, J. (Hrsg.) (1997): Helfen mit Risiko. Zur Pflichtenstellung des Jugendamtes bei Kindesvernachlässigung. Dokumentation eines Strafverfahrens gegen eine Sozialarbeiterin in Osnabrück. Luchterhand, Neuwied/ Kriftel Müller, H., Lamberty, J., de Paz Martinez, L. (2012): Kinderschutz und Hilfen zur Erziehung: Empirische Befunde zu Kinderschutzverdachtsmeldungen, Kindeswohlgefährdungen und der Praxis der Jugendämter. In: Das Jugendamt 85, 68 - 78 Münder, J., Meysen, Th., Trenczek, Th. (Hrsg.) (2013): Frankfurter Kommentar SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe. 7. Aufl. Nomos, Baden-Baden Nullmeier, F. (2011): Governance sozialer Dienste. In: Evers, A., Heinze, R. G., Olk, Th. (Hrsg.): Handbuch Soziale Dienste. VS, Wiesbaden, 284 - 298 Otto, H.-U. u. a. (1991): Sozialarbeit zwischen Routine und Innovation. Professionelles Handeln Sozialadministrationen. de Gruyter, Berlin Pamme, H., Merchel, J. (2014): Personalentwicklung im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD). Konzeptionelle Herangehensweisen und Arbeitshilfen. Beltz Juventa, Berlin Petersen, K. (1999): Neuorientierung im Jugendamt. Dienstleistungshandeln als professionelles Konzept Sozialer Arbeit. Luchterhand, Neuwied/ Kriftel Pluto, L. u. a. (2007): Kinder- und Jugendhilfe im Wandel. Eine empirische Strukturanalyse. DJI, München 476 uj 11+12 | 2015 Steuerungserwartungen an das Jugendamt Sann, A. (2012): Frühe Hilfen. Entwicklung eines neuen Praxisfeldes in Deutschland. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht 58, 256 - 274 Schilling, M. (2013): Anhaltender konstanter Ausgabenanstieg in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Kom- DAT 16, 1 - 5 Schone, R. (2015): Zwischen Hilfe und Kontrolle - der ASD im Spannungsfeld zwischen Dienstleistung und Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung. In: Merchel, J. (Hrsg.) (2015 b): Handbuch allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). 2. Aufl. Ernst Reinhardt Verlag, München/ Basel, 142 - 154 Schrapper, Ch. (Hrsg.) (1998): Qualität und Kosten im ASD. Konzepte zur Planung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung durch kommunale Dienste. Votum, Münster Wiesner, R. u. a. (2011): SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe. 4. Aufl. Beck, München