eJournals unsere jugend 67/4

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art26d
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2015
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Jugendbildungsstätten - Lern-, Bildungs- und Erfahrungsorte

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2015
Benno Hafeneger
Jugendbildungsstätten sind besondere, originelle und eigensinnige Lern-, Bildungs- und Erfahrungsorte für Jugendliche und junge Erwachsene. Sie werden mit einem diagnostischen Blick in den aktuellen gesellschaftlichen Problemhaushalt, in die vielfältigen – globalen, nationalen und regionalen – Krisenentwicklungen sowie die vielschichtigen und komplexen Entwicklungsaufgaben (Herausforderungen, Übergänge und Krisen) und der Orientierungs- und Zugehörigkeitssuche der jungen Generation als demokratische, soziale und kulturelle Lernorte mehr denn je gebraucht.
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176 unsere jugend, 67. Jg., S. 176 - 180 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art26d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Jugendbildungsstätten - Lern-, Bildungs- und Erfahrungsorte Jugendbildungsstätten sind besondere, originelle und eigensinnige Lern-, Bildungs- und Erfahrungsorte für Jugendliche und junge Erwachsene. Sie werden mit einem diagnostischen Blick in den aktuellen gesellschaftlichen Problemhaushalt, in die vielfältigen - globalen, nationalen und regionalen - Krisenentwicklungen sowie die vielschichtigen und komplexen Entwicklungsaufgaben (Herausforderungen, Übergänge und Krisen) und der Orientierungs- und Zugehörigkeitssuche der jungen Generation als demokratische, soziale und kulturelle Lernorte mehr denn je gebraucht. von Prof. Dr. Benno Hafeneger Professor an der Philipps- Universität Marburg, forscht zu Jugendarbeit/ -bildung und zu rechtsextremen Orientierungen in der jungen Generation Historischer Hinweis Jugendbildungsstätten haben eine lange Tradition, und es gibt sie unterschiedlicher Form und vielfältiger Trägerschaft schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts - in der Wilhelminischen Zeit, der Weimarer Republik und der Geschichte der Bundesrepublik. Vor allem in der neueren Geschichte haben sie seit 1945 in der Demokratieentwicklung und -erziehung (u. a. in der US-amerikanischen Reeducationpolitik bis Anfang der 1950er Jahre) einen wichtigen Stellenwert; sie wurden neben der Schule und Jugendarbeit u. a. als eigene Orte des Lernens und Einübens von Demokratie begründet und gewürdigt. Hier haben sich Jugendliche und junge Erwachsene immer wieder in der Generationenfolge gebildet und demokratische, soziale und kulturelle Lernerfahrungen gemacht. Jugendbildungsstätten wurden zu Trägern von demokratischer Kultur und Zivilgesellschaft; viele TeilnehmerInnen haben hier und in der Jugend(verbands)arbeit prägende Erfahrungen gemacht und sind dann Träger von Politik (in Parteien und Parlamenten) und Zivilgesellschaft (in Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften u. a.) geworden. Jugendbildungsstätten waren (und sind) ein Laboratorium der lebendigen Demokratie, des sozialen und kulturellen Lebens und Lernens. Elemente - Merkmale Zu den wichtigsten - hier stichwortartig skizzierten - strukturellen und normativen Elementen bzw. Merkmalen von Jugendbildungsstätten gehören erstens: ➤ Trägerpluralismus, ➤ Freiwilligkeit der Teilnahme, ➤ Professionalität, ➤ ein breites Spektrum von Themen und Ansätzen, Formaten und Settings, Methoden und Medien, Kooperationen und Vernetzung, ➤ experimentelle und innovative Gelegenheiten und Formate. 177 uj 4 | 2015 Lernort Jugendbildungsstätte Dann gibt es zweitens bei allen Differenzierungen ein gemeinsames normatives Verständnis mit Begründungen wie: ➤ partizipative Demokratie, ➤ Emanzipation und Mündigkeit, ➤ Partizipation und Teilhabe, ➤ Subjektentwicklung, ➤ Aufklärung und Kritikfähigkeit, ➤ Handlungsfähigkeit. Eigener Lern- und Bildungsort Mit den systematischen und wiederholt begründeten Unterscheidungen von formaler, nonformaler, informeller und En-passant-Bildung mit den entsprechenden Lernwelten/ -orten haben auch die Jugendbildungsstätten (wie die Jugendverbände und Offene Jugendarbeit) ihre ausgewiesene Fundierung und Platzierung. Sie sind Gelegenheiten, Orte und Zeiten der non-formalen (und auch informellen) Bildung mit spezifischen, ein- und mehrtägigen Angeboten und Settings (Lehrgängen, Seminaren, Werkstätten, Tagungen, Workshops, internationalen Begegnungen, Besuch von Gedenkstätten und Museen u. v. a) und mit einem offenen Curriculum, das an den Interessen der TeilnehmerInnen orientiert ist. Die Lern-, Bildungs- und Erfahrungsqualität unterscheidet sich - das wird im Folgenden skizziert - von Schule (als formalem Ort), dem Lernen in Familie, mit den Medien, in den Peers und Jugendkulturen (als informelle Lernorte). Acht „gute Gründe“ Es gibt viele „gute Gründe“ für Jugendbildungsstätten, einige will ich hervorheben - sie machen m. E. ihre besondere Bedeutung aus und machen sie mit der Jugendarbeit für Jugendliche und junge Erwachsene zu einem unverwechselbaren Feld von Lernen, Bildung und Erfahrung. 1. Demokratieentwicklung Demokratie als Staatsform, die demokratische Verfasstheit von Gesellschaften müssen immer wieder - in der Generationenfolge - neu gelernt, gelebt und erfahren werden. Demokratien sind immer auch gefährdet, und demokratische Gesellschaften brauchen für ihre Vitalität und Entwicklung sowie die Abwehr von Gefährdungen immer auch Gelegenheiten, Orte und Zeiten, in denen Demokratie gelernt und erfahren wird. Dies gehört - in der Generationenfolge - zu den Bestandsvoraussetzungen einer humanen und sozialen Demokratie. Jugendbildungsstätten leisten einen wesentlichen Beitrag in der Qualifizierung von „personalen Trägern“ von (lokaler) Demokratie und aktiver (verbandlicher) Zivilgesellschaft. 2. Subjektentwicklung Die junge Generation wird familiär, schulisch, beruflich und in der freien Zeit auf das Erwachsenenleben - die Integration in die Erwachsenengesellschaft - vorbereitet. Hier wird sie im Rahmen von Vorgaben und Möglichkeiten ausgebildet, lernt Rollen und sich beruflich-sozial zu platzieren. Neben den dabei erworbenen Kompetenzen und Qualifikationen bedarf es in demokratischen Gesellschaften - mit Blick auf eine ganzheitliche Entwicklung und „reife Persönlichkeit“ - weiter eines politischen Bewusstseins und gelebter Teilhabe, moralischer Orientierung und reflektierter Deutung von Realität. Das macht eine „demokratisch bewusste Persönlichkeit“ aus und bezieht sich auf Wissen und Können und vor allem die Anerkennung der eigenen Subjektivität sowie die Bildung von humanen Gefühlen. In der Ausprägung dieser Elemente von Subjektentwicklung kommt den Jugendbildungsstätten (und der Jugendarbeit) ein wichtiger Stellenwert zu. 3. Demokratie als Lebensform Demokratie ist sowohl eine Staatsals auch eine Lebensform, die im Alltag/ in der Lebenswelt gelernt, erfahren und eingeübt werden muss. Jugendarbeit und Jugendbildungsstätten sind hier - verbunden mit Freiwilligkeit der 178 uj 4 | 2015 Lernort Jugendbildungsstätte Teilnahme, Selbstorganisation, den eigenen Interessen, Teilhabe und Mitbestimmung - originäre Orte des demokratischen Lebens und Lernens. Hier können - durchaus auch konflikthaft - demokratische Alltagstugenden wie Interessenformulierung, Zuhören, Sich-Einbringen, Aufgaben übernehmen, produktiver Streit, Kompromisse, Nachdenklichkeit und Einmischung gelernt und gelebt werden. 4. Normative Orientierungen In Abgrenzung zu anderen Lern- und Bildungsfeldern haben Jugendbildungsstätten - bei allen Differenzierungen und unterschiedlichen Schwerpunkten - auch einen gemeinsamen normativen Horizont, der die junge Generation in ihrer Subjektentwicklung begleiten will; er ist mit Emanzipation, Aufklärung, Partizipation, Kritik- und Handlungsfähigkeit ausgewiesen. Dies beinhaltet, einen reflexiven Umgang mit sich und der Welt zu entwickeln, der über das Bestehende hinausgeht, Neues und Möglichkeitsräume denkt. Eine solche Erschließung von Realität und (auch utopisches) Weiterdenken gilt für Politik und Gesellschaft wie für die eigene biografische Entwicklung. 5. Lern-, Bildungs- und Erfahrungszeiten Jugendbildungsstätten bieten eine spezifische, eigenwillige und produktive Zeitverwendung, die quer liegt zu den reglementierten, beschleunigten und verdichteten Zeitverhältnissen - das gilt auch für die Bildungszeit in Schule, Ausbildung und Hochschule. Während Bildungszeit - so das sich verändernde Verständnis - möglichst ohne Zeitverlust und Umwege vor allem der Bewertung, Nützlichkeit und Employability unterworfen ist und effektiv genutzt werden soll („keine Zeit verlieren“, „Zeit ist knapp und Geld“), gilt diese Zeitökonomie für die Jugendbildungsstätten nicht. Hier ist es Eigenzeit der TeilnehmerInnen, kann nachgedacht und können Umwege gegangen werden, kann inne gehalten und Zeit selbstbestimmt verwandt werden. Jugendbildungsstätten bieten - idealtypisch - so etwas wie entschleunigte Zeiten, sie sind „Zeitinseln“ und „Oasen“ in einer sonst beschleunigten Zeit. Die Zeitverwendung ist hier von den jeweiligen Rhythmen und Prozessen des Lernens bzw. der Lernprozesse bestimmt und daher eigenwillig. 6. Lern-, Bildungs- und Erfahrungsorte Jugendbildungsstätten sind eigensinnige Orte und Räume, in denen es - bei freiwilliger Teilnahme und mit den Interessen der TeilnehmerInnen verbunden - um Lernen, Bildung und Erfahrung geht. Originellen, abgelegenen oder auch ortsnahen Räumen kommt - neben den Themen, der Lerngruppe, den PädagogInnen - eine wichtige Bedeutung zu; sie sind ein eigener„Lernfaktor“, der förderlich oder hinderlich wirken kann. Dabei meint Räume die konkreten räumlichen Bedingungen einer Jugendbildungsstätte, deren Ausstattung und Ressourcen, die Aneignungsmöglichkeiten als sozialer Raum und die Atmosphäre sowie auch die räumliche Umgebung. Wenn die Jugendbildungsstätte einladend wirkt und positive Eindrücke/ Erfahrungen (Erinnerungen) hinterlässt, dann kommen die TeilnehmerInnen gerne wieder. 7. Vernetzung und kommunikative Zentren Jugendbildungsstätten kooperieren (projektbezogen, langfristig, systematisch) mit Schulen und der Jugendarbeit, sie sind mit der Kommune bzw. der Region vernetzt und Partner in lokalen und regionalen Bildungslandschaften. Hier bringen sie ihre eigene Lern-, Bildungs- und Erfahrungswelt ein und stimulieren neue Ideen und Projekte. Diese Praxis macht Jugendbildungsstätten zu wichtigen kommunikativen Zentren und Akteuren, wenn es um Fragen und Themen sowie den Umgang mit der jungen Generation bzw. um Angebote für diese geht. 8. Professionalität/ Beziehung MitarbeiterInnen in Jugendbildungsstätten haben ein eigenes und zugleich komplexes professionelles Profil. Neben den fachlichen Kompetenzen - d. h. Wissen und Können zu Themen und Schwerpunkten, ExpertInnen in Jugendfragen - sind es vor allem zwei Dimensionen: 179 uj 4 | 2015 Lernort Jugendbildungsstätte In mikrodidaktischer Perspektive ist es die Fähigkeit, Lernprozesse klug zu organisieren und zu steuern, die TeilnehmerInnen einzuladen, zu „begeistern“, neugierig zu machen und deren Aufmerksamkeit zu binden - damit Lern- und Bildungsprozesse möglichst gelingen. Lernen und Bildung ist immer mit Personen verbunden, und MitarbeiterInnen können für Jugendliche interessante, sie begleitende und prägende Erwachsene sein (vielleicht solche, die sie bisher noch nicht kennengelernt haben und an die man sich gerne zurückerinnert). Dann ist es die Fähigkeit, eine angemessene Infrastruktur und tragfähige Vernetzung zu organisieren, sich als kommunaler und regionaler Akteur und „Bildungspartner“ zu etablieren, der auch politische Prozesse und Entscheidungen im Sinne von Jugendlichen mit beeinflusst. Empirische Befunde In einer neueren Wirkungsstudie der Hans- Böckler-Stiftung - interviewt wurden Jugendliche und junge Erwachsene, die etwa fünf Jahre zuvor an Veranstaltungen der politischen Bildung teilgenommen haben - werden interessante Ergebnisse deutlich. Die Aussagen zeigen die Anregungen und Impulse, die Jugendliche und junge Erwachsene aus Veranstaltungen der politischen Bildung für ihre weitere Biografie mitgenommen haben. Neben vier angebotenen Lernertypen (Engagement, Vorrat, Blick auf die Welt und berufliche Orientierung) erinnern sich die Interviewten vor allem auch positiv und für sie bedeutsam an die Personen (PädagogInnen) und an die Jugendbildungsstätten als nahen oder auch fernen Lernort mit seinen Lerngelegenheiten und Inhalten, seinem Leben und seiner Atmosphäre, den Gleichaltrigen und erwachsenen PädagogInnen. Die bundesweite Studie bestätigt in der Erinnerung von ehemaligen TeilnehmerInnen die möglichen - hier vier - biografischen und orientierenden Bedeutungen von Jugendbildungsstätten bzw. vom Lernen in Jugendbildungsstätten (vgl. Balzter et al. 2014). Zwei Paradoxien Ich will auf zwei Spannungsbogen bzw. Paradoxien hinwiesen, die konstitutiv zum Feld gehören, die man nicht auflösen, aber an denen man arbeiten kann. Sie müssen als produktive Herausforderungen aufgenommen und immer wieder neu bearbeitet werden; sie gelten für die pädagogischen Lernfelder insgesamt, insbesondere aber für solche, die auf Freiwilligkeit und Offenheit basieren. Das ist erstens das Spannungsfeld von Seminarrealität in einer Jugendbildungsstätte und der Lebenswirklichkeit der TeilnehmerInnen; das sind zwei Welten, und ob Transferprozesse gelingen - d. h. Gelerntes umgesetzt wird, werden kann - bleibt immer ungewiss und den TeilnehmerInnen überlassen. Zweitens ist es - mikrodidaktisch - das Spannungsfeld von Vermittlung und Aneignung. Die Jugendbildungsstätten resp. die MitarbeiterInnen haben ein Programm, wollen was vermitteln und haben ein Ziel; das ist deren Profession und Aufgabe. Das ist die eine Seite der Medaille, die andere Seite sind die Jugendlichen, die mit ihren Motiven, Interessen und Gefühlen kommen. Ob und wie diese sich das Vermittelte aneignen, was sie lernen und welche Aneignungsstrategien sie haben, das bleibt ihnen überlassen. Hier gibt es Erfahrungen, die von gelingenden Seminaren und „Sternstunden der Pädagogik“ (die sich im Selber- und Mitmachen zeigen) bis hin zu weniger gelungenen, schwierigen Seminarverläufen und auch Verweigerungshaltungen reichen. Problematische Entwicklungen Jugendbildungsstätten sind Teil von und eingebunden in die Tendenzen und Entscheidungen der jeweiligen Bildungs- und Jugendhilfepolitik, sie sind ein kleines Segment in der Bildungslandschaft/ -politik, ob in öffentlicher oder freier Trägerschaft. Sie müssen immer wieder um ihre Existenz kämpfen, sich rechtfertigen und sind - wie andere Träger und Einrichtungen der Jugendhilfe/ -arbeit - mit folgenden hier stichwortartig genannten Entwicklungen und Herausforderungen konfrontiert: 180 uj 4 | 2015 Lernort Jugendbildungsstätte ➤ sie unterliegen den finanzpolitischen Rahmenbedingungen und Entwicklungen (Sparpolitik), ➤ die Förderungspolitik und die Träger setzen andere bzw. verändern Schwerpunkte, ➤ Ökonomisierungs- und Verrechtlichungstendenzen, die anderen Bereichen entlehnt werden (betriebswirtschaftliches Denken), ➤ kurzschlüssige und funktionale (d. h. falsche) Vorstellungen von Lernen, Bildung und Erfahrungsverarbeitung, ➤ lediglich „Feuerwehrfunktion“ für bestimmte Zielgruppen und Probleme. Fazit Gegenüber solchen Entwicklungen und Tendenzen brauchen - vor dem Hintergrund der skizzierten Bedeutungen - Jugendbildungsstätten vor allem: finanzielle Gewissheit und Planungssicherheit; politischen Rückenwind; Freiräume für Neues, für experimentelles und innovatives Arbeiten. Jugendbildungsstätten sind ein kleines, aber bedeutendes Lernfeld in einer demokratischen Gesellschaft, weil hier in der Generationenfolge immer wieder neu Akteure qualifiziert und (aus)gebildet werden, die Träger von Demokratie sind und werden. Prof. Dr. Benno Hafeneger Philipps-Universität Marburg Institut für Erziehungswissenschaft Wilhelm-Röpke-Straße 6 B 35032 Marburg hafeneger@staff.uni-marburg.de Literatur Balzter , N., Ristau, Y., Schröder, A. (2014): Wie Politische Bildung wirkt. Wirkungsstudie zur biographischen Nachhaltigkeit politischer Jugendbildung. Wochenschau-Verlag, Schwalbach/ Ts.