eJournals unsere jugend 67/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art03d
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2015
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Sexualität als (pädagogisches) Thema in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe

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2015
Reiner Wanielik
Sexualität und sexuelle Äußerungen sind in der Jugendhilfe ein Dauerbrenner. Das ist weder neu noch überraschend. Es gibt wenige Themen im Alltag der Jugendhilfe, die für mehr Auseinandersetzung, Abwehr und symbolische Handlungen sorgen als sexualitätsbezogene Lebensäußerungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
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13 unsere jugend, 67. Jg., S. 13 - 21 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art03d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Reiner Wanielik Jg. 1957; Dipl.-Sozialpädagoge, Gruppendynamiker (DGGO), Dozent am Institut für Sexualpädagogik (isp), Dortmund Sexualität als (pädagogisches) Thema in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe Sexualität und sexuelle Äußerungen sind in der Jugendhilfe ein Dauerbrenner. Das ist weder neu noch überraschend. Es gibt wenige Themen im Alltag der Jugendhilfe, die für mehr Auseinandersetzung, Abwehr und symbolische Handlungen sorgen als sexualitätsbezogene Lebensäußerungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Im Folgenden soll versucht werden, zu beschreiben, warum auch 2015 Sexualität und das Sexuelle in Institutionen der Jugendhilfe für mehr Hilflosigkeit und weniger professionellen Zugang sorgen als viele andere brisante Themen. Vor dem Hintergrund der Arbeit des Autors als Sexualpädagoge, Prozessbegleiter bei Konzeptentwicklungen und Teamentwickler in der Jugendhilfe werden die Bedingungen sexuellen Lebens von zu Betreuenden in Institutionen, die Reaktionen des Umfeldes und die Bezugnahmen von pädagogischen Fachkräften beschrieben. Abschließend werden Möglichkeiten einer Weiterentwicklung vorgeschlagen. Sexualität in Institutionen - ein negativ besetztes Tabuthema? In jeder Institution der Jugendhilfe, ob Wohngruppe, Tagesgruppe, Verselbstständigungsgruppe oder therapeutische Tätergruppe ist die Sexualität der Menschen, die dort zusammen arbeiten und leben, spürbar, sichtbar und oft störbar. Spürbar ist, dass in Teams oder bei Fortbildungsanfragen vor allem Themen wie „Sexuelle Gewalt“, „Sexuelle Übergriffe“ und „Sexueller Missbrauch“ im Vordergrund stehen; kein Wunder, sind doch MitarbeiterInnen gerade in der Jugendhilfe mit Kindern und Jugendlichen konfrontiert, die in der Familie und im familiären Umfeld sexuelle Gewalt erlebt haben. Dies führt leider dazu, dass das sexuelle Thema kaum noch positiv als Ressource oder Entwicklungspotenzial in den Blick gerät, sondern versucht wird, alles sichtbar Sexuelle zu vermeiden, sozusagen eine kleine schützende Mauer um die Kinder und Jugendlichen zu bauen. Organisierte sexualpädagogische Arbeit zu Sexualität, Liebe, Lust und Leidenschaft unter Einbeziehung des Themas Grenzen und Grenzverletzung ist daher notwendig und sinnvoll. 14 uj 1 | 2015 Sexualität als pädagogisches Thema Erfolg versprechend wird diese Arbeit immer dann, wenn sie nicht in rein negativer Orientierung nur die aktuellen Probleme thematisiert, sondern da, wo sie in einer positiven Orientierung auf die Förderung grundlegender Persönlichkeitsdimensionen ausgerichtet ist. Ziele dieser Arbeit sind z. B.: ➤ Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung, ➤ Ja- oder Nein-Sagen zu können, ➤ Wissen über sexuelle/ körperliche Vorgänge, ➤ Bescheid wissen über Verhütungsmittel, ➤ sich in der Sprache ausdrücken können, in der man sich wohlfühlt, ➤ Wissen, dass Sexualität nicht nur schön, sondern auch problematisch sein kann. Über ein reines Wissen hinaus geht es also um so grundsätzliche Ziele wie Beziehungs- und Lustfähigkeit, Reflexion der Geschlechtsrollen und auch Autonomie des sexualmoralischen Urteilsvermögens, um Kinder und Jugendliche überhaupt in die Lage zu versetzen, im entscheidenden Moment Schutzmaßnahmen in Gang zu setzen. Diese Ziele hören sich gut an. Erläutert man sie den pädagogischen Fachkräften z. B. in Fortbildungszusammenhängen, kommt Zustimmung. Geht es um die praktische Umsetzung dieser Ziele, kommt meist erst einmal ein großes ABER: ➤ … aber bei uns ist das nicht möglich, die Kinder haben so negative Erfahrungen gemacht, dass wir sie schützen müssen vor Sexualität. ➤ … aber bei uns ist das nicht möglich, weil das Landesjugendamt (wahlweise Leitung, Eltern, Träger) uns das verbietet. Selten hört man bei Vorgesprächen davon, dass die Beteiligten selbst unsicher sind, nicht wissen, wie sie sich bei sexualitätsbezogenen Themen ausdrücken können und sollen. Auch ist selten die Rede davon, dass über wenig Wissen über sexuelle Zusammenhänge verfügt wird. Es wird eher befürchtet „ein Fass aufzumachen“, wenn Sexuelles zum Thema gemacht wird. Die meisten fühlen sich unwohl oder überfordert, wenn sie Persönliches gefragt werden, wenn sie auch als sexuelle Wesen angefragt sind. Neben persönlichen Faktoren spielt immer wieder auch eine Rolle, wie die Einschätzung des Umgangs mit dem Thema in der Einrichtung ausfällt. Oft wissen gerade junge MitarbeiterInnen nicht, wie die Leitungsebene darüber denkt. Es gibt dann auch weder in Konzepten noch bei Dienstbesprechungen Klarheit über Tun und Lassen. Meist sind es die „schwierigen“ Kinder und Jugendlichen, die wahlweise sexuell problematisch oder auffällig sind, für die man im Umgang Hilfe und Unterstützung will. Sich selbst mit den eigenen gelebten und ungelebten Anteilen sexuellen Lebens in den Blick zu nehmen, ist zu Beginn von Fortbildungsveranstaltungen für die meisten Fachkräfte indiskutabel. Dies ist auch mehr als verständlich. In Institutionen, die nichts mehr fürchten als einen Skandal um sexuelle Übergriffe, der von den Boulevardmedien ausgeschlachtet wird, ist ein entspannter Umgang mit sexuellen Themen oft kaum möglich. In Beziehungen, die von einem Machtungleichgewicht bestimmt sind, bei der Schwere mancher Traumatisierungen der zu Betreuenden und der Unsicherheit über rechtliche Rahmenbedingungen (mit einem Bein im Knast! ) lassen sich lebendige Zugänge zu Sexualaufklärung und sexuellem Leben kaum denken und noch schwerer herstellen. Durch Verunsicherungen aufseiten der PädagogInnen kann eine Lähmung entstehen, ein Nichtthematisieren von sexuellen Themen, das sich auf Kinder und Jugendliche überträgt. Sexualpädagogik aber kann und darf sich nicht im Schutzauftrag vor sexueller Gewalt erschöpfen. Mädchen und Jungen müssen nicht nur Nein- Sagen und sich schützen lernen. Sie brauchen im Feld sexuellen Lebens und Lernens auch die Erlaubnis und bisweilen die Ermutigung, sich 15 uj 1 | 2015 Sexualität als pädagogisches Thema auszuprobieren und zu experimentieren. Für begleitende Erwachsene ist es manchmal schwer zu ertragen, dass Grenzüberschreitungen und unangenehme Erfahrungen in gewissem Maße normaler Teil einer selbstbestimmten sexuellen Entwicklung sind. Mädchen und Jungen müssen selbst lernen, ihre Grenzen zu spüren und zu ziehen oder mit Grenzüberschreitungen umzugehen. Nur so kann sich ein eigenes Bild von gelungener Sexualität entwickeln. Freude und Euphorie, Geilheit und Scham gehören ebenso wie Schmerz, Trauer und Verunsicherungen zur sexuellen Entwicklung im Leben eines Menschen dazu. Und dies gilt für alle Akteure im Jugendhilfezusammenhang. Zu gerne wird nur auf die Klientel geschaut und vergessen, mit welchen Verdrängungsleistungen die Erwachsenen selbst in den pädagogischen Settings unterwegs sind. Wenn das Widersprüchliche sexuellen Lebens nicht wahrgenommen und grundsätzlich akzeptiert wird, verkommt alle sexualpädagogische Bemühung schnell zu einer Gefahrenabwehrpädagogik und es gibt wenig Handlungsspielraum. Statt einer sicheren Umgebung für das Ausprobieren von Nähe und Distanz, von erotischer Gravitation und Herantasten an partnerschaftliche Sexualität wird Sexualität in die Grauzone gedrängt. Jugendliche probieren sich dann da aus, wo es keiner sieht. Sie fragen nicht an und lernen nicht zu verhandeln, Kompromisse zu schließen, kurzum sie erhalten keine Möglichkeit, mit den Ambivalenzen ihrer eigenen sexuellen Entwicklung bei den Erwachsenen „zu landen“. Es gibt klare rechtliche Regelungen im Bereich des Sexualstrafrechts und der Aufsichtspflicht. Diese erlauben genau den pädagogischen Raum, der notwendig ist, um eine Entwicklung von Jugendlichen zu fördern. Mitnichten stehen PädagogInnen immer „mit einem Bein im Gefängnis“, wenn sie sexuelle Aktivitäten von Jugendlichen zulassen oder fördern. Dies wird als Argument dann gerne gebraucht, wenn das Thema erledigt werden soll. Wo alles verboten ist, muss man sich auch keine Gedanken um mögliche Spielräume machen. Nähe und Distanz in der pädagogischen Arbeit Wann immer Menschen zusammenkommen, spielen Gefühle für die Gestaltung der Beziehungen eine wichtige Rolle. Das gilt selbst bei scheinbar so rationalen Vorgängen wie dem Kaufen einer Fahrkarte am Schalter, der Beratung in der Bankfiliale oder dem Einkauf an der Käsetheke. Blitzschnell scannen die Beteiligten sozusagen ab: „Wen habe ich da vor mir, ist er mir sympathisch/ unsympathisch, wie redet er mit mir, was denkt er, wen er vor sich hat? “ Kommunikation, selbst per SMS oder Mail, löst immer auch Gefühle aus (vgl. Vier-Ohren-Modell der Kommunikation, Schulz von Thun 1981). Oft sind diese Gefühle den Beteiligten nicht bewusst, vielleicht wollen sie sie auch nicht wahrhaben oder sie empfinden sie sogar als störend. Jedoch bestimmen Gefühle weitgehend unsere Handlungen, deshalb ist es immer gut, sich dieser Gefühle so weit wie möglich bewusst zu werden. Mit Jugendlichen ist pädagogische Arbeit immer auch Beziehungsarbeit. Die Jugendlichen wollen wissen: „Wen habe ich da vor mir, was hat der/ die für mich? Was verbirgt diese Person? Wo kann ich was lernen und kann ich ihr vertrauen? “ Dies geschieht meist nicht, indem die Beteiligten sich gegenseitig befragen, sondern indem sie handeln. Dazu drei Beispiele: ➤ In der Wohngruppe fällt Raphael immer wieder dadurch auf, dass er die Jahrespraktikantin mit derben Sprüchen empfängt, wenn sie Dienst hat. Er findet ihre Kleidung sexy und macht sich laut Gedanken, wie ihr Freund wohl darauf abfährt. Der Praktikantin ist das peinlich und es ärgert sie auch. 16 uj 1 | 2015 Sexualität als pädagogisches Thema Die KollegInnen ermahnen Raphael immer wieder, das zu unterlassen, weil es übergriffig sei, und drohen mit Sanktionen. ➤ Im Zeltlager der Jugendhilfeeinrichtung kuschelt sich die 15-jährige Nadine beim abendlichen Lagerfeuer ganz nah an den Erzieher. Dem ist das einerseits unangenehm, andererseits fühlt er auch eine väterliche Zuneigung. Er ist hin- und hergerissen zwischen schroffer Ablehnung und positiver Bestätigung. ➤ Zwei 14-jährige Jungen nehmen in der Tagesgruppe immer wieder körperlichen Kontakt (Kitzeln, Festhalten, Versuche einen Kuss auf die Wange zu geben) mit einem 13-jährigen Mädchen auf, das sich nicht eindeutig dagegen abgrenzt. Manchmal wird es ihr zu viel und sie bittet die Pädagogin um Hilfe. Manchmal nimmt sie von sich aus Kontakt zu den Jungen auf und initiiert Fangspiele. Bei den drei Beispielen könnte die Lösung lauten: verbieten. Und wenn das Verbot nicht eingehalten wird: sanktionieren. Übersetzt man die Beziehungsangebote der Beteiligten, könnten diese lauten: Ich mag dich, ich will dir nah sein, weiß aber nicht, wie ich das gestalten soll. Ich mache es mal so, wie ich denke, dass es gehen kann. In der Nähe kann das Bedürfnis nach Distanz aufkommen, weil die Nähe zu intensiv und als unpassend erlebt wird. In der Distanz kann das Bedürfnis nach Nähe entstehen, weil das zu distanzierte Verhältnis keine wertschätzende Beziehung ermöglicht. Natürlich muss die Lebensgeschichte der beteiligten Jugendlichen im Blick sein, ihre Versehrungen, Traumatisierungen und Defizite. Im gleichen Maße müssen aber auch die Lern- und Gestaltungsmöglichkeiten bei solchen Aktionen wahrgenommen werden. Und genau dies geschieht oft nicht. Mit oft diffusen abwehrenden Reaktionen werden gefühlsmäßig aufgeladene Interaktionen „abgewürgt“. Lehr- und Lernbeziehungen brauchen aber Emotionen: Dann erst werden sie lebendig. Diese Emotionen sind schwer funktionalisierbar oder an- und ausknipsbar wie ein Lichtschalter. Und sie sind bei lebendigen Menschen prinzipiell offen. Wie aber den Umgang mit Nähe und Distanz, mit Macht und Erotik in pädagogischen Beziehungen gestalten? Ein schwierige Aufgabe, weil das Schutzinteresse von Eltern, Institutionen und pädagogischen Teams oft überwiegt. Um nicht eine kontraproduktive Gefahrenabwehrpädagogik zu betreiben, müssen wir uns von Ein-für-alle-mal-Lösungen verabschieden. Zu widersprüchlich ist das meiste, was im Zusammenleben von Menschen in Bezug auf Sexualität, Erotik und Lust passiert. Was es so schwer macht In der Arbeit mit Jugendlichen fühlen sich nicht wenige PädagogInnen immer wieder mal machtlos und ohne Einfluss auf das Gruppengeschehen. Dies ist aber nur ein Teil des Geschehens, denn „…[…] jede pädagogische Beziehung [ist] auch eine machtvolle: Die Pädagogin oder die Mutter kann ihren Willen gegen den des Kindes durchsetzen. Gleiches gilt für PädagogInnen in Institutionen. Verhängnisvoll ist es, wenn die Pädagogik sich an dieser Tatsache vorbeilügt“ (Conen 2002, 197). Pädagogisches Personal (und auch all die Hausmeister, das hauswirtschaftliche Personal, in großen Institutionen die Handwerker und Spezialisten), kann in die Lage kommen, Macht auszuüben und diese nicht nur zum Wohle des Gegenübers zu nutzen. Die Gestaltung von Nähe und Distanz ist auch von Macht und Einfluss bestimmt - und nicht nur vonseiten der Erwachsenen. Gerade Jugendliche probieren mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln aus, wo die Grenzen und auch Verführbarkeiten des Erwachsenen liegen. Das gehört zu einer normalen Entwicklung der Identität und Persönlichkeit dazu. 17 uj 1 | 2015 Sexualität als pädagogisches Thema Darauf nicht mit Grenzüberschreitung zu reagieren, bedarf einer gut entwickelten Persönlichkeit aufseiten der Betreuenden und auch einer Bereitschaft, dieses ambivalente Verhältnis von Pädagogik und Macht in der Institution und im Team aufzugreifen und es in Supervision, Teamentwicklung und Fortbildung zum Thema zu machen. Meist aber werden Regelungen getroffen, Schriftstücke und Absichtserklärungen unterschrieben, die in ihrem Wortlaut sicher Sinn machen, aber den Handelnden wenig Möglichkeiten geben, all die widersprüchlichen Situationen und Gefühle zu benennen, die auftauchen, wenn Erwachsene mit Jugendlichen arbeiten. Eher wird verleugnet und mit Hinweis auf die klare Rechtslage offene Auseinandersetzung vermieden. Aber gerade diese bietet erst ein Lernfeld und die Möglichkeit, unbewusste Impulse und Anteile zu erkennen. Deshalb, auch wenn es schwer fällt, ein Mehr an Ansprechen der wirklich „heißen Eisen“ anstatt eines Mehr an trügerischer Verregelung, wie sie in vielen Institutionen und auch Jugendverbänden heute üblich ist. Eine Fülle von Selbstverpflichtungen und Konzepten ist entstanden, die vor allem den Verantwortlichen das Gefühl geben, etwas getan zu haben. Meist wird aber nicht deutlich, wie die handelnden Personen bei ihrer schwierigen Aufgabe Heranwachsende zu betreuen, mit deren Sexualität und sexuellen Äußerungen umgehen sollen. Regeln und Normen Die pädagogisch professionell Tätigen stehen in sehr unterschiedlichen Kontexten vor der Aufgabe, die Kinder und Jugendlichen mit deren persönlichen und oft auch intimen Themen zu begleiten und zu fördern. Ihnen dabei nicht zu nahe zu treten oder in zu große Distanz zu geraten, ist die große Herausforderung. Anders als Eltern müssen PädagogInnen erst die Fähigkeit lernen, Nähe und Distanz zu verschränken und darüber hinaus zu vermitteln, warum sie so und nicht anders agieren und reagieren. Klare Normen und Regeln in den Institutionen sind daher eine unerlässliche Grundlage. Sie bieten die Sicherheit und damit auch erst den „Spiel- Raum“ für geschützte und fördernde Beziehungen. Alle Beteiligten müssen vor dem Missbrauch von Macht in pädagogischen Beziehungen geschützt werden. Dies darf aber nicht dazu führen, dass „Körperberührung unter Generalverdacht“ steht, wie es die Frankfurter Professorin Ulrike Schmauch einmal formuliert hat. Jugendliche haben ein erhebliches Verführungspotenzial gegenüber ihren BetreuerInnen. Dies zu ignorieren und die BetreuerInnen allein mit den Anforderungen z. B. im Umgang mit sich ausprobierenden Pubertierenden zu lassen, lässt oft eine Grauzone entstehen. Mit dem Hinweis„aufzupassen“, ist das Thema nicht erledigt. Die Verantwortlichen müssen sensibel für diese Vorgänge sein und die MitarbeiterInnen mit klaren Regeln, aber auch mit Verständnis und Anerkennung für deren emotionale Konflikte in der pädagogischen Arbeit unterstützen. Wenn eine Atmosphäre geschaffen wird, die das Ansprechen von Widersprüchlichem und Überforderndem ermöglicht, wird Transparenz geschaffen. Wenn sich keiner traut, über seine ambivalenten Gefühle zu reden, weil man die angeblich nicht haben darf, werden erst die Probleme geschaffen, die nicht entstehen sollen. Ein Merksatz könnte lauten: Lasst PädagogInnen nicht allein in der Auseinandersetzung mit sich ausprobierenden Pubertierenden! BetreuerInnen müssen wissen, ➤ dass Jugendliche in jeder Situation mit ihren körperlichen, emotionalen und sozialen Erfahrungen und Bedürfnissen präsent sind; ➤ dass sich bei Kindern und Jugendlichen die Fähigkeit zu selbstkontrollierendem und damit auch situationsangemessenem Verhalten erst entwickelt und daher Übungsfelder und Begleitung bedarf; 18 uj 1 | 2015 Sexualität als pädagogisches Thema ➤ dass erwachsene Personen immer Verantwortung für die Möglichkeit der ungestörten Entwicklung von Kindern und Jugendlichen tragen; ➤ dass die Balance von Nähe und Distanz durch ein meist gleichzeitig vorhandenes Machtgefälle zum Negativen hin beeinflusst werden kann und entsprechend kontrolliert werden muss; ➤ dass es zu vermeidende Kontakte und Situationen gibt, in denen angemessene Nähe und Distanz nicht mehr gewährleistet sind; ➤ dass die selbst gewählten, zugewiesenen oder erworbenen Rollen im Kontakt mit Jugendlichen einzuhalten sind. Und sie sollten spüren können, wo die Kontakte notwendig und hilfreich für die Entwicklung des Gegenübers sind und wo die eigenen Bedürfnisse nach Nähe und Anerkennung überwiegen. Die hohe Anforderung ist, die eigenen Haltungen und Bedürfnisse zu reflektieren - und gleichzeitig in der Arbeit mit Jugendlichen das Vertrauen und die Intensität der Beziehung zu fördern. Reflektieren heißt zunächst nichts anderes, als sich selbst in Situationen wahrzunehmen, seine Gefühle benennen und seine Absichten aufdecken zu können. Hinzu kommt, die Unterstützung von KollegInnen zu erbitten: „Wie erlebst du mich in so einer Situation? “ „Was nimmst du an mir wahr, was mir möglicherweise verborgen bleibt? “ Es hilft wenig, wenn sich Dritte über mich und meine Verhaltensweisen unterhalten und sie möglicherweise kritisch sehen, ich aber nichts davon erfahre. Leider herrscht in Teams oft eine Gesprächskultur (man will nett zueinander sein), die es verhindert, direkte und kritische Rückmeldungen als Entwicklungschance zu begreifen. Kommunikation mit allen Beteiligten mindert die Gefahr von Grenzübertretungen. Verschweigen fördert die Entwicklung einer Atmosphäre, in der Grenzverletzungen geschehen können. Und genau dies ist im Jugendhilfealltag eher die Regel als die Ausnahme. Wenn bei geschlechtergetrennter Gruppenarbeit im sexualpädagogischen Fortbildungskontext die männlichen Erzieher über ihre (sexuellen) Gefühle gegenüber zu Betreuenden reden, dann meist mit dem Zusatz, wenn das in einer Teamsitzung veröffentlicht würde, wäre „Mann“ seinen Job los. Kolleginnen aus dem Institut für Sexualpädagogik machen ähnliche Erfahrungen mit Erzieherinnen. Der normative Druck in Richtung richtiges Verhalten lässt es meist nicht zu, ambivalente Gefühle anzusprechen. Aber erst die Besprechbarkeit dieser Ambivalenzen eröffnet die Möglichkeit der Weiterentwicklung und könnte mehr Verhaltenssicherheit geben. Öffentliche Wahrnehmung von Sexualität und institutioneller Umgang Drei große „sexuelle“ Themen dominieren den öffentlichen Diskurs über Sexualität. Sexueller Missbrauch, Pornografie und Prostitution. Die sexuelle Gewalt, die in Heimen, unter katholischer Trägerschaft geherrscht hat, die „verrückten“ sexuellen Beziehungen und der grenzverwischende Umgang von Erwachsenen mit Kindern in der Odenwaldschule, das Wissen um Übergriffe in Knabenchor und Umkleidekabinen von Turnvereinen, all das hat ein gesellschaftliches Klima geschaffen, das jeden und jede, der/ die für einen auch lustvollen Umgang mit Sexualität eintritt, verdächtig erscheinen lässt. Das Institut für Sexualpädagogik (isp) hat 2011 in einem Standpunkt zur Debatte um den sexuellen Missbrauch unter der Überschrift „Mehr Schutz durch weniger Sexualpädagogik? “ kritisiert: „Manche Einrichtungen glauben in der Tat, dass gerade die Entfernung sexualpädagogischer Aktivitäten ein sinnvoller Weg zur Prävention von 19 uj 1 | 2015 Sexualität als pädagogisches Thema Missbrauch sei. Sexualpädagogik wird als mögliches Instrument von Tätern in der Heranführung potenzieller Opfer an sexuelle Übergriffe gesehen. Einige Einrichtungen möchten das ,Sex-Thema‘ auch deshalb gerne loswerden, weil sie die Anstrengung scheuen, Sexualpädagogik gegenüber Eltern immer wieder neu legitimieren zu müssen. Ein Ausschluss von Sexualpädagogik und die damit einhergehende Tabuisierung sexueller Themen tragen jedoch mit Sicherheit dazu bei, dass eine Kultur des Schweigens entsteht. Die Tabuisierung signalisiert, dass Sexualität etwas Ungehöriges und Schmutziges ist. Entsprechend schwerer fällt es Opfern, aus Beschämung über diese „Beschmutzung“, an der sie indirekt beteiligt waren, über das Geschehene zu sprechen. Manchmal fehlen schlicht die nicht vermittelten Worte dafür. Es stimmt - eine Kultur umfassender Sexualitätsthematisierung zu initiieren und zu pflegen bedeutet (Überzeugungs-) Arbeit. Ein Fehlen von Sexualpädagogik spielt Tätern jedoch immer in die Hand. Täter dürfen nicht die ersten und letzten ,Aufklärer‘ sein.“ (www.isp-dortmund.de/ downloadfiles/ isp-Standpunkt%20zur%20Missbrauchsdebatte. pdf, 3) Ein sehr deutliches Plädoyer dafür, nicht einer allgemeinen Sexualfeindlichkeit das Wort zu reden, sondern kühl zu analysieren und sich auch schwierigen inhaltlichen Auseinandersetzungen innerhalb und außerhalb der Einrichtung zu stellen. Dass dies unter den Augen einer sensibilisierten und auch oft moralisch empörten Öffentlichkeit stattfindet, macht die Sache nicht einfacher. In öffentlichen Diskursen und Medien ist Sexualität häufig verwoben mit Aggression und Gewalt. Sie erscheint als Ganzes gefährlich und unkontrollierbar. Nach wie vor wird meist unterschieden zwischen böser, übergriffiger männlicher Sexualität und eher friedlicher, partnerschaftlicher weiblicher Sexualität. Dieser gesellschaftliche Mainstream beeinflusst die Haltungen, Meinungen und Zugänge von Mitarbeitenden in der Jugendhilfe, der Jugendämter und Landesjugendämter. Wie könnte es auch anders sein. Dies mitzureflektieren, wenn Konzepte zur Sexualpädagogik und Prävention sexueller Gewalt entwickelt werden sollen, ist Voraussetzung für ein Gelingen solcher Anstrengungen. Wahrnehmung von Sexualität (nicht nur) in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe Bei einem Sondierungsgespräch über die Haltungen und Herausforderungen beim Thema Sexualität in der Praxis der Jugendhilfe mit VertreterInnen von Jugendhilfeinstitutionen und MitarbeiterInnen aus der Tätertherapie in Nordrhein-Westfalen wurden u. a. folgende Knackpunkte genannt, wenn es um die Wahrnehmung von Sexualität in Institutionen geht: ➤ Der Begriff der sexuellen Grenzverletzung entwickle sich inflationär, dehne sich aus, auch aufseiten der Jugendämter. ➤ Bestimmte Begriffe könnten fast nicht mehr genutzt werden, so z. B. das „Trauma in der Biografie“, weil es von den LeserInnen sofort mit dem Thema Missbrauch assoziiert würde; das würde zu einer Wortwahl wie „Probleme in der Lebensgeschichte“ führen. ➤ Sprachliche Probleme bestünden auch bei der näheren Beschreibung von Sexualität als „normale“, „gesunde“, „natürliche“, „gute“, „dysfunktionale“ Sexualität - was sei das überhaupt? ➤ Der Begriff „Opfer“ sei mythisch aufgeladen, Begriffe wie „Geschädigte“ oder „Verletzte“ seien besser. ➤ Es gäbe Dogmen wie z. B.: sexueller Missbrauch sei das Schlimmste, was einem Menschen zustoßen könne; alle Opfer würden lebenslang unter den Folgen leiden; Opfer würden nie lügen, TäterInnen immer; deshalb müsse man im Zweifelsfall immer den Opfern glauben. ➤ Der Schutzauftrag führe zu einer kontrollierenden Praxis, was Rechte von Kindern und Jugendlichen verletze. 20 uj 1 | 2015 Sexualität als pädagogisches Thema ➤ Hinter dem Schutzauftrag stehe oft das Bedürfnis nach eigener rechtlicher Absicherung der beteiligten Professionellen. ➤ Es bestehe Angst vor den Medien und der Öffentlichkeit, die die eigene Existenz gefährden könnten; zu den klassischen Medien müsse man auch soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter rechnen, mit denen selbst Jugendliche einen Shit-Storm gegen Einrichtungen und PädagogInnen verursachen könnten. Zur Öffentlichkeit gehörten auch Heimaufsicht bei den Landesjugendämtern und die Jugendämter. Es bestehe Angst davor, dass mit einem entsprechenden Ruf die Zuweisungen abnehmen würden mit der Folge nicht belegter Plätze. ➤ Die strafrechtliche Drohung des § 180 StGB verunsichere die Fachkräfte. Auf der Hinterbühne der Diskussionen über das „Wie“ und „Was“ sexuellen Lebens in Institutionen gibt es zahlreiche Annahmen, Haltungen und nicht offen thematisierte Grundüberzeugungen der Teilnehmenden, z. B.: ➤ Kinder haben keine Sexualität - es gilt die kindliche Unschuld. ➤ Es bestehen unbewusste kollektive Schuldgefühle über den Umgang mit Kindern in dieser Gesellschaft. ➤ Familienideologien suggerieren die Familie als Ort der Heimat, des Schutzes und der Harmonie. ➤ Alte Funktionen und Bilder von Familie lösen sich auf. Riskante Freiheiten in Form der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensentwürfen entstehen. ➤ Die Postmoderne in der westlichen Welt mit ihren scheinbar grenzenlosen Freiheiten der Individuen verlangt nach einem Gegenpol, der diese Freiheiten auch auf der symbolischen Ebene einschränkt. ➤ Ideen und Ideologien der Autonomie stehen einer real erlebten Abhängigkeit oder sogar dem Ausgeliefertsein gegenüber. ➤ Die latente Sexualfeindlichkeit in der Gesellschaft - der „Sexualtrieb“ erscheint als das Böse schlechthin. ➤ Die Verleugnung der Verbindung von Sexualität und Aggression. ➤ Die Verleugnung des Konflikthaften von Sexualität. Über all diese „blinden Flecken“ und vermeintlichen „Wahrheiten“ müsste im Zusammenhang von sexualitätsbezogener Arbeit in der Jugendhilfe nachgedacht, reflektiert und diskutiert werden. Die Fokussierung auf praxisbezogenes Denken und Handeln - verbunden mit Fragen wie z. B.: Welche Methoden gibt es, damit die Kinder lernen nicht so schlimme sexuelle Wörter zu sagen? Was können wir tun, damit das Onanieren aufhört? Wie verhindern wir, dass die Mädchen sich so aufhübschen, nur um den Jungs zu gefallen? - greift zu kurz. Genauso relevant ist ein Nachdenken über gelungenes sexuelles Leben, über wichtige Erfahrungen im Spiel von Nähe und Distanz im gegen- und gleichgeschlechtlichen Agieren und über die Frage: Welche sinnen- und sexualitätsfreundliche Atmosphäre findet sich eigentlich in unserer Institution? Die Ergebnisse einer solchen Diskussion nehmen wiederum erheblichen Einfluss auf die konzeptionell begründete Beantwortung konkreter Fragen wie z. B.: Was soll erlaubt, was verboten sein? Dürfen 16-Jährige sexuelle Aktionen wie einverständliches Petting, Oral- und Geschlechtsverkehr auf dem Gelände der Einrichtung praktizieren? Gibt es Räume, wo dies intimitätsgeschützt passieren kann? Gibt es einen freien Zugang zu Verhütungsmitteln? Wird über die Beschaffung der„Pille-danach“ informiert? Gibt es Mitarbeitende, die speziell für Verhütungsberatung ausgebildet sind und allen Jugendlichen zur Verfügung stehen? Sind die pädagogischen Fachkräfte zu sexuellen Themen fortgebildet oder lediglich darüber informiert? All diese Fragen müssen gestellt und beantwortet werden, um mehr Fortschritt im sensiblen Feld der Sexualentwicklung und -begleitung zu erzielen. 21 uj 1 | 2015 Sexualität als pädagogisches Thema Fazit und Ausblick Die Bedingungen für eine sexualfreundliche Atmosphäre in den Institutionen der Jugendhilfe sind m. E. im Moment nicht besonders gut. Es gibt aber auch Beispiele, die hoffnungsvoll stimmen: Wenn z. B. die Leitung einer großen Einrichtung mehr als die Hälfte der Mitarbeiterschaft sexualpädagogisch fortbilden lässt, aufgrund des Wissens, dass es einer gewissen Sättigung bei der Beschäftigung mit einem Thema bedarf, damit es im Erziehungsalltag wirksam werden kann; oder wenn die Initiative eines Trägerverbundes speziell für Mitarbeitende aus der Jugendhilfe in NRW eine sexualpädagogische Jahresfortbildung anbietet (www.fachpool.de/ in dex.php/ sexualpaedagogik/ seminar). Reiner Wanielik Training und Beratung Institut für Sexualpädagogik Friedrich-Ebert-Ring 37 56068 Koblenz www.isp-dortmund.de Literatur Schulz v. Thun, F. (1981): Miteinander Reden - Störungen und Klärungen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Conen, M.-L. (2002): Institutionen und sexueller Missbrauch. In: Bange/ Körner (Hrsg.): Handwörterbuch sexueller Missbrauch. Hochgrefe, Göttingen, 196 - 202