unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art17d
31
2015
673
„Werde erst mal groß, dann “
31
2015
Franziska Schubert-Suffrian
Michael Regner
Das Bundeskinderschutzgesetz macht die Erteilung einer Betriebserlaubnis seit Anfang 2012 für alle Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe von der Sicherung der Rechte der Kinder und deren Möglichkeiten zur Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten abhängig.
4_067_2015_3_0004
108 unsere jugend, 67. Jg., S. 108 - 117 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art17d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Werde erst mal groß, dann …“ Beschwerdeverfahren für Kitakinder - Eine Herausforderung für den pädagogischen Alltag Das Bundeskinderschutzgesetz macht die Erteilung einer Betriebserlaubnis seit Anfang 2012 für alle Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe von der Sicherung der Rechte der Kinder und deren Möglichkeiten zur Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten abhängig. Für das Bundeskinderschutzgesetz ist die Verankerung von Beschwerde- und Mitwirkungsrechten wesentlicher Bestandteil eines präventiven Konzepts, das die Bedürfnisse der Kinder und damit den aktiven Kinderschutz zum pädagogischen Handlungsfeld macht. Es geht davon aus, dass Kinder, die sich selbstbewusst für ihre Rechte und Bedürfnisse einsetzen können und sich wertgeschätzt und selbstwirksam fühlen, besser vor Gefährdungen geschützt sind. Durch diese gesetzliche Regelung ist neben der Sicherung der Rechte der Kinder die Einrichtung eines Beschwerdeverfahrens zur Verpflichtung für jede Kindertageseinrichtung (von der Krippe bis zum Hort) geworden. Sozialgesetzbuch Achtes Buch Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) § 45 Erlaubnis für den Betrieb einer Einrichtung „(…) (2) Die Erlaubnis ist zu erteilen, wenn das Wohl der Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung gewährleistet ist. Dies ist in der Regel anzunehmen, wenn (…) 3. zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung geeignete Verfahren der Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten Anwendung finden. (…)“ Ein Beschwerdeverfahren für kleine Kinder? Auf den ersten Blick klingt das erst einmal befremdlich. Was sind eigentlich Beschwerden der Kinder? Worüber beschweren sie sich? Und wie und warum sollen sich die Fachkräfte mit diesen Anliegen auseinandersetzen? Müssen die Fachkräfte jetzt nur noch den Wünschen der Kinder entsprechen? von Franziska Schubert-Suffrian Jg. 1964; Erzieherin, Heilpädagogin, Dipl.-Soz.Päd., stellvertretende Geschäftsführung und Koordinierende Fachberaterin im Verband Evangelischer Kindertageseinrichtungen in Schleswig- Holstein e.V. Michael Regner Jg. 1967; Coach und zertifizierter Mediator, freiberuflich in der Fort- und Weiterbildung, Organisationsentwicklung, als Coach und Trainer tätig. 109 uj 3 | 2015 Beschwerdeverfahren für Kinder Antworten auf diese Fragen zu finden ist das Anliegen des Modellprojektes „Ich habe was zu sagen und werde gehört - Beschwerdeverfahren für und mit Kita-Kindern entwickeln“. In fünf Kindertagesstätten des Evangelischen-lutherischen Kindertagesstättenwerks Lübeck haben wir mit den KollegInnen ganz unterschiedliche Verfahren zur Aufnahme von Beschwerden der Kinder erarbeitet. Das vom Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung in Schleswig-Holstein unterstützte und dem Verband Evangelischer Kindertageseinrichtungen in Schleswig-Holstein e.V. und den „Bildungslotsen“ verantwortete Projekt will gangbare Wege aufzeigen und Anregungen zur Umsetzung auch für andere Einrichtungen liefern. „Der hat mich gehauen.“ „Die lassen mich nicht mitspielen.“ „Die Regenhose ist doof, die will ich nicht anziehen.“ „Das Grüne da will ich nicht probieren müssen.“ Solche oder ähnliche Beschwerden werden von den Kindern täglich im Kitaalltag geäußert. Häufig werden diese Äußerungen mit Petzen, Sich-wichtig-Machen oder Nörgeln verbunden. Bei einem zweiten Blick auf diese Aussagen wird aber deutlich, dass ein Sich-Beschweren auch bedeutet, Anliegen oder Bedürfnisse deutlich zu machen, Lösungsideen anzugehen und mit anderen aktiv Aushandlungsprozesse zu gestalten. Damit weisen Beschwerden nicht nur auf Kritikpunkte oder Verbesserungswürdiges hin, sondern haben auch ein erhebliches pädagogisches Potenzial für jede Kindertageseinrichtung. Grundsätzlich spricht für die Einführung eines Beschwerdeverfahrens neben der juristischen Begründung durch das Bundeskinderschutzgesetz auch, dass durch eine kontinuierliche Bearbeitung der Beschwerden die Einrichtungsstrukturen immer wieder an den Bedürfnissen der Kinder ausgerichtet werden können. Darüber hinaus ermöglicht die Bearbeitung jeder Beschwerde die Reflexion der pädagogischen Arbeit, sowohl der einzelnen Fachkraft als auch im Gesamtteam. Lotta (knapp 3 Jahre alt) steht morgens weinend im Gruppenraum. Beim Trösten fragt die Fachkraft sie, was denn passiert sei. „Ich bin gerade um die Ecke gelaufen zu Frau Bäcker, und dann war der Papa weg.“ Im weiteren Gespräch macht Lotta deutlich, dass sie traurig ist, weil sie sich gar nicht von ihrem Papa verabschieden konnte. Beschwerden im Bereich von Erwachsenen werden u. a. als Äußerungen von Unzufriedenheit verstanden, die gegenüber einem Unternehmen oder deren Vertreter mit der Absicht geäußert werden, auf ein als schädigend empfundenes Verhalten hinzuweisen und eine Verbesserung der Situation, die Beseitigung der Beschwerdeursache oder eine Wiedergutmachung zu erreichen (Bernd Strauss 2007, 49ff ). Diese Definition beinhaltet drei Kriterien: 1. Die Äußerung eines als schädigend empfundenen Verhaltens, 2. gegenüber der verursachenden Stelle, 3. mit der Absicht, eine Verbesserung der Situation, die Beseitigung der Beschwerdeursache oder eine Wiedergutmachung zu erreichen. Eine Beschwerde in diesem Sinn wird an den Beschwerdeverursacher gerichtet und hat das Ziel, eine Veränderung zu bewirken. Damit unterscheiden sich Beschwerden vom Petzen, Lästern, Maulen und Nörgeln. Auch Lotta macht auf ein„als schädigend empfundenes Verhalten aufmerksam“ und möchte eine Verbesserung der Situation erreichen. Bei der Äußerung gegenüber der verursachenden Stelle (Papa) braucht sie die Unterstützung und Begleitung durch die Fachkraft. Gemeinsam mit der Kollegin entwickelt Lotta die Idee, mit dem Papa zu„schimpfen“ und ihm dann ein Bild zu malen, zur Erinnerung daran, nicht ohne Verabschiedung zu gehen. Junge Kinder wie zum Beispiel Lotta zeigen die Abweichung zwischen ihrer Erwartung und der erlebten Situation oder ein „als schädigend 110 uj 3 | 2015 Beschwerdeverfahren für Kinder empfundenes Verhalten“ manchmal anders als Erwachsene. Von Kindern in diesem Alter kann und muss nicht erwartet werden, dass sie die Beschwerde direkt äußern. Es ist vielmehr die Aufgabe der Fachkräfte, ein wie auch immer gezeigtes Unwohlsein, eine Unzufriedenheit oder einen Veränderungswunsch wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Das heißt, ein Kind muss sich nicht in einem vorgegebenen Rahmen beschweren können, sondern es ist die Aufgabe der Fachkräfte, jedem Kind die Äußerung seiner Bedürfnisse und ein „Gehört-Werden“ zu ermöglichen. Im Alltag erfahren Kinder immer wieder, dass ihre Äußerungen von der Seite der Erwachsenen nicht ernst genommen werden. Sie erleben, dass in vielen Situationen über ihre eigentlichen Anliegen, Bedürfnisse und Wahrnehmungen hinweggegangen wird. „Ich komme nie dran.“„Die gucken immer auf Toilette.“ Solche oder ähnliche Äußerungen genauso wie das (Beschwerde-)Verhalten von Kindern (verweigern, verstecken, zurückziehen, hauen o. Ä.) zu beleuchten und sich gemeinsam auf die Suche nach dem Bedürfnis zu machen, das hinter der Beschwerde steckt, war im Projekt der erste Schritt in Richtung eines Kita-Beschwerdeverfahrens. Ein Beschwerdeverfahren für die Kita zu entwickeln bedeutet dabei die Bündelung aller Maßnahmen, die dazu führen, dass Beschwerden, aber auch Anliegen und Verbesserungsvorschläge der Kinder aufgenommen, bearbeitet und reflektiert werden können. Für die Implementierung eines Beschwerdeverfahrens reicht es nicht aus, den Umgang mit den Beschwerden der Kinder und die strukturelle Umsetzung einmalig festzuschreiben. Vielmehr geht es darum, einen Teamprozess zu initiieren, der zum einen die Beschwerden als Entwicklungschance sowohl für die Kinder selbst als auch für die pädagogischen Fachkräfte versteht, und es zum anderen ermöglicht, die eigene Dialogfähigkeit und die Regeln und Strukturen der Kita immer wieder neu an den Bedürfnissen der Kinder auszurichten. Dabei stehen in allen Modellprojekt-Einrichtungen nicht die zu entwickelnden Verfahren und Ablaufpläne im Vordergrund, sondern die Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der Kinder (und auch der der Erwachsenen). Dies bedeutet in der Praxis nicht, alle Beschwerdeursachen (sofort) zu beseitigen oder alle Wünsche zu erfüllen. Entscheidend ist es, den Kindern zu signalisieren, dass ihre Anliegen und Bedürfnisse erst einmal grundsätzlich wahr- und ernst genommen werden, und gemeinsam mit dem Kind herauszufinden, worum es ihm geht. Im zweiten Schritt können dann gemeinsam Lösungen gesucht und Lösungswege erprobt werden. Dabei sind die Fachkräfte in der Rolle des Moderators/ der Moderatorin. Sie erfüllen nicht den Wunsch oder finden die Lösung, sondern ermöglichen den Kindern ihre eigenen, ganz individuellen Wege. Die bewusste Wahrnehmung der Fachkraft und ihre Reaktion auf die wie auch immer geäußerte Beschwerde des Kindes nimmt dabei eine entscheidende Schlüsselrolle ein. Im Modellprojekt haben die Fachkräfte zunächst die Beschwerden der Kinder, die sie während der letzten Woche in der Einrichtung wahrgenommen haben, notiert. Diese Beschwerden wurden dann gemeinsam gesichtet und sortiert. Neben ganz individuellen Beschwerden in den Einrichtungen kamen folgende Beschwerden in allen Notizen vor: ➤ Beschwerden über das Essen. Dabei ging es immer um die Auswahl und Zusammenstellung und um die Regeln bzw. Selbstbestimmungsrechte der Kinder bei den Mahlzeiten (Entscheidung über die Reihenfolge der Speisen, die Probierpflicht, die Selbstbestimmung, ob, was, wann und wie viel gegessen werden darf/ muss, Tischsitten). 111 uj 3 | 2015 Beschwerdeverfahren für Kinder ➤ Beschwerden über die Bekleidungswahl/ Bekleidungsvorschrift durch die Erwachsenen. Dabei ging es sowohl um die Wahl der Bekleidung im Außenbereich (Regenhose-, Jacke-, Mütze-, Schal-Pflicht usw.: ja oder nein) als auch im Haus. Dort betraf es vor allem das Thema Hausschuhe. ➤ Beschwerden über die Verteilung von Ressourcen. Dabei wurden die Fahrzeuge im Außenbereich, aber auch die Verteilung von Spielzeug- und Verbrauchsmaterial (z. B. Kleberollen) in Gruppen- oder Fachräumen genannt. ➤ Beschwerden über die Toilette. Zum einen über die Sauberkeit (Geruch, „Danebenkleckern“) und zum anderen über den Umgang der anderen Kinder (Erwachsenen) im Toilettenbereich (Türen aufreißen oder zuhalten, darüberschauen usw.) ➤ Beschwerden über verbale Grenzverletzungen („Der hat gesagt, ich bin doof.“) und körperliche Übergriffe (hauen, beißen, hänseln, kaputt machen von Gegenständen …) ➤ Beschwerden über Ausgrenzungen. „Die lassen mich nicht mitspielen.“ „Sie hat gesagt, sie lädt mich nicht mehr zum Geburtstag ein.“ Dabei sind sowohl die Fachkräfte als auch andere Kinder gleichermaßen als „Beschwerdeursache“ im Fokus. Diese sechs Beschwerdeanlässe lassen sich in verschiedenen Äußerungsformen auch bei Kindern im Krippenalter oder bei Hortkindern beobachten. Bei genauerer Analyse der genannten Beschwerden können zwei verschiedene Beschwerdeformen bzw. Beschwerdeziele herausgearbeitet werden: Zum einen Verhinderungsbeschwerden, mit dem Ziel das Verhalten eines anderen Kindes oder Erwachsenen zu stoppen.„Hör auf damit. Du überschreitest meine Grenze! “ Zum anderen Ermöglichungsbeschwerden, die etwas Neues erreichen wollen, wie z. B. eine gerechtere Verteilung, mehr Selbstbestimmung oder eine veränderte Regel. Beschwerden wahrnehmen und anerkennen Beschwerden von Kindern wahrzunehmen kann immer wieder eine große Herausforderung darstellen. Der Kita-Alltag mit seinen stetig steigenden Anforderungen an die Fachkräfte lässt oft nur wenig Zeit, um sich auf einzelne Situationen einzulassen, genau hinzuhören oder hinzusehen. Darüber hinaus werden Unzufriedenheiten von Kindern häufig nicht als eindeutige Beschwerde geäußert, sondern eher indirekt bzw. „verpackt“ signalisiert. Kinder in diesem Alter benennen in vielen Fällen keine konkrete Situation oder Ursache, sondern signalisieren eher ein (allgemeines) Unwohlsein („Mir ist langweilig! “) oder machen personenbezogene Aussagen („Die großen Mädchen sind voll doof! “). Nonverbal zeigen sie ihr Unwohlsein, indem sie sich beispielsweise zurückziehen, weinen, zuschlagen oder sich anderweitig körperlich ausagieren. Diese Äußerungen bzw. dieses Verhalten muss dann in einem dialogischen Prozess zwischen Kindern und Erwachsenen erst „ausgepackt“ und konkretisiert werden, um daran weiterarbeiten zu können. Dies kann nur gelingen, wenn die Fachkräfte sensibel auf die wie auch immer gezeigten Beschwerden der Kinder eingehen. Erst wenn die kleinen und großen Beschwerden der Kinder im Kitaalltag bewusst von den Fachkräften wahrgenommen und aufgegriffen werden, können die Kinder lernen, eigene Beschwerden und Anliegen konkreter zu äußern. Die Reaktion jeder einzelnen Fachkraft auf eine wie auch immer vom Kind geäußerte Beschwerde spielt eine zentrale Rolle. Ihre Fähigkeit, den Dialog mit dem Kind zu gestalten, nimmt eine Schlüsselrolle ein. Im Dialog geht es zunächst darum, die Beschwerde eines Kindes bewusst wahrzunehmen und als eine berechtigte Äußerung stehen zu lassen. Dies ist dann die Grundlage dafür, 112 uj 3 | 2015 Beschwerdeverfahren für Kinder gemeinsam mit dem Kind herauszufinden, worum es ihm ganz konkret geht. Dabei besteht die Gefahr, dass die Erwachsenen vorschnell auf das reagieren, was sie als den Grund der Beschwerde sehen. In vielen Fällen ist diese Annahme aber nur ein Teil der wirklichen Ursache. Emilia, 4 ½ Jahre alt, kommt zur Erzieherin und sagt: „Lisa und Emma sind gemein. Nie darf ich bestimmen.“ Die Fachkraft wendet sich ihr zu und fragt, was passiert sei. „Wir haben gespielt und ich wollte die Mutter sein. Das wollten die beiden nicht. Nie kann ich bestimmen.“ erklärt Emilia. In dieser Situation kann leicht der Gedanke auftauchen, dass Emmas „Bestimmungsanspruch“ ungerechtfertigt ist, Sätze wie: „Naja, man kann halt nicht immer bestimmen. Macht Dir denn das Spielen mit den beiden nicht trotzdem Spaß? “ oder „Du musst ja auch nicht mit Lisa und Emma spielen.“ könnten die Reaktion sein. Die Fachkraft entscheidet sich in dieser Situation bewusst anders. Sie lässt das Bedürfnis von Emilia zu bestimmen als berechtigt stehen und versucht zu verstehen, worum es Emma geht. „Dir ist es wichtig zu bestimmen? “ fragt sie nach. „Ja, weil ich jetzt dran bin.“ „Vorhin durfte Lisa und dann Emma und jetzt bin ich dran! “ erklärt Emilia. „Und dass Du jetzt nicht dran sein darfst, findest Du nicht in Ordnung? “ „Ja, das ist voll gemein. Alle waren ja mal dran“ sagt Emilia und nickt entschieden mit dem Kopf. Im Dialogprozess ist es schwierig, eigene Bewertungen wie „man kann halt nicht immer bestimmen“, die die Berechtigung der Beschwerde anzweifeln, zurückzuhalten. Auch Äußerungen, die von der Beschwerde ablenken („Dann spielst Du eben mit den anderen Kindern.“), sie „kleinreden“ oder negativ bewerten („So schlimm ist das nun auch wieder nicht.“) sorgen nicht für ein wirkliches Annehmen der Beschwerde. Bei der Entwicklung eines Beschwerdeverfahrens hat die Reflexion der eigenen Sozialisationserfahrungen und der konkreten Dialogsituationen eine hohe Bedeutung. Denn entsprechend dem Reaktionsmuster, das die Kinder vonseiten der Erwachsenen immer wieder erleben, bewerten sie schließlich ihre eigenen Bedürfnisse. Die Form des Antwortverhaltens der Erwachsenen hat damit erheblichen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen Kindes, auf das Bild, das es sich von sich selbst macht. Ein glaubwürdiges Interesse und eine wertschätzende Reaktion vonseiten der Erwachsenen ermöglichen es Kindern, ihre Bedürfnisse, Wünsche und Interessen wahrzunehmen, zunächst die eigenen, später auch die von anderen, sie zu äußern und mit anderen Lösungen auszuhandeln. Eine wertschätzende Reaktion in diesem Sinn bedeutet, dass die Fachkraft sich mit dem Anliegen des Kindes mit einer fragenden Haltung nähert. Eigene Lösungen finden Wenn für das Kind selbst und für den Erwachsenen klar ist, worum es geht, kann der zweite Schritt angegangen werden. Im Beispiel von Emilia bedeutet das, ihr zu ermöglichen, eigene Lösungswege zu entwickeln. Die Fachkraft fragt deshalb im Gespräch weiter nach: „Hast Du eine Idee, was jetzt passieren soll? „Ja, Du sollst denen sagen, dass ich jetzt dran bin“, äußert Emilia entschieden. „Ich war ja nicht dabei, als ihr das verabredet habt und habe ja auch nicht mitgespielt, als Emma und Lisa bestimmen durften, deshalb kann ich das nicht einfach bestimmen. Aber wenn Du möchtest, kann ich mit Dir kommen und Dir helfen, es selbst zu sagen“, bietet die Fachkraft daraufhin an. 113 uj 3 | 2015 Beschwerdeverfahren für Kinder Im Dialog mit den Kindern ist die Versuchung, einen schnellen (Lösungs-)vorschlag zu bieten, in vielen Fällen groß. Diese Form der Reaktion kennen viele Erwachsene aus eigener Erfahrung „Mach das doch so … oder so …“. Aus dem eigenen Erleben kennen sie aber auch das Gefühl, dass diese Vorschläge bzw. Ratschläge nur sehr selten hilfreich sind. Das Gleiche gilt für die Dialoge mit Kindern. Die Rolle der Fachkraft ist hier zu moderieren. Welche Lösungsidee hat das Kind? Was braucht es, um diese Lösung umsetzen zu können? Diese Fragen stehen im Vordergrund. Dabei geht es nicht so sehr um das eigentliche Lösungsergebnis. Oft stehen für die Kinder der Prozess und die Erfahrung, kompetent zu sein und eigene Lösungen gefunden zu haben, im Vordergrund. Erwachsene haben dabei die Aufgabe zuzuhören, nachzufragen und die eigenen Lösungsideen zurückzuhalten. Dieses Vorgehen der Fachkräfte hat in der Praxis der Modelleinrichtungen dazu geführt, dass sich die Kinder selbstbewusster und zielstrebiger für ihre Interessen einsetzen. Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass sich auch das Verhalten der Kinder untereinander im Projektverlauf verändert hat. Die KollegInnen beschreiben, dass sie bei Konflikten unter Kindern nicht mehr so oft zur Unterstützung geholt werden. Immer häufiger werden kleinere Meinungsverschiedenheiten oder Probleme von den Kindern selbstständig gelöst. Neben dieser Dialogebene zwischen dem einzelnen Kind und der Fachkraft spielt auch das weitere strukturelle Vorgehen eine Rolle. Was passiert mit dem Anliegen des Kindes, wenn es beispielsweise Gruppen- oder Hausregeln betrifft, die von der einzelnen Fachkraft nicht ohne Rücksprache mit den anderen KollegInnen oder der Leitung verändert werden können? Für diese Beschwerden muss ein Verfahren im Haus entwickelt werden, das die Anliegen der Kinder aufnimmt und verlässlich weiter bearbeitet. Die strukturelle Ebene: Auf dem Weg zur Lösung Im Projekt haben wir gemeinsam mit den Einrichtungen neben der bewussten Wahrnehmung der Beschwerde durch die Fachkraft drei grundsätzliche weitere Schritte zur Orientierung für die Teams und Kinder erarbeitet. Dieses strukturelle Vorgehen erleichtert es Kindern und Erwachsenen, den Umgang mit Beschwerden im Alltag zu verankern. Ob und wie mit Beschwerden umgegangen wird, ist so nicht mehr nur abhängig von der einzelnen Situation oder der einzelnen Fachkraft. 1. Aufnehmen der Beschwerden Dieses sensible Wahrnehmen und Reagieren der pädagogischen Fachkräfte unterstützt die Kinder dabei, ihre Beschwerden zu äußern und zu konkretisieren. Wenn nicht unmittelbar eine Lösung gefunden werden kann, ist es notwendig, die Beschwerden der Kinder in irgendeiner Weise festzuhalten und sichtbar zu machen. In der Praxis haben die Projekt- Kitas dafür zum Beispiel eine Beschwerdewand oder einen offenen Beschwerdekasten eingerichtet. Hier können die Kinder ein Symbol für ihr Anliegen anpinnen oder hineinlegen. Dabei hat die Praxis gezeigt, dass es sinnvoll ist, den Kindern die Möglichkeit zu geben, ein Foto von sich selbst mit dazuzuhängen. So wird für alle deutlich, wessen Anliegen dort aushängt. Für die Kinder ist es wichtig, dass alle Beschwerden, die dort hängen, bearbeitet werden. Dabei geht es nicht darum, in jedem Fall eine Lösung zu finden, die die Beschwerdeursache komplett beseitigt. Entscheidend ist in vielen Situationen, dass das Anliegen des Kindes gesehen und gemeinsam und verlässlich an einer Lösung gearbeitet wird. 114 uj 3 | 2015 Beschwerdeverfahren für Kinder 2. Bearbeiten der Beschwerden Hier lassen sich in der Regel vier Arten von Beschwerden unterscheiden: ➤ Beschwerden, die das Verhalten anderer Kinder betreffen: Diese können direkt in der konkreten Situation mit den Mädchen und Jungen bearbeitet werden. Dabei gilt es vonseiten der Fachkräfte, eine moderierende Rolle einzunehmen, die den Kindern eine eigene Lösungsfindung ermöglicht, ohne sie im Prozess allein zu lassen. ➤ Beschwerden über Angebote, Ressourcen, Regeln oder Strukturen auf Stammgruppenebene: Diese können mit der Kinder-Gruppe oder den betroffenen Kindern und den zuständigen Fachkräften geklärt werden. ➤ Beschwerden, deren Ursachen die Gesamt-Kita betreffen: Diese Beschwerden, die zum Beispiel die Essenssituation, die Regelungen bei der Bekleidung der Kinder oder die Pflege betreffen können, müssen auf der Ebene des Gesamtteams, zum Teil unter Einbeziehung von Eltern und Träger, besprochen und verlässlich geregelt werden. ➤ Beschwerden, die das Verhalten oder Entscheidungen von einzelnen Erwachsenen betreffen, brauchen einen individuell zu klärenden Rahmen (Schutzkonzept). In der Praxis ist deutlich geworden, dass ein Großteil der Beschwerden in der aktuellen Situation bearbeitet werden kann und muss. „Der geht nicht weg.“„Die geben keine Bausteine ab.“ Solche oder ähnliche Beschwerden von Kindern bedürfen meist einer sofortigen Aushandlung. Andere Unzufriedenheitsäußerungen wie beispielsweise „Das ist voll ungerecht, ich komme nie dran.“ „In unserer Toilette stinkt es immer.“ sollten in der Kleingruppe geklärt werden. Bei einem Teil der Kinderbeschwerden ist es aber auch erforderlich, dass sich alle Fachkräfte der Kita auf eine gemeinsame Linie verständigen. Um diese Beschwerden der Kinder bearbeiten zu können, müssen sich alle pädagogischen Fachkräfte zunächst darauf einigen, welchen konkreten„Spielraum“ die Kinder in diesem Be- 115 uj 3 | 2015 Beschwerdeverfahren für Kinder reich haben. Gerade bei Beschwerden, Regeln oder Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Kindern gehen die Meinungen der Fachkräfte häufig auseinander. Dabei ist es notwendig, die Diskussion über einzelne Themenbereiche so lange zu führen, bis über die jeweiligen Beschwerderechte der Kinder im Team der pädagogischen Fachkräfte ein Konsens erreicht wird (Regner/ Schubert-Suffrian 2013, 63f ). Neben der Klärung der Beschwerderechte sollte auch die Frage im Team besprochen werden, wann bzw. in welchem Rahmen die aufgenommenen Beschwerden von Erwachsenenseite weiter bearbeitet werden. 3. Rückversichern und den Prozess reflektieren Ob eine Beschwerde erfolgreich bearbeitet wurde, hängt letztlich von der Beurteilung des Beschwerdeführers ab. In der Projektpraxis heißt dies, dass das jeweilige Kind entscheidet, ob das Bild oder Symbol z. B. von der Beschwerdewand abgenommen werden kann. Neben dieser Rückversicherung bietet dieser Projektschritt aber auch die Möglichkeit, noch einmal gemeinsam mit den Kindern einen bewussten Blick auf den Prozess zu richten. „Was war der Ausgangspunkt? Welche Wege sind wir gegangen? Wie können wir beim nächsten Mal vorgehen? “ So wird der Prozess allen noch einmal bewusst und das Gelernte kann sich verfestigen. Die Reflexion ermöglicht es den Kindern, den unmittelbaren Sinnzusammenhang zwischen ihrer Beschwerde, dem Prozess der Bearbeitung und der Problemlösung noch einmal selbst herzustellen. Besonders heikel: Beschwerden über Fachkräfte „Du hast allen gesagt, dass ich das nicht kann - das ist gemein! “ Kitapädagogik besteht in erster Linie aus Beziehungsarbeit. Die Fachkräfte bringen sich in einem hohen Maß mit ihrer eigenen Person ein. Beschwerden über die Entscheidungen oder das Verhalten von einzelnen Fachkräften haben damit auch ein hohes „Kränkungspotenzial“. Sie können schnell als Ablehnung empfunden werden. Dies macht ein besonders sensibles Umgehen mit diesen Beschwerden notwendig. Auch wenn pädagogische Fachkräfte das nicht beabsichtigen, kann es vorkommen, dass sie die Grenzen eines Kindes verletzen oder es beschämen. Insofern gehört zur Entwicklung eines Beschwerdeverfahrens in der Kita immer auch die Bereitschaft aller Teammitglieder, zur Verhinderung von Grenzverletzungen beizutragen - in Bezug auf das eigene Verhalten und das der KollegInnen. Selbst- und Teamreflexion sowie eine fehlerfreundliche Kultur in der Einrichtung tragen dazu entscheidend bei. Eine besondere Herausforderung stellen Situationen dar, in denen sich Kinder bei der Leitung (oder einem/ einer ErzieherIn) über eine andere pädagogische Fachkraft beschweren. Hier ist es die Pflicht der Leitung, weitere Informationen zu sammeln und je nach Situation - und ggf. zusammen mit dem Träger - über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Wenn es sich bei dem Beschwerdeanlass nicht um einen Übergriff oder eine strafrechtlich relevante Form von Gewalt handelt, sondern um eine unabsichtliche Grenzverletzung, geht es zunächst darum, auf der Team-/ Leitungsebene nach Lösungen zu suchen. Hier ist seitens der Leitung besonderes Feingefühl gefordert, um einerseits die Interessen der Kinder im Blick zu behalten und andererseits dem/ der KollegIn ohne Gesichtsverlust eine Chance zur Verhaltensänderung zu ermöglichen. Die Erfahrungen im Projekt haben gezeigt, dass dieser veränderte Umgang mit den Beschwerden nicht nur Auswirkungen auf die Kinder, sondern auch auf die Fachkräfte und die Eltern hat. 116 uj 3 | 2015 Beschwerdeverfahren für Kinder Wirkungen auf die Fachkräfte Beschwerdeverfahren für und mit Kindern zu entwickeln, bedeutet, sich gemeinsam mit den KollegInnen auf den Weg zu machen, die Bedürfnisse und Anliegen der Kinder bewusst wahrzunehmen und sie zum Ausgangspunkt des pädagogischen Vorgehens zu machen. Dieses führt fast zwangsläufig zu einer Reflexion von bestehenden Kita-Strukturen und -abläufen sowie des Verhaltens der einzelnen Fachkräfte. Die Diskussionen beispielsweise über das, was es zum Frühstück gibt, und die Fragestellung, wer wann über die Bekleidung der Kinder entscheidet, führt immer auch zu grundsätzlichen Fragestellungen der Werte und Normen der einzelnen Fachkraft und der Kita-Konzeption. In der Projektpraxis ist darüber hinaus auch eine Diskussion über das eigene Beschwerdeverhalten im Team entstanden: „Wo und wie können wir uns eigentlich beschweren und welche Prozesse setzen dann ein? “ Aber auch die Seite des eigenen individuellen Beschwerdeverhaltens wurde in den Einrichtungen reflektiert. „Wie beschwere ich mich als Fachkraft eigentlich? “ Dabei wurde das Projekt auch zum Lernfeld für jede einzelne KollegIn. Der Umgang mit den eigenen Bedürfnissen wurde zum Anlass genommen, eine Beschwerdekultur zu entwickeln, die nicht das Nörgeln oder die „Psycho-Hygiene“ in den Vordergrund stellt, sondern konstruktive Wege des Aushandelns unterschiedlicher Interessen und Bedürfnisse unter den Erwachsenen. Und die Eltern? Ein veränderter Umgang der Fachkräfte mit den Beschwerden der Kinder hat auch immer Auswirkungen auf die Kita-Eltern. Die Erfahrungen zeigen, dass die meisten Väter und Mütter die Ziele des Projektes, ihren Kindern die Möglichkeit zu geben, sich selbstbewusst für ihre Anliegen und Bedürfnisse einzusetzen, teilen können. Unterschiedliche Ansichten gibt es aber bei der Frage, an welcher Stelle und in welcher Situation die Kinder die Möglichkeit bekommen, sich bei der eigenen Lösungsfindung auszuprobieren. Im Projekt waren die Beschwerdebzw. Selbstbestimmungsrechte der Kinder in Bereichen wie Kleidung, Essen, Schlafens- und Wickelsituationen die strittigsten Punkte zwischen Fachkräften und Eltern. Um die Kinder nicht in einen Loyalitätskonflikt zwischen den Vorgaben von Eltern („Du isst Dein Frühstück auf.“, „Du ziehst auf jeden Fall Deine Regenhose an.“) und denen der Fachkräfte zu bringen, ist es wichtig, die Eltern frühzeitig mit ins Boot zu holen. Bei allen Beschwerden der Kinder, die ihre grundsätzlichen Selbstbestimmungsrechte betreffen, haben wir im Projekt die Eltern informiert und um ihr Einverständnis gebeten, bevor die Kinder die Erlaubnis erhielten, selbst bestimmen zu dürfen. Dies bedeutet in der Praxis, die Mütter und Väter auf einem Elternabend zunächst über die grundsätzlichen Ziele, die die Fachkräfte mit der Einrichtung eines Beschwerdeverfahrens bezwecken, zu informieren. In einem zweiten Schritt wurden dann die konkreten Beschwerderechte besprochen, zum Beispiel: Schuhe tragen drinnen und draußen? Dabei wurden die Eltern über die Gründe für die Team-Entscheidung und den geplanten Handlungsspielraum der Kinder informiert. Für den Umgang mit den Schuhen hieß das konkret, dass das Kitateam sich aufgrund von Kinderbeschwerden entschieden hatte, den Kindern die Möglichkeit zu geben, zunächst ab einer Außentemperatur von 15 Grad selbst zu entscheiden, ob sie Schuhe anziehen oder barfuß laufen. Befürchtungen und Erwartungen der Eltern konnten im Anschluss daran besprochen und in Form von „Ausführungsbestimmungen“ schriftlich vereinbart werden. Diese gemeinsam entwickelten ergänzenden Bestimmungen (beispielsweise „keine Lederschuhe, wenn die Kinder in den Pfützen spielen“) sollten dann bis zum Herbst gelten und an einem bereits verabredeten Termin Ende September gemeinsam 117 uj 3 | 2015 Beschwerdeverfahren für Kinder reflektiert werden. Nach dem Elternabend wurden dann die nicht anwesenden Elternteile mit Aushängen und in Gesprächen über die gemeinsamen Vereinbarungen informiert. Der Konsens im Team ist die Grundlage dafür, die Eltern tragfähig mit ins Boot zu holen. Wenn alle KollegInnen verlässlich hinter den jeweiligen Beschwerderechten der Kinder stehen, ist es für Eltern leichter, diesen oft neuen Schritt zu gehen. Schlussbemerkung Die Beschäftigung mit den Beschwerden der Kinder verlangt von der Leitung und dem Team ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit. Dazu gehört die Bereitschaft, das eigene pädagogische Handeln zu hinterfragen und Kindern auch im Prozess der Lösungsfindung eine aktive Teilhabe zu ermöglichen. Dabei stellen der achtsame Umgang mit Beschwerden keine zusätzlichen Aufgaben oder zeitlich begrenzte Projekte dar, sondern bilden grundsätzliche Denk- und Handlungsweisen im Kita-Alltag. Erst wenn Kinder die Erfahrung machen, dass ihre Bedürfnisse und Grenzen von anderen akzeptiert und beachtet werden, können sie ein Gefühl für deren Berechtigung entwickeln und die Verletzung der eigenen Grenzen als Alarmsignal wahrnehmen. Ein Kind, das ein sicheres Gefühl für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen hat, kann dies auch nach außen deutlich machen und läuft damit weniger Gefahr, Opfer von Übergriffen zu werden. Franziska Schubert-Suffrian Kleinredder 3 24647 Ehndorf f.schubert-suffrian@freenet.de Michael Regner Wiesendamm 18 g 24568 Kaltenkirchen bildungslotsen@me.com Literatur Strauss,B., Seidel, W. (2007): Beschwerdemanagement. Unzufriedene Kunden als profitable Zielgruppe. 4. überarb. Aufl. Hanser Verlag, München Regner, M., Schubert-Suffrian, F. (2013): Partizipation in der Kita. 2. überarb. Aufl. Herder, Freiburg Schubert-Suffrian, F., Regner, M. (2014): Beschwerdeverfahren für Kinder. kindergarten heute 44.
