unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art11d
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Jugendliche Raumaneignung als „Expanded Learning“
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Ulrich Deinet
Der Beitrag geht von einem Fallbeispiel aus, in dem zwei sehr unterschiedliche Jugendcliquen um einen Treffpunkt im öffentlichen Raum konkurrieren und mithilfe eines mobilen Jugendarbeiters schließlich zu einer schwierigen, aber gemeinsamen Nutzung des Treffpunkts finden. Die Interpretation des Fallbeispiels mit dem Konzept der "Raumaneignung" als Selbstbildungsprozess ist mit der Chance verbunden, außerschulische Bildungsprozesse, also "Alltagsbildung", besser verstehen und beschreiben zu können.
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80 unsere jugend, 67. Jg., S. 80 - 88 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art11d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Jugendliche Raumaneignung als „Expanded Learning“ Der Beitrag geht von einem Fallbeispiel aus, in dem zwei sehr unterschiedliche Jugendcliquen um einen Treffpunkt im öffentlichen Raum konkurrieren und mithilfe eines mobilen Jugendarbeiters schließlich zu einer schwierigen, aber gemeinsamen Nutzung des Treffpunkts finden. Die Interpretation des Fallbeispiels mit dem Konzept der „Raumaneignung“ als Selbstbildungsprozess ist mit der Chance verbunden, außerschulische Bildungsprozesse, also„Alltagsbildung“, besser verstehen und beschreiben zu können. von Prof. Dr. Ulrich Deinet Jg. 1955; Dipl.-Pädagoge, Prof. für Didaktik/ Methodik der Sozialpädagogik an der Fachhochschule Düsseldorf, Leiter der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung, Mitherausgeber des Online-Journals „Sozialraum.de“ Fallbeispiel: Zwei sehr unterschiedliche Cliquen nutzen einen gemeinsamen Treffpunkt Im Rahmen der Evaluation eines Projektes berichtet ein Streetworker zum ersten Mal davon, dass einer der Treffpunkte von zwei unterschiedlichen Cliquen gemeinsam genutzt wird. Bisher ging es in dem Projekt immer darum, für einzelne Cliquen Treffpunktmöglichkeiten im öffentlichen Raum zu schaffen, diese mit den Cliquen zu planen, die Jugendlichen bei der Realisierung zu beteiligen und in der Nutzung zu begleiten. Auch wenn dabei die Öffnung für andere Gruppen immer eine gewisse Rolle spielte, war doch relativ klar, dass die jeweiligen Treffpunkte zunächst einmal von der Clique genutzt wurden, die sie geplant und aufgebaut hatte. Auch für die SozialpädagogInnen (mobile JugendarbeiterInnen, StreetworkerInnen, JugendarbeiterInnen) war dies eigentlich das gängige Muster, wobei natürlich immer wieder Konflikte auftraten, wenn Cliquen im öffentlichen Raum aneinandergerieten etc. In dem hier zu skizzierenden Beispiel ging es darum, dass der Streetworker die Möglichkeit hatte, nur einen Treffpunkt im öffentlichen Raum für Jugendliche zu gestalten, mehr aber nicht. Die Möglichkeit, mehrere Treffpunkte für unterschiedliche Cliquen zu realisieren, kam aus unterschiedlichen Gründen nicht in Betracht. Der Streetworker hatte Kontakt zu unterschiedlichen Cliquen und Gruppierungen im öffentlichen Raum und wurde von diesen auch in üblicher Weise bedrängt: „Wir brauchen einen Raum! “, sodass er nun vor einer schwierigen Entscheidung stand. Das Dilemma bestand für ihn darin, potenziell mehrere Cliquen zu kennen, mit denen man einen Raum gestalten könnte, und dass die Entscheidung für eine dieser Gruppierungen immer Kon- 81 uj 2 | 2015 Aneignung von Räumen flikte mit den anderen nach sich ziehen würde. Er kam deshalb auf die Idee, das gängige Muster zu durchbrechen, nahm Kontakt mit zwei sehr unterschiedlichen Cliquen auf und versuchte, sie für eine gemeinsame Gestaltung eines Treffs im öffentlichen Raum zu interessieren. Beide Gruppen waren zunächst streng dagegen, einer anderen Clique den zu bauenden Treffpunkt auch zur Verfügung zu stellen. Das Dilemma schien kaum lösbar, und die beiden Gruppierungen versuchten jeweils auf ihre Weise, den Streetworker davon zu überzeugen, dass sie die richtige Gruppe für den Treffpunkt seien. Die Entwicklung des Treffs begann mit der Frage nach einem geeigneten Standort. Infrage kamen einige Stellen im öffentlichen Raum, die von der Verwaltung bzw. Politik für einen Jugendtreffpunkt vorgesehen waren. Der Streetworker begann, konsequent immer abwechselnd mit den beiden Gruppen an den Fragen des Standorts und der Gestaltung zu arbeiten. Er nahm dabei die Rolle eines Mediators ein, der zwischen zwei Parteien vermittelte, d. h. in dem Fall die jeweiligen Arbeitsschritte mit beiden Gruppen getrennt durchführte. Die Jugendlichen waren damit zunächst sehr unzufrieden, mussten aber bald einsehen, dass es keine Alternative zu einer gemeinsamen Gestaltung gab, und sie waren in der Lage, ihr übliches Verhalten gegenüber der anderen Gruppe (Abgrenzung etc.) zu verändern. Es fand jedoch nie eine wirkliche gemeinsame Aktivität statt, sondern der Kompromiss bestand darin, dass die Arbeitsschritte jeweils mit den Cliquen nacheinander durchgeführt wurden. Der Streetworker musste streng darauf achten, dass keine Gruppe den Eindruck hatte, dass die andere im Vorteil sei. Die Jugendlichen wurden auch bei der Gestaltung und dem Aufbau des Treffpunkts beteiligt, auch hier mit einer klaren Arbeitsteilung. Dennoch kamen sie sich im Arbeitsprozess näher, und der Bau konnte ohne größere Konflikte bewältigt werden. Auch die Nutzung lief in der ersten Zeit getrennt, d. h. zwischen den beiden Cliquen wurden unterschiedliche Öffnungstage bzw. Nutzungstage verabredet, in der Praxis stellte sich aber relativ bald eine gewisse Tolerierung zwischen den Cliquen ein, sodass sie den Treffpunkt zwar nicht wirklich gemeinsam nutzten, aber ihre strikte Abgrenzung ein Stück weit überwinden konnten. Die aktuelle Situation stellt sich vor einiger Zeit so dar, dass es Zerstörungen und Beschädigungen des Treffs durch andere Personen gab, die polizeilich auch verfolgt wurden. Dies hat die beiden Cliquen etwas näher zusammengebracht in der Haltung, ihren gemeinsamen Treff „gegenüber anderen“ zu behaupten. Erste Interpretation: Böhnischs Milieuansatz Die beschriebene Entwicklung kann man auch mit dem von Lothar Böhnisch entwickelten Schritten der Öffnung eines Milieus beschreiben. Böhnisch unterscheidet vier Stufen der Milieubildung, die sich sehr gut auf die Arbeit mit jugendlichen Gruppen und Cliquen im Rahmen der Projekte übertragen lässt: In der „personal verstehenden Dimension“ geht es um die akzeptierende Arbeit mit den Jugendcliquen, das Verständnis ihrer Funktion für ihre Mitglieder, ihre Bedürfnisse im öffentlichen Raum, es geht um eine sozialräumliche Interpretation der Räume und Handlungen der Clique in Bezug auf ihr Umfeld, Verstehen ihrer Konflikte etc. In der„aktivierenden Dimension“ steht die Qualifizierung des Milieus im Vordergrund, d. h. die Stabilisierung der Gruppen, die Arbeit mit den Gruppen, das Heranführen an die weiteren Schritte einer Projektentwicklung, auch durch gruppendynamische Projekte, etwa Fahrten, erlebnispädagogische Ansätze. In der„pädagogisch interaktiven Dimension“ ist die Stellung der Fachkräfte im Milieu selbst angesprochen, die Verhandlungen mit den Jugendlichen über die Nutzung der Räume. Das Austragen von Konflikten z. B. über die Frage, ob und in welcher Weise Cliquenmitglieder aus- 82 uj 2 | 2015 Aneignung von Räumen geschlossen werden können bzw. neue in die Clique aufgenommen werden, gehört ebenso in diesen Bereich. Intensive Beziehungsarbeit mit den Jugendlichen, aber auch das Zurückweisen überhöhter Ansprüche sind Elemente einer pädagogisch interaktiven Intervention. In der vierten Dimension der „Netzwerkorientierung“ besteht die Rolle der Fachkräfte darin, aus den geschlossenen Milieus durch die Aktivierung sozialer Lernprozesse offene Milieus zu gestalten, was in der Nutzung des öffentlichen Raums als besonders schwierig erscheint. Es geht hier um die Toleranz gegenüber anderen Gruppen, welche die gestalteten Orte ebenfalls nutzen können, sowie um die Öffnung von Cliquen und Gruppen insgesamt: „Nur offene demokratische Milieus können in der gelungenen Balance von Gemeinschaft und Individualität erweiterte Handlungsfähigkeit und Bewältigungskompetenzen vermitteln“ (Böhnisch 1994, 222). Das Milieukonzept von Böhnisch ist sehr gut geeignet, den Umgang des Streetworkers mit den Cliquen zu beschreiben und Entwicklungstendenzen aufzuzeigen. Zweite Interpretation: Raumaneignung als (Selbst-)Bildung? In einer weiteren Interpretation kann man versuchen, das Verhalten der Jugendlichen bildungstheoretisch zu interpretieren. Zur Verfügung dafür stehen u. a. die gängigen Definitionen und Unterscheidungen zwischen formalen, informellen und non-formalen Bildungsprozessen. Auch wenn man vielleicht sagen kann, dass es in dem Fallbeispiel nicht um formale und wohl auch nicht um non-formale Bildung geht, sondern dass Bildungsprozesse hier in einem informellen Rahmen stattfinden, erschließt diese Herangehensweise nicht die spezifische Qualität der beschriebenen Prozesse. Hier könnte man eher mit Begriffen wie „kommunale Bildung“ (Coelen 2000) oder„Alltagsbildung“ (Rauschenbach 2009) arbeiten. Die Bedeutung der Räume (in sehr unterschiedlicher Weise) kann mit dem Begriff der „Raumaneignung“ aus der Subjektperspektive der Jugendlichen in den Blick genommen werden. Mit der dahinter liegenden Theorie der Aneignung soll im Folgenden versucht werden, diese Situation zu interpretieren. Dazu wird zunächst das Aneignungskonzept in seiner Entwicklung dargestellt. Vom Aneignungskonzept zur Activity Theory Im Konzept der sozialräumlichen Aneignung, welches auf die kulturhistorische Schule der sowjetischen Psychologie zurückzuführen ist, wird die Entwicklung des Menschen als tätige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt begriffen, die vordergründig in den Orten des informellen Lernens erfolgt (Deinet 2004, 178). Das Aneignungskonzept wird in Deutschland in einem ersten Schritt von Holzkamp (1983) auf eine gesellschaftliche Ebene übertragen. Demnach vollzieht sich Entwicklung der Heranwachsenden in der eigentätigen Auseinandersetzung mit der Umwelt durch die „Aneignung der gegenständlichen und symbolischen Kultur“ (Deinet 2004, 178). In einem zweiten Schritt kann der Gesellschaftsbezug des Aneignungskonzeptes vor dem Hintergrund sozialökologischer Raummodelle auf die konkreten räumlichen Strukturen übertragen werden. Dieser Schritt ist entscheidend, um den Zusammenhang von Raum und Aneignung für die sozialräumliche Entwicklung von Heranwachsenden untersuchen zu können. Aus dem aktualisierten Aneignungskonzept lassen sich insgesamt fünf konkrete sozialräumliche Aneignungsdimensionen operationalisieren, um die sozialräumliche Entwicklung von Heranwachsenden als Wechselbeziehung zwischen Raum und Mensch untersuchen zu können (Derecik 2011, 70 - 75). 83 uj 2 | 2015 Aneignung von Räumen Die Aneignung als Erweiterung motorischer Erfahrungen basiert dabei zunächst auf der grundlegenden Aneignung von Gegenstandsbedeutungen nach Leontjew (1973). Die nächsten drei Aneignungsdimensionen lassen sich anhand sozialökologischer Raumvorstellungen bestimmen (Deinet 1992, 1999), wobei Aneignung als Verknüpfung von Räumen die Schnittmenge zwischen den klassischen und den erweiterten Formen der Aneignung darstellt. Aneignung als Spacing ist schließlich den neuen Raumvorstellungen und damit dem neuen Raumbegriff von Löw (2001) zu verdanken. Alle fünf Aneignungsdimensionen basieren dabei auf der eigentätigen Auseinandersetzung der Heranwachsenden mit der Umwelt. Spacing, also das eigentätige Schaffen von Räumen, ist nicht nur eine erweiterte Form der Aneignung, sondern ermöglicht es ebenso, „neu über bildungspolitische und pädagogische Aspekte der Kämpfe um Raum nachzudenken“ (Löw 2001, 245). In dieselbe Richtung gehen auch die Überlegungen von Scherr (2002, 6), der vor allem die Bedeutung von „Rückzugsräumen“ hervorhebt und gleichzeitig den bedeutendsten Indikator für derartige Aneignungstätigkeiten liefert: „Fragt man nach den Bildungspotenzialen aktiver Raumgestaltung und -aneignung, dann ist erstens an die unterschiedlichen Arrangements von Rückzugsräumen zu denken, d. h. solcher Orte und Arrangements, die durch maximale Distanz zu den Routinen und Zwängen des Alltagslebens gekennzeichnet sind.“ Das Aneignungsverhalten von Kindern und Jugendlichen muss dabei stets als eine Form von Raumverhalten verstanden werden. Raumtheoretische Untersuchungen erfordern, sowohl die Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Raum in konkreten Situationen zu betrachten als auch die Räume und die Menschen selbst. Löw (2001, 156f ) fordert dabei zu relationalem Denken auf, d. h. dass zunächst die Wechselbeziehungen zwischen den Räumen und den Menschen zu betrachten sind, denn diese verdanken ihre Eigenschaften zu wesentlichen Teilen ihrer Wechselbeziehung zueinander. In Deutschland wird das Aneignungskonzept heute (leider) nicht sehr intensiv rezipiert, insbesondere auch nicht in der modernen Psychologie bis auf wenige Ansätze in der Entwicklungspsychologie. Das Aneignungskonzept ist auch geeignet und anschlussfähig an Positionen der Sozialen Arbeit und der Jugendhilfe, etwa der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zum aktuellen Bildungsdiskurs: Dieser scheint ja oft (zu) schulgeprägt zu sein: Chaotisches Lernen an informellen Bildungsorten beispielsweise lässt sich gewinnbringend durch eine Aneignungsperspektive aufschließen, indem das eigentätige Potenzial von Kindern und Jugendlichen beschreibbar wird. Mit der Activity Theory das Verhalten der Jugendlichen als „expansives Lernen“ verstehen Bei der Suche nach aktuellen Bezügen und Diskussionen des Aneignungskonzepts landet man schnell im angelsächsischen Raum; aber auch in Skandinavien wird das Aneignungskonzept viel intensiver diskutiert als in Deutschland. So existiert z. B. eine internationale Gesellschaft (ISCAR: International Society For Cultural And Activity Research), die regelmäßig internationale Kongresse veranstaltet und Veröffentlichungen publiziert. Dort wird der deutsche Begriff „Aneignung“ nicht verwendet (auch weil er schwer zu übersetzen ist! ), es geht u. a. um den Begriff „Lernen durch Expansion“ (Seeger 2011), so wie ihn der finnische Wissenschaftler Yrjö Engeström geprägt hat. In seinem Werk bezieht sich Engeström immer wieder auf Wygotzkis Konzept der „Zone der nächsten Entwicklung“ und dessen klassische Definition: „Es ist die Distanz zwischen dem Niveau der aktuellen Entwicklung, wie es durch unabhängiges Problemlösen gegeben ist, und 84 uj 2 | 2015 Aneignung von Räumen dem Niveau der möglichen Entwicklung, wie es gegeben ist durch ein Problemlösen unter Anleitung von Erwachsenen oder in Zusammenarbeit mit Gleichaltrigen“ (Wygotzki 1978, 86). Engeströms Leistung besteht u. a. darin, das Konzept der Zone der nächsten Entwicklung aus seiner individuellen Bedeutung (wie sie Wygotzki stark betont) als ein soziales und gesellschaftliches Phänomen entwickelt und erklärt zu haben. In seinen empirischen Studien fragt er, wie Organisationen z. B. neue Lösungen, neue Handlungsweisen, neue Ebenen ihrer Kultur erreichen, und hat damit das klassische, nur auf das Individuum bezogene Verständnis der Zone der nächsten Entwicklung weiter gespannt. In einer kontinuierlichen Entwicklung von der „Zone der nächsten Entwicklung“ bis zu seinem Konzept des„expansiven Lernens“ reformuliert Engeström die Zone der nächsten Entwicklung. Widersprüche und Konflikte als Anstoß für expansives Lernen Der Begriff des Doublebinds spielt in der Entwicklung expansiven Lernens bei Engeström eine bedeutende Rolle und wird an verschiedenen Stellen erklärt: „Die Form der Entwicklung, mit der wir es hier zu tun haben - die expansive Generierung neuer Tätigkeitsstrukturen - erfordert in anderen Worten vor allem eine instinktive und bewusste Beherrschung von Doublebinds. Ein Doublebind kann nun verstanden werden als ein soziales, gesellschaftlich wesentliches Dilemma, welches nicht durch voneinander getrennte individuelle Handlungen allein gelöst werden kann - in dem aber gemeinsame kooperative Handlungen eine historische neue Form der Tätigkeit hervorbringen können … Um in einem Dilemma erfindungsreich zu sein, bedarf es der Erfindung eines neues Instruments für die Lösung des Dilemmas“ (Engeström 2011, 187f ). Der Doublebind wird auch als Ambivalenz oder Widerspruch in einer herausfordernden Situation begriffen, in der anscheinend alte Verhaltensweisen nicht mehr gelten und neue entwickelt werden müssen, um die paradoxe Situation zu lösen. Aus der Zone der individuellen nächsten Entwicklung wird deshalb bei Engeström das Konzept des expansiven Lernens, das nur in einem sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhang entstehen kann. Interessant sind Engeströms Hinweise auf die Auswirkungen einer solchen Definition der Zone der nächsten Entwicklung in Bezug auf Lehr- und Lernprozesse: „Historisch neue Formen der Tätigkeit zu entwickeln, impliziert eine Praxis von Lehr-/ Lernprozessen, die den Lernern in ihren Lebenstätigkeiten außerhalb des Klassenzimmers folgt. Es impliziert auch die Notwendigkeit einer wirklichen expansiven Lerntätigkeit innerhalb und zwischen den Lernenden. Die pädagogische Aufgabe ist dabei zweifach: Lerntätigkeit zu entwickeln und historisch neue Formen in der zentralen Tätigkeit zu entwickeln - z. B. der Arbeit…“ (Engeström 2011, 207). Hier sind deutliche, auch räumliche Bezüge interpretierbar, die sich sehr gut eignen, das Verhalten von Jugendlichen zu erklären und die Bedeutung von Sozialräumen stärker in den Blick zu nehmen, als dies in Engeströms Werken bisher der Fall ist. Engeström im Interview zum Thema „Jugendliche im öffentlichen Raum“ Räumliche Bezüge sind bei Engeström angelegt, werden aber bisher in seinem Werk nicht wirklich konkret. Deshalb wurde im Rahmen eines Interviews 1 in Helsinki versucht, Engeström zu einer Bezugnahme auf unsere Themen jugendlicher Raumaneignung zu veranlassen. Einen konkreten Anlass dazu bieten Konflikte zwischen Ordnungsmacht und Jugend- 1 Interview im Rahmen einer Forschungsreise an die Universität Helsinki im Mai 2013. 85 uj 2 | 2015 Aneignung von Räumen lichen in der größten Shopping Mall „Kamppi“ in Helsinki. Engeström: „Im größten Einkaufszentrum Helsinkis, im ,Kamppi‘, wurden diese jungen Leute vor einigen Wochen zu laut und störend, so dass man sie rauswerfen wollte. Dies hätte der Anfang eines Lernprozesses sein können, wenn man eine Diskussion geführt hätte: Nun, wie können wir zu gegenseitigem Verständnis gelangen und eine Möglichkeit aushandeln, hier bleiben zu dürfen - vielleicht die Situation dahingehend verändern, dass sie an Bedeutung gewinnt. Das wäre Lernen - nicht-triviales Lernen. Aber ich glaube nicht, dass das in diesem Fall geschehen ist. Wahrscheinlich haben sie lediglich weitere Verbote ausgesprochen.“ (Deinet 2013) Auch hier könnte sich eine für die Jugendlichen sehr intensive Konfliktsituation ergeben, die vergleichbar ist mit der Widersprüchlichkeit und den Konflikten (Doublebinds), die Grundlage für expansives Lernen darstellen. Engeström: „Die Jugendlichen haben wenig Alternativen zum Aufenthalt in der Mall. Es ist nicht einfach für sie, alternative Verhaltensweisen zu entwickeln.EsistnochkeineDoublebind-Situation, aber es könnte eine werden, wenn alles, was sie tun, falsch ist oder unmöglich, und sie keinen Weg aus der Situation finden. Die Art von Lernprozess, die mich interessiert, beginnt oft mit solchen Konfliktsituationen, wenn es zunächst keine erprobte Lösung für ein Problem gibt. Lernen, das über bloße Anpassung hinausgeht, würde stattfinden, wenn diese jungen Leute in einer bestimmten Situation innehalten und überdenken müssten, was sie gerade tun“ (Deinet 2013) Es könnte also darum gehen, wie Jugendliche lernen, mit der neuen Situation nicht nur zurechtzukommen, sondern selbst auch neue Verhaltensweisen zu entwickeln. Sie können mit ihren bisherigen Verhaltensweisen so nicht weiter machen, sonst riskieren sie die vollständige Exklusion aus der Shopping Mall. Eine solche Konfliktsituation kann dazu führen, dass die Jugendlichen vielleicht andere Verhaltensweisen entwickeln oder dass sie sich einfach nur den Gegebenheiten anpassen, was nicht ein Prozess des expansiven Lernens wäre. In diesem Zusammenhang ist die Frage, welche Rolle PädagogInnen, z. B. StreetworkerInnen, einnehmen, die Kontakt mit solchen Jugendlichen haben. Sind sie in der Lage, aus dem Konflikt einen Lernprozess zu gestalten, der in Richtung des expansiven Lernens gehen könnte? Engeström: „Es gäbe mehr Potenzial, wenn ein Streetworker beteiligt wäre. Das hätte den Lernprozess in diesem Fall vereinfachen können, ja sogar wesentlich antreiben können. Ich denke auch, meistens ist das nötig, da es sonst in neun von zehn Fällen nicht zu einem Expansive Learning kommt, sondern höchstens zu ein paar (kläglichen) Versuchen, die jedoch erfolglos enden. Der wesentliche Punkt ist, dass die Menschen sich aufeinander einlassen und neue Methoden finden, die ihnen helfen, eine Situation zu reflektieren. Reflexionsfähigkeit ist in einer solchen Situation unerlässlich.“ (Deinet 2013) Transfer: „Raumaneignung“ und „Expanded Learning“ in der Offenen Jugendarbeit Für das Konzept der Raumaneignung wird durch Engeströms Einfluss deutlich, dass es in der Betrachtung jugendlicher Aneignungsprozesse immer auch darum gehen muss, zwischen Anpassung und „Expanded Learning“ zu unterscheiden: Wo und wie gelingt es, neue Verhaltensweisen zu entwickeln, einen Widerspruch durch die Entwicklung von Neuem zu überwinden und dadurch sein Handlungsrepertoire zu erweitern? Das Fallbeispiel vom Anfang zeigt zumindest Ansätze von Prozessen, die man mit Engeström als „Expanded Learning“ bezeichnen könnte: Alte Muster werden verlassen, sowohl aufseiten des Streetworkers als auch bei den Jugend- 86 uj 2 | 2015 Aneignung von Räumen lichen. In der Evaluation zahlreicher ähnlicher Projekte hatte es uns schon gewundert, wie automatisch die Fachkräfte davon ausgingen, dass die Treffpunkte immer nur für eine Clique oder Gruppe nutzbar sein würden. Der Zwang, nur einen Treffpunkt realisieren zu können, brachte unseren Streetworker dazu, andere Wege zu gehen und das Experiment zu wagen. Man könnte diese Situation auch als Doublebind interpretieren; wenn man vielleicht nicht unbedingt von Ausweglosigkeit sprechen möchte, so handelt es sich doch um eine widersprüchliche Situation, die den Streetworker herausfordert. Er hätte auch in seinem alten Muster bleiben können und diesen Treffpunkt einer Clique zur Verfügung stellen können. Stattdessen nimmt er das Risiko auf sich, neue Wege zu gehen, und versucht, zwei sehr unterschiedliche Cliquen einzubeziehen. Damit schafft er auch für die Jugendlichen eine neue Situation. Auch hier gibt es eine Doublebind-Situation: Die Jugendlichen können ihr klassisches Muster der Raumaneignung nicht durchsetzen, sie könnten sich der Situation völlig entziehen, würden dann aber nicht am neuen Treffpunkt partizipieren. Auch für sie besteht die Herausforderung darin, neue Wege zu gehen und sich auf die Kooperation mit der ungeliebten anderen Clique einzulassen. Dabei spielt natürlich der Streetworker eine ganz wesentliche Rolle, und nur sein klares und gerechtes Muster von Mediation (gleiche Arbeitsschritte mit beiden Gruppen etc.) macht es möglich, dass die Jugendlichen sich bewegen und ein Stück weit aufeinander zu gehen. Professionell richtig eingeschätzt hat der Streetworker auch die Grenzen der Jugendlichen, d. h. er überfordert sie nicht, sondern geht kleine Schritte. Was Böhnisch„Öffnung eines Milieus“ (Böhnisch 1994, 222f ) nennt, kann man aneignungstheoretisch auch als Pädagogik verstehen, die versucht, „Zonen der nächsten Entwicklung“ bzw. eines „Expanded Learning“ zu eröffnen. Gerade im Bereich der Offenen Jugendarbeit, Streetwork und Mobilen Jugendarbeit existiert eine Tendenz, „bedürfnisorientiert“ auf die Wünsche der Jugendlichen einzugehen und dabei pädagogisch auch stehen zu bleiben. So haben wir in dem Projekt „Betreten erlaubt“ (Deinet et al. 2009) diese Haltung oft wahrgenommen, und es ging dann vorrangig darum, den Wunsch der Cliquen nach einem eigenen Raum zu ermöglichen. Auch Böhnischs Stufen (vor allem die ersten beiden) sind bedürfnisorientiert und arbeiten mit den Jugendlichen auf einer akzeptierenden Ebene. Allerdings baut Böhnisch einen Spannungsbogen auf, der eine Zone der nächsten Entwicklung in die pädagogische Planung einbezieht, mit der Öffnung der Milieus. Das Erreichen einer solchen Zone der nächsten Entwicklung wäre dann die Voraussetzung für die von Engeström beschriebene Entwicklung neuer Verhaltensmuster etc. Engeströms Begriff des expansiven Lernens stellt die Entwicklung erweiterter Verhaltensweisen und neuer Handlungsformen in den Vordergrund und macht deutlich, dass eine reine Anpassung keinen Lernprozess bedeutet. Die schon von Klaus Holzkamp beschriebene„Bedeutungsverallgemeinerung“ wird durch das Konzept des expansiven Lernens von Engeström erweitert und lässt sich auch auf Aspekte der Raumaneignung und sozialräumlicher Entwicklungen von Kindern und Jugendlichen anwenden. Sozialräumliche Aneignung bedeutet demnach nicht nur die Erweiterung des Handlungsraums und der Handlungskompetenzen, sondern - im Sinne des expansiven Lernens - auch die auf der Grundlage von Konflikten und Widersprüchen entwickelten neuen Verhaltensweisen und Dispositionen, in der die Grenzen bisheriger Typisierungen und Verhaltensweisen überschritten und auch ein Stück weit aufgegeben werden. Was hier nur angedeutet und nicht systematisch entwickelt werden konnte, ist die Perspektive, dass das Aneignungskonzept und seine Weiterentwicklung geeignet sind, Selbst-Bildungsprozesse in der Jugendarbeit und anderen offenen Feldern zu beschreiben und dabei deren spezi- 87 uj 2 | 2015 Aneignung von Räumen fische Qualität deutlich zu machen. Leider wird das Aneignungskonzept in Deutschland nicht intensiv weiter entwickelt, und es fehlt auch der Anschluss an die sehr interessante englischsprachige Diskussion um die „Activity Theory“. Um die Weiterentwicklung des Aneignungskonzepts anzuregen, sind zwei Publikationen erschienen, von denen eine auch als kostenlose Onlinepublikation verfügbar ist (Deinet 2014). Prof. Dr. Ulrich Deinet FH Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften Universitätsstraße, Gebäude 24.21 40225 Düsseldorf www.fh-duesseldorf.de/ fspe www.sozialraum.de ulrich.deinet@t-online.de Literatur Baacke, D. (1980): Der sozialökologische Ansatz zur Beschreibung und Erklärung des Verhaltens Jugendlicher. Deutsche Jugend 28, 493 - 505 Böhnisch, L. (1994): „Gespaltene Normalität. Lebensbewältigung und Sozialpädagogik an den Grenzen der Wohlfahrtsgesellschaft”. Juventa, Weinheim/ München Böhnisch, L. (1999): Abweichendes Verhalten. Eine pädagogisch-soziologische Einführung. Juventa, Weinheim/ München Coelen, T. (2000): Kommunale Jugendbildung. Raumbezogene Identitätsbildung zwischen Schule und Jugendarbeit. Lang, Frankfurt. a. M. Deinet, U., Reutlinger, C. (Hrsg.) (2014): Tätigkeit - Aneignung - Bildung. Positionierungen zwischen Virtualität und Gegenständlichkeit. Springer VS, Wiesbaden Deinet, U. (2014): Vom Aneignungskonzept zur Activity Theory. Transfer des tätigkeitsorientierten Aneignungskonzepts der kulturhistorischen Schule auf heutige Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen. In: www.socialnet.de/ materialien/ 197.php, 1. 7. 2014 Deinet, U. (2013): Interview mit Yrjö Engeström. Unveröffentlichtes Manuskript Deinet, U. (2013): Innovative Offene Jugendarbeit. Bausteine und Perspektiven einer sozialräumlichen Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Barbara Budrich, Opladen. Deinet, U. (Hrsg.) (2005): Sozialräumliche Jugendarbeit - Grundlagen, Methoden, Praxiskonzepte. 3. überarb. Aufl. VS, Wiesbaden Deinet, U., Reutlinger, C. (Hrsg.) (2004): „Aneignung“ als Bildungskonzept der Sozialpädagogik. Beiträge zur Pädagogik des Kindes- und Jugendalters in Zeiten entgrenzter Lernorte. VS, Wiesbaden Derecik, A. (2011): Der Schulhof als bewegungsorientierter Sozialraum. Eine sportpädagogische Untersuchung zum informellen Lernen an Ganztagsschulen. Meyer & Meyer, Aachen Engeström, Y. (2011): Lernen durch Expansion. Herausgegeben von Falk Seeger. 2. stark erweiterte Auflage Lehmanns, Berlin Holzkamp, K. (1973): Sinnliche Erkenntnis. Fischer, Frankfurt a. M. Kessl, F., Reutlinger, C. (2007): Sozialraum. Eine Einführung. VS, Wiesbaden Leontjew, A. N. (1983): Problem der Entwicklung des Psychischen. Volk und Wissen, Berlin Löw, M. (2001): Raumsoziologie. Suhrkamp, Frankfurt a. M. May, M. (2004): Aneignung und menschliche Verwirklichung, in: Deinet, U., Reutlinger, C. (Hrsg.): „Aneignung“ als Bildungskonzept der Sozialpädagogik. VS, Wiesbaden, 49 - 69 Rauschenbach, T. (2009): Zukunftschance Bildung. Familie, Jugendhilfe und Schule in neuer Allianz. Beltz Juventa, Weinheim/ München Scherr, A. (2004): Rückzugsräume und Grenzüberschreitungen. Wie sozialräumliche Jugendarbeit Bildungsprozesse unterstützen kann. In: Deinet, U., Reutlinger, C. (Hrsg.): „Aneignung“ als Bildungskonzept der Sozialpädagogik. VS, Wiesbaden Scherr, A. (2002): Rückzugsräume und Grenzüberschreitungen. Wie sozialräumliche Jugendarbeit Bildungsprozesse unterstützen kann. Unveröffentlichtes Manuskript, Landau. Wygotski, L. S. (1980): Das Spiel und seine Bedeutung in der psychischen Entwicklung des Kindes. In: Elkonin, D.: Psychologie des Spiels. Volk und Wissen, Berlin, 441 - 465 88 uj 2 | 2015 Aneignung von Räumen Wygotski, L. S. (1985): Ausgewählte Schriften, Bd. 1: Arbeiten zu theoretischen und methodologischen Problemen der Psychologie. Pahl-Rugenstein, Köln Wygotski, L. S. (1987): Ausgewählte Schriften, Bd. 2: Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persönlichkeit. Pahl-Rugenstein, Köln Zeiher, H. (1983). Die vielen Räume der Kinder. Zum Wandel räumlicher Lebensbedingungen seit 1945. In: Preuss-Lausitz, U. (Hrsg.): Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Beltz, Weinheim, 176 - 194
