unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art31d
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Junge Menschen mit Behinderung zwischen den Systemen: Kommt die große Lösung?
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Reinhard Wiesner
Wie junge Menschen mit Behinderung zu ihrem Recht (auf Teilhabe) kommen, darüber wird in Deutschland seit 50 Jahren immer wieder diskutiert – eine (große) Lösung ist bisher ausgeblieben. Im Kontext der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hat die Debatte jedoch eine neue Dynamik erlangt.
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194 unsere jugend, 67. Jg., S. 194 - 204 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art31d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Junge Menschen mit Behinderung zwischen den Systemen: Kommt die große Lösung? Wie junge Menschen mit Behinderung zu ihrem Recht (auf Teilhabe) kommen, darüber wird in Deutschland seit 50 Jahren immer wieder diskutiert - eine (große) Lösung ist bisher ausgeblieben. Im Kontext der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hat die Debatte jedoch eine neue Dynamik erlangt. von Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner Jg. 1945; MinRat a. D., Rechtsanwalt, Kanzlei Bernzen Sonntag, Berlin Im deutschen Rechtssystem stehen sich die altersunabhängige Behindertenhilfe und die altersspezifische Kinder- und Jugendhilfe gegenüber. Damit bedarf es für junge Menschen mit Behinderung spezifischer Kriterien, nach denen die Deckung eines individuellen Bedarfs im einen oder anderen Hilfesystem erfolgt. Bis heute ist es nicht gelungen, praktikable Kriterien zu entwickeln, vielmehr ist die Praxis von Zuständigkeitsstreitigkeiten gekennzeichnet, die personelle Ressourcen vergeuden und dazu führen, dass Kinder und Jugendliche nicht rechtzeitig die zustehenden Hilfen erhalten. Der auf die Eltern-Kind-Beziehung ausgerichtete erzieherische Bedarf und die lange Zeit als persönliche Eigenschaft - inzwischen aber als gesellschaftliche Konstruktion (Bielefeldt 2009, 8) - verstandene Behinderung stehen häufig in einer Wechselwirkung zueinander. Schon im Diskussionsentwurf eines Jugendhilfegesetzes aus dem Jahre 1973 wurde dieses Thema - kontrovers - diskutiert. Weil bei der Habilitation und Rehabilitation behinderter junger Menschen pädagogische Hilfen im Vordergrund stehen müssen, seien diese Aufgaben als solche der Jugendhilfe anzusehen und müssten daher in ein neues Jugendhilfegesetz integriert werden - so argumentierten damals die BefürworterInnen einer großen Lösung (Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1973, 122). Namhafte VertreterInnen der Kinder- und Jugendpsychiatrie, aber auch der Kinder- und Jugendhilfe haben sich im Laufe der anschließenden fast 20-jährigen Reformdiskussion für eine neue Architektur des Kinder- und Jugendhilferechts ausgesprochen. Behinderte Kinder und Jugendliche sollten nicht länger dem Sondersystem „Behindertenrecht“ zugeordnet werden, sondern der für die Lebenslage von Kindern und Jugendlichen zuständigen Jugendhilfe. Das KJHG und die kleine Lösung Im Rahmen der Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts im Jahre 1990, deren Kernstück (Art. 1 KJHG) das Achte Buch Sozialge- 195 uj 5 | 2015 Junge Menschen mit Behinderung setzbuch - Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) - war, wurde aber nur die sogenannte „kleine Lösung“ umgesetzt, d. h. die Zuständigkeit für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung wurde aus der Gesamtzuständigkeit der Eingliederungshilfe im (damaligen) Bundessozialhilfegesetz (BSHG) herausgelöst und der Kinder- und Jugendhilfe zugewiesen. Konkret sichtbar wurde diese Gesetzesänderung in der Einführung eines neuen Leistungstatbestandes, des § 35 a SGB VIII, nachdem zunächst die Eingliederungshilfe als Unterfall der Hilfe zur Erziehung in § 27 SGB VIII geregelt war. Mit diesem Schritt folgte der Gesetzgeber Reformvorschlägen, wie sie etwa der Deutsche Verein für öffentliche Fürsorge in seinen Thesen zu einem neuen Jugendhilferecht (Deutscher Verein 1973) vorgestellt hatte. Grund für diese „kleine Lösung“ war die Erkenntnis, dass die Schnittmenge zwischen seelischer Behinderung einerseits und Verhaltensauffälligkeit und Entwicklungsstörung andererseits so groß ist, dass eine praktikable Zuordnung der Symptomatik und des daraus resultierenden Hilfebedarfs zur Eingliederungshilfe (wegen der seelischen Behinderung) bzw. zur Kinder- und Jugendhilfe (wegen der Störung der Entwicklung) nicht möglich ist (vgl. Wiesner 1996, 199). Die „große Lösung“ wurde wegen der damit verbundenen Vollzugsprobleme, auf die noch näher einzugehen sein wird, aber auch wegen der Ablehnung durch die Behindertenverbände zurückgestellt. Die Zuweisung junger Menschen mit Behinderung zum Jugendamt wurde - und wird zum Teil bis heute - dort als Stigma empfunden, da sie elterliches Versagen in der Erziehung der Kinder impliziere. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass sich mit der Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts das Aufgabenverständnis der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne eines Perspektivenwechsels hin zu einer stärker präventiven, familienunterstützenden Funktion geändert hat. Manche Eltern sind allerdings auch (bis heute) nicht bereit, sich auf die systemische Sichtweise der Kinder- und Jugendhilfe einzulassen, die die Beeinträchtigung des Kindes im Zusammenhang mit dem Erziehungsverhalten der Eltern sieht und damit (auch) von ihnen ggf. Verhaltensänderungen erwartet. Die „kleine Lösung“ erwies sich von Anfang an als Kompromiss mit vielen Nachteilen, weil sie nach den Formen der Behinderung differenziert, keine überzeugende Antwort auf die Behandlung einer sogenannten Mehrfachbehinderung gibt und im Hinblick auf Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger Behinderung den Zusammenhang zwischen Erziehungskompetenz der Eltern einerseits und Beeinträchtigung des Kindes oder Jugendlichen andererseits vernachlässigt (Fegert 2010; Meysen 2010 und 2014). So blieb es bis zum heutigen Tag bei einer Zweiteilung - jungen Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung, die der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII zugeordnet sind, und jungen Menschen mit einer seelischen Behinderung, die der Kinder- und Jugendhilfe zugeordnet sind. Auch die Schaffung des SGB IX als gemeinsames Dach über den verschiedenen Rehabilitationsträgern konnte diese Kluft nicht beseitigen (vgl. Wiesner 2001). Denn auch mit dem SGB IX wurde weder das Behindertenrecht als eigenständiger Sozialleistungsbereich geregelt noch eine neue Architektur des Kinder- und Jugendhilferechts in die Wege geleitet. Zwar werden im SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen -, das am 1. 7. 2001 in Kraft getreten ist, Leistungen zur Teilhabe in vier Leistungsgruppen zusammengefasst (§§ 4,5 SGB IX), bleiben aber verschiedenen Leistungsbereichen, insbesondere der Sozialversicherung, dem sozialen Entschädigungsrecht, der Bundesanstalt für Arbeit, der Sozialhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe zugeordnet. Dem SGB IX kommt insofern nur die Funktion zu, allgemeine Grundsätze zu formulieren und über Verfahrensregelungen 196 uj 5 | 2015 Junge Menschen mit Behinderung einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Leistungssystemen herzustellen. Damit umfasst das gegliederte System der Leistungen zur Teilhabe im Hinblick auf junge Menschen bis heute nicht nur Leistungen der Sozialhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch Leistungen der medizinischen Rehabilitation der Krankenkassen (zum Beispiel § 43 a SGB V) und der Rentenversicherung (§ 31 SGB VI) sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 97 SGB III). Die Große Lösung - zurück auf der politischen Agenda Das Thema „große Lösung“ hat inzwischen in verschiedenen Strukturdebatten wieder neue fachpolitische Aufmerksamkeit erhalten. So wird von Ländern, kommunalen Spitzenverbänden und Behindertenorganisationen seit Jahren eine Neuordnung des Behindertenrechts gefordert. Unter dem Stichwort „Weiterentwicklung der Sozialhilfe“ wird neben einer Stärkung von Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Selbsthilfepotenzialen sowie einer verbesserten Steuerung und Wirkungskontrolle die Herauslösung der Eingliederungshilfe aus der öffentlichen Fürsorge und ihre Verankerung in einem vom Bund (mit-)finanzierten Leistungssystem gefordert (Welti 2014 a). Um die Zustimmung der Länder zum sogenannten Fiskalpakt zu erreichen, hat der Bund den Ländern versprochen, sie bei ihren Sozialausgaben zu entlasten. So haben sich Bund und Länder über die Verabschiedung eines Bundesleistungsgesetzes für die Eingliederungshilfe verständigt. Hier sollen die Länder jährlich um vier Mrd. Euro entlastet werden. In einer Entschließung fordern die Länder sogar die volle Kostentragung durch den Bund (Bundesrats-Drucksache 282/ 12 - Beschluss vom 22. 3. 2013). Im Rahmen dieser Grundsatzdiskussion wurde zur Prüfung von Möglichkeiten für eine Neuordnung der Zuständigkeiten zur Sicherung der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen eine Interkonferenzielle Arbeitsgruppe (Arbeits- und Sozialministerkonferenz - ASMK; Jugend- und Familienministerkonferenz - JFMK; Kultusministerkonferenz - KMK; Gleichstellungs- und Frauenministerkonferenz - GFMK unter Beteiligung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales - BMAS sowie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - BMFSFJ) eingerichtet, die sich eindeutig für die „große Lösung“ ausgesprochen hat (vgl. Koch/ Porr/ Struck 2010). Der Transfer von Finanzen und Personal Schon in der Debatte der 70er-Jahre über die Realisierung der großen Lösung erwiesen sich die damit verbundenen Fragen des Transfers von Finanzen und Personal von dem einen Leistungssystem in das andere als zentrale Herausforderung, die nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes nicht durch den Bund, sondern durch Länder und Kommunen zu meistern ist. Viel stärker als bei der Erbringung von Geldleistungen hängt die Erbringung personenbezogener sozialer Dienstleistungen von einer Kooperation der am Hilfeprozess beteiligten Personen sowie einer an den Zielen des Gesetzes orientierten Leistungssteuerung ab. Zielsetzungen des Gesetzes können so durch eine dysfunktionale Verwaltungsorganisation konterkariert werden. Da die Eingliederungshilfe nach dem SGB XII in den Bundesländern unterschiedlich organisiert (und finanziert) ist, können die Herausforderungen, die mit einer Neuordnung der Zuständigkeiten verbunden sind, nur landesspezifisch identifiziert und bewertet werden. Am einfachsten dürfte sich eine Neuordnung in den Stadtstaaten sowie in den Bundesländern gestalten lassen, in denen die Eingliederungshilfe kommunalisiert ist und die örtlichen Träger beider Systeme (weitgehend) identisch sind. 197 uj 5 | 2015 Junge Menschen mit Behinderung Die Aufgabenwahrnehmung setzt aber nicht nur eine entsprechende Organisationsstruktur und Finanzausstattung, sondern vor allem auch die notwendige fachliche Kompetenz voraus. Die Feststellung von (spezifischen) Bedarfen von Kindern und Jugendlichen mit körperlicher oder geistiger Behinderung gehörte bisher nicht zu den zentralen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe. Jeder Neuzuschnitt der Aufgabenverantwortung ist deshalb zwangsläufig mit einem Erwerb zusätzlicher Kompetenzen verbunden. Dies kann durch die Umschichtung von Fachpersonal, das durch die Aufgabenverlagerung in den bisherigen Behörden frei wird, geschehen, aber auch dadurch, dass vorhandenes Personal entsprechend qualifiziert wird. Jedenfalls bedarf es entsprechender Strategien, die gewährleisten, dass Jugendämter die erweiterten Aufgaben und damit auch die ihnen obliegende Steuerungsverantwortung mit der nötigen Fachkompetenz erfüllen. Die unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen Während der Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII auch Kindern und Jugendlichen mit einer drohenden seelischen Behinderung zusteht, beschränkt § 53 SGB XII bei der Eingliederungshilfe für Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung den Rechtsanspruch auf Menschen mit einer „wesentlichen“ Behinderung und stellt die Leistungsgewährung im Übrigen in das pflichtgemäße Ermessen der Behörde. Im Hinblick auf die Folgen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung für die weitere Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen sollte der Gesetzgeber den präventiven Aspekt im Blick haben und sich am Modell des Rechtsanspruchs auf Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung orientieren, also nicht länger zwischen wesentlicher und nicht wesentlicher Behinderung differenzieren. Wegen der damit verbundenen Senkung der Leistungsvoraussetzungen für Kinder und Jugendliche mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung ist diese Lösung allerdings mit Mehrkosten (für die kommunalen Gebietskörperschaften) verbunden. Der Übergang in das (neue) Bundesteilhabegesetz Bei der Realisierung der großen Lösung ist auch zu bedenken, dass (vor allem) körperliche und geistige Beeinträchtigungen (leider) über das Erreichen der Volljährigkeit und der sozialen Integration und damit über die magische Altersgrenze des Kinder- und Jugendhilferechts, das 27. Lebensjahr, hinaus fortdauern. Dieser Befund scheint auf den ersten Blick für eine generelle Zuordnung der Leistungen für junge Menschen mit Behinderung zu einem einheitlichen Behindertenrecht (außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe) zu sprechen. Bei diesem Konzept, das innerhalb der kommunalen Spitzenverbände immer noch Anhänger findet (Vorholz 2010), wird aber die spezifische Bedeutung der Lebenslage Kindheit und Jugend für die Bewertung der verschiedenen Formen der Beeinträchtigung ausgeblendet. Bei einer großen Lösung in der Gesamtzuständigkeit der Kinder und Jugendhilfe bedarf es somit einer praktikablen Abgrenzungsregelung zwischen den Zuständigkeiten der Leistungssysteme, die sich aber in Form einer Altersgrenze - etwa bei 18 oder 21 Jahren - relativ leicht finden lässt. Dieser Übergang wird auch bei der Konzeption eines neuen Bundesleistungsgesetzes in den Blick zu nehmen sein. Harmonisierung der Kostenbeteiligung Schließlich bedarf es auch einer Harmonisierung der Kostenbeteiligung. Im Augenblick ist die Heranziehung von Eltern und jungen Menschen zu den Kosten der Leistung in der Jugend- 198 uj 5 | 2015 Junge Menschen mit Behinderung hilfe nach dem SGB VIII und in der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII unterschiedlich ausgestaltet. Während in der Kinder- und Jugendhilfe die Kostenbeteiligung auf bundesgesetzlicher Ebene detailliert und transparent geregelt ist (§§ 92ff SGB VIII i. V. mit der KostenbeitragsVO), führen in der Sozialhilfe die öffentlich-rechtliche Heranziehung mit ihrer Verflechtung zum zivilrechtlichen Unterhalt, die damit einhergehenden unterschiedlichen Bewertungen von Zumutbarkeit und häuslicher Ersparnis, die Privilegierung bestimmter Leistungen und zudem die Tatsache, dass der notwendige Unterhalt in Einrichtungen nicht mehr zu den Kosten der Leistung zählt und daher gesondert zu behandeln ist, zu einer nicht mehr steigerbaren Komplexität (AGJ 2011). Eine große Lösung ist deshalb nur bei gleichzeitiger Harmonisierung der Kostenbeteiligung denkbar. Damit bleibt jedoch das Problem bestehen, dass die Kostenlast bislang für die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII und den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe teilweise recht unterschiedlich verteilt ist. Wie der direkte Vergleich zeigt, sind die Unterschiede zwar erheblich, aber sie begünstigen keineswegs ganz so deutlich, wie häufig behauptet, die Anspruchsberechtigten der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII bzw. deren Eltern. So werden etwa nach der Systematik des Kinder- und Jugendhilferechts alle ambulanten Leistungen kostenfrei gewährt und auch bei den teilstationären Leistungen können durchaus erheblich geringere Beteiligungskosten entstehen. Im Bereich der stationären Leistungen dürfte es hingegen eher zu einer geringeren Belastung der Eltern kommen, deren Kinder nach Maßgabe des SGB XII untergebracht werden, da der Übergang der Unterhaltsansprüche über § 92 Abs. 2 SGB XII nahezu durchgängig auf die Kosten der häuslichen Ersparnis beschränkt ist (AGJ 2011). Es bedarf also vor einer Entscheidung über die Maßstäbe für ein neues System der Kostenheranziehung einer genauen Analyse und transparenten Darstellung, inwieweit Eltern mit höheren bzw. geringeren Belastungen rechnen müssen, und die Ergebnisse auch fachpolitisch zu kommunizieren, um damit die Akzeptanz der Reform zu erhöhen. Der inklusive Ansatz und seine Herausforderungen Das Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention Einen neuen Schub hat die Debatte über eine Neujustierung der Zuständigkeiten von Jugend- und Sozialhilfe im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention erhalten. Der Konvention liegt ein Verständnis von Behinderung zugrunde, das diese - bzw. die ihr zugrunde liegende Beeinträchtigung - nicht von vornherein defizitär bzw. negativ betrachtet, sondern als normalen Bestandteil menschlichen Lebens und menschlicher Gesellschaft ausdrücklich bejaht und darüber hinaus als Quelle möglicher kultureller Bereicherung wertschätzt (sogenannter Diversity-Ansatz). Die Konvention würdigt das Leben mit Behinderungen als Ausdruck gesellschaftlicher Vielfalt und fordert damit Anerkennung nicht nur für den behinderten Menschen und seine Würde, sondern auch für die durch die Behinderung bedingten besonderen Lebensformen (Bielefeld 2009; Zinke 2010). Behinderung resultiert - so die Sichtweise der Konvention - aus der Beziehung zwischen Personen mit Beeinträchtigungen und den in Grundhaltungen und Umweltfaktoren bestehenden Barrieren mit der Folge, dass dadurch die vollständige und wirksame Beteiligung der Betroffenen auf der Grundlage der Gleichheit mit anderen behindert wird. An die Stelle des medizinischen Modells der Behinderung tritt das menschenrechtliche Modell (Degener 2009). Die Behinderung eines Menschen ist damit keine Eigenschaft, sondern ein Konstrukt - das Ergeb- 199 uj 5 | 2015 Junge Menschen mit Behinderung nis einer Kontextabwägung. Die Personen haben zwar eine individuelle Benachteiligung, diese wächst sich aber erst dann zu einer Behinderung aus, wenn die Umwelt nicht entsprechend organisiert und strukturiert ist. Umwelt umfasst einerseits die Haltung der Personen, die im Kontakt zu den Personen mit Beeinträchtigungen stehen, andererseits die Umweltfaktoren, zum Beispiel Barrieren usw. Denkt man die Konvention zu Ende, wird es zwar wohl immer beeinträchtigte Personen geben, aber der Anteil von Menschen „mit Behinderung“ müsste mit der Umsetzung der Konvention tendenziell deutlich sinken. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist seit dem 26. März 2009 geltendes Recht in Deutschland. Sie reiht sich ein in die Menschenrechtskonventionen. So basieren verschiedene Artikel auf der UN-Kinderrechtskonvention. Zentral ist die Verpflichtung zur Schaffung eines inklusiven Bildungssystems (Art 24). Welche Folgen sich aus dem Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention für die Rechtslage in Deutschland ergeben, wird (auch unter JuristInnen) kontrovers diskutiert (Masuch 2014). Der Streit hat sich vor allem an der Frage entzündet, ob die Länder zur Aufnahme von SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderungsbedarf in eine Regelschule verpflichtet sind. Von der Integration zur Inklusion Im Hinblick auf die Anforderungen für die Umsetzung ist das Konzept der Inklusion radikaler und weiter gehend als das der Integration. Während die Integration auf die Wiedereingliederung behinderter Menschen in bestehende gesellschaftliche Strukturen zielt, weist das Konzept der Inklusion auf die Umgestaltung der sozialen Umwelt als Voraussetzung für die gemeinsame Nutzung und die gesellschaftliche Teilhabe durch heterogene Gruppen von Menschen - hier der Kinder und Jugendlichen - hin (Dannenbeck 2008). Zu Recht ist deshalb die amtliche deutsche Fassung der Konvention kritisiert worden, die den Begriff „Inklusion“ mit „Integration“ übersetzt und im Ergebnis die so definierten Anforderungen der Konvention für (weitgehend) erfüllt ansieht (Degener 2009; Zinke, 2010). Dennoch ist das Ziel der Inklusion wohl nur „zweigleisig“ zu erreichen - zum einen über individuelle Hilfen zur Teilhabe und zum anderen über die Umgestaltung der sozialen Umwelt als Voraussetzung für die gemeinsame Nutzung und gesellschaftliche Teilhabe durch heterogene Gruppen von Kindern und Jugendlichen. Das Konzept der Inklusion als Auftrag für alle Leistungssysteme Das Paradigma der Inklusion hat aber nicht nur Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Jugend- und Sozialhilfe. Es bedeutet, dass alle Leistungssysteme sich so verändern müssen, dass sie eine individuelle Förderung aller Personen ermöglichen - unabhängig von der Art ihrer Beeinträchtigung bzw. ihres Handicaps. Verbunden damit ist die Forderung nach der Abschaffung von Parallelstrukturen und Sondereinrichtungen. Dies kann und darf aber nicht durch eine bloße Schließung der Sondereinrichtungen und die Aufnahme der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen bzw. mit Beeinträchtigungen in die Regeleinrichtungen geschehen. Die große Herausforderung wird darin bestehen, das bzw. die Regelsysteme qualitativ so umzugestalten, dass die Bedarfe aller Personen abgedeckt werden. Am Ende wird die Frage zu beantworten sein, ob es noch eine Existenzberechtigung für ein Sonderrecht, für spezifische Rechtsvorschriften zur Teilhabe bzw. Eingliederung nach dem Muster des SGB IX geben kann oder ob dieses Ziel nicht bereichsspezifisch in den einzelnen Leistungsgesetzen umgesetzt, also dort inkludiert werden muss. 200 uj 5 | 2015 Junge Menschen mit Behinderung Inklusion: Kinder- und Jugendhilfe neu denken? Die inklusive Ausgestaltung des Leistungssystems Nimmt man die Botschaft der UN-Behindertenrechtskonvention ernst, so geht es also nicht länger „nur“ um die Umsetzung der sogenannten großen Lösung, nämlich eine Verlagerung des Leistungsbereichs der Eingliederungshilfe für junge Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung aus dem SGB XII in das SGB VIII, sondern um eine neue Architektur der Kinder- und Jugendhilfe, nämlich um eine inklusive Ausgestaltung des Leistungssystems. Dies verlangt, den gesamten Leistungskatalog des SGB VIII auf den Prüfstand zu stellen und sich Gewissheit zu verschaffen, ob alle Leistungsangebote auch die Anforderungen und Bedürfnisse der jungen Menschen mit Behinderung mit im Blick haben. Dabei wird zwischen Leistungen (der Kinder- und Jugendhilfe) zu unterscheiden sein, die als Regelleistungen einzustufen sind bzw. sich an Gruppen von Kindern und Jugendlichen richten - wie etwa Kindertagesstätten oder Jugendarbeit, und solchen, die spezifische Bedarfe im Einzelfall decken sollen. Im ersten Fall werden die Strukturen der Einrichtungen so umzugestalten sein, dass dort die unterschiedlichen Bedarfe aller Kinder der jeweiligen Altersgruppe gedeckt werden können. Die große Herausforderung wird (wie in der Schule) darin bestehen, auch in einem „inklusiveren“ System unter größtmöglichem Verzicht auf besondere Einrichtungen und Dienste für spezielle Gruppen dennoch jedem jungen Menschen mit seinem individuellen Bildungs-, Betreuungs- und Förderbedarf gerecht zu werden. Es würde jedenfalls nicht ausreichen, einfach alle Kinder in einer Einrichtung zu betreuen. Wenn nämlich nicht durch entsprechende (sonder-)pädagogische Qualifizierung und Aufstockung des Personals und eine diversitysensible Strukturierung der Angebote sichergestellt werden könnte, dass Kinder und Jugendliche mit festgestellten Beeinträchtigungen oder sonstigen „Eigenheiten“ (Sprachproblemen, Verhaltensauffälligkeiten, sog. ADHS etc.) eine bestmögliche individuelle Förderung erhalten, dann könnte sich das ambitionierte Konzept der Inklusion in sein Gegenteil verwandeln. Kinder mit speziellen Förderbedarfen würden gewissermaßen in die Rolle von inkludierten Außenseitern gedrängt. In der Phase des Übergangs zu inklusiven Angeboten müssen daher Angebotslücken vermieden werden. Keinesfalls darf es aufgrund inklusiver Angebote zu Leistungsverschlechterungen für diejenigen kommen, die bislang in Sondersystemen betreut werden. Vor den Risiken und Nebenwirkungen bei der Umsetzung des Inklusionsprinzips warnt auch die Sachverständigenkommission zum 14. Kinder- und Jugendbericht (BT-Drs. 17/ 12200, 370). Besonderer Aufmerksamkeit bedarf das Verhältnis der Hilfe zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) zur Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen (§ 35 a SGB VIII bzw. § 53 SGB XII). Ob zusammen mit der Konzipierung der sogenannten großen Lösung also der Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen mit Behinderung auch gleichzeitig eine Fusion der Leistungstatbestände Hilfe zur Erziehung einerseits und Hilfe zur Entwicklung und Teilhabe andererseits angezeigt ist - wie dies von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe vorgeschlagen wird (ASMK/ JFMK 2013), bedarf aber noch der Diskussion. Das Problem besteht hier darin, dass eine systembezogene Leistung (HzE) mit einer personenbezogenen Leistung (zur Teilhabe) fusioniert werden soll. Vorschläge, bei dieser Gelegenheit den Rechtsanspruch „endlich“ dem Kind oder Jugendlichen und nicht länger den (personensorgeberechtigten) Eltern zuzuerkennen, sind aber nicht überzeugend, weil sie ausblenden, dass die Hilfe zur Erziehung darauf abzielt, die (verfassungsrechtlich) den Eltern obliegende Erziehungsverant- 201 uj 5 | 2015 Junge Menschen mit Behinderung wortung zu stärken, um damit die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen zu fördern und (nach Möglichkeit) eine Gefährdung des Kindeswohls zu vermeiden (sekundäre Prävention). Andernfalls müssten Eltern sich künftig auf ein Recht des Kindes beziehen, um staatliche Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu erhalten. Hinzu kommt, dass jedenfalls nach geltendem Recht die Leistungsvoraussetzungen für die Gewährung von Hilfe zur Erziehung von denen für die Gewährung von Eingliederungshilfe abweichen. Die Schwelle für die Inanspruchnahme einer Hilfe würde aber deutlich erhöht, wenn künftig die bisher den einzelnen Leistungen zugeordneten Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssten. Diskutiert werden in diesem Zusammenhang auch Vorschläge, die Leistungsvoraussetzungen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Erziehung innerhalb eines Leistungstyps alternativ gegenüberstellen (Wabnitz 2013). Damit wird aber die Janusköpfigkeit dieses Konstrukts deutlich. Das Ende der Ausfallbürgschaft für andere Systeme Die Forderung nach einem inklusiven Hilfesystem richtet sich aber nicht nur an die Kinder- und Jugendhilfe, sondern an alle Leistungssysteme, also auch an die Schule, die Arbeitsförderung, das Gesundheitssystem und die Sozialhilfe. Wenn alle Systeme die Implikationen der UN- Behindertenrechtskonvention ernst nehmen und sich auf den Weg zur Etablierung einer inklusiven Ausrichtung ihres Leistungsangebots machen, dann muss dies auch Folgen an den Schnittstellen haben. So muss inklusive Bildung (in der Schule) die Förderung aller Kinder im Blick haben - was etwa die Förderung von Kindern mit Lese- oder Rechtschreibschwäche bzw. auch die Bereitstellung der Assistenzdienste einschließt. Die Auslagerung solcher Formen der Sonderförderung oder Assistenzaufgaben auf die subsidiären Fürsorgesysteme, wie wir sie bisher kennen, hat damit keine Berechtigung mehr. Dieses Thema wird gegenwärtig in Zusammenhang mit der Frage diskutiert, wie weit der sogenannte pädagogische Kernbereich der Schule reicht und wem die Kompetenz zusteht, diesen Bereich zu definieren (Welti 2014 b). So wird genauer zu prüfen sein, welche Leistungen bei konsequenter Umsetzung des Inklusionsansatzes bei der Kinder- und Jugendhilfe verbleiben und welche originär vom Gesundheitssystem, vom Schulsystem, von den Trägern der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) und von den Trägern der Leistungen der Arbeitsförderung (SGB III) zu gewähren sind. Auf die Kinder- und Jugendhilfe werden daher neben den erheblichen neuen Anforderungen auch entlastende Effekte zukommen - wenn alle Systeme ihrer Verantwortung gerecht werden! Die Verpflichtung zur systemübergreifenden Zusammenarbeit Auch mit einer inklusiven Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe und der benachbarten Leistungssysteme entfällt die Pflicht zur Koordination der verschiedenen Rehabilitationsträger nicht. Denn ein solcher Koordinierungsbedarf wird dann auch weiterhin mit den Krankenkassenoderden Agenturenfür Arbeit, aber -über die Träger von Sozialleistungen hinaus - auch mit den Schulen oder dem öffentlichen Gesundheitsdienst bestehen. Welche Probleme sich dabei ergeben können, zeigt gegenwärtig schon der Umgang mit der Komplexleistung Früherkennung und Frühförderung und der dabei notwendigen Kostenteilung zwischen den Leistungssystemen (§ 30 Abs. 1, § 56 SGB IX). Deshalb werden Instrumente wie etwa die trägerübergreifende Teilhabeplanung (§ 10 SGB IX), eher noch an Bedeutung gewinnen. Dabei kann das System der Hilfeplanung, wie es in der Kinder- und Jugendhilfe seit nunmehr 25 Jahren ein wichtiger fachlicher Standard ist (§ 36 SGB VIII), eine gute Grundlage bieten. 202 uj 5 | 2015 Junge Menschen mit Behinderung Zum Stand der (politischen) Debatte Die Positionierung des 13. und des 14. Kinder- und Jugendberichts Im zeitlich engen Zusammenhang mit der Konvention ist der 13. Kinder- und Jugendbericht zum Thema Kinder und Gesundheit erstellt worden, der sich allgemein und abstrakt auch mit dem Thema Behinderung befasst, jedoch keine konkreten Empfehlungen zur Neugestaltung des deutschen Rechts aufstellt (Lüders 2010). Allerdings findet sich in der Stellungnahme der Bundesregierung ein eindeutiges Bekenntnis. Sie unterstützt nicht nur den inklusiven Ansatz der Berichtskommission, sondern auch deren Aussage, dass alle Maßnahmen an einer Inklusionsperspektive auszurichten sind, die keine Aussonderung akzeptiert. Schließlich stellt die Bundesregierung fest: „Das Leistungsangebot für behinderte Kinder und Jugendliche muss sich primär an der Lebenslage Kindheit und Jugend orientieren“, benennt aber auch die Herausforderungen für die Ausgestaltung eines inklusiven Hilfesystems. Auch die Sachverständigenkommission zum 14. Kinder- und Jugendbericht, einem sog. Gesamtbericht, spricht sich nachdrücklich für die Verwirklichung der Großen Lösung aus, benennt aber auch klar die dabei zu schaffenden Voraussetzungen, wie die erweiterten fachlichen Anforderungen an die Jugendämter, die Schaffung einer bedarfsgerechten Angebotsstruktur und die Harmonisierung der Heranziehung zu den Kosten (Deutscher Bundestag 2013, 377f ). Der Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode Anknüpfungspunkte für diese Thematik finden sich im Kapitel 4: Zusammenhalt in der Gesellschaft. Dort heißt es im Abschnitt Familie stärken - Kinder- und Jugendhilfe: „Die Kinder- und Jugendhilfe soll auf einer fundierten empirischen Grundlage in einem sorgfältig strukturierten Prozess zu einem inklusiven, effizienten und dauerhaft tragfähigen und belastbaren Hilfesystem weiterentwickelt werden. Dazu gehören geeignete Finanzierungsmodelle für systemische Unterstützungsformen (z. B. an den Schnittstellen von SGB VIII, SGB XII und Schulträger).“ Weiterhin werden in Abschnitt Menschen mit und ohne Behinderung Zielsetzungen formuliert: „Wir wollen die Menschen, die aufgrund einer wesentlichen Behinderung nur eingeschränkte Möglichkeiten der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft haben, aus dem bisherigen „Fürsorgesystem“ herausführen und die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickeln. Die Leistungen sollen sich am persönlichen Bedarf orientieren und entsprechend eines bundeseinheitlichen Verfahrens personenbezogen ermittelt werden. Leistungen sollen nicht länger institutionenzentriert, sondern personenzentriert bereitgestellt werden. Wir werden das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention berücksichtigen. Menschen mit Behinderung und ihre Verbände werden von Anfang an und kontinuierlich am Gesetzgebungsprozess beteiligt. Im Interesse von Kindern mit Behinderungen und ihren Eltern sollen die Schnittstellen in den Leistungssystemen so überwunden werden, dass Leistungen möglichst aus einer Hand erfolgen können …“ Konkrete Handlungsschritte lassen sich aus diesen programmatischen Ankündigungen allerdings nicht ableiten. Völlig offen bleibt vor allen Dingen das Verhältnis des angekündigten Bundesleistungsgesetzes, mit dem die Eingliederungshilfe im SGB XII abgelöst werden soll, zur Ausgestaltung einer großen Lösung im Kinder- und Jugendhilferecht. 203 uj 5 | 2015 Junge Menschen mit Behinderung Inklusion als gesellschaftspolitische Herausforderung Die Botschaft der UN-Behindertenrechtskonvention richtet sich aber nicht nur an die staatlichen Institutionen, sondern auch an die Gesellschaft insgesamt. Wenn wir unser soziales Umfeld ansehen, dann können wir feststellen, dass noch ein weiter Weg zurückzulegen ist, bis Behinderung „als Ausdruck der Vielfalt menschlichen Lebens, als Normalität“ verstanden wird. In einer Gesellschaft, die Effizienz, Schnelligkeit und Schönheit als „Maß aller Dinge“ begreift, bedarf es eines erheblichen Umdenkens, wenn nun die Kinder ehrgeiziger Eltern gemeinsam mit Kindern mit (schweren) körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen gefördert werden sollen. Aber auch für die Kinder mit Beeinträchtigungen wird die Erkenntnis schmerzhaft sein, wenn sie (immer wieder) feststellen müssen, dass andere schneller und fitter sind als sie selbst. Auf die Fachkräfte kommen daher enorme Herausforderungen zu, damit das Ziel, dass die gemeinsame Erziehung und Förderung für die Entwicklung aller Kinder vorteilhaft ist, auch tatsächlich erreicht werden kann. Dies bedeutet andererseits, dass die rechtliche und fachpolitische Diskussion nur und erst dann ihr Ziel erreichen kann, wenn sie von einer gesellschaftspolitischen Diskussion begleitet wird. Hier stehen wir erst am Anfang. Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner Kanzlei Bernzen Sonntag August-Exter-Straße 4 81245 München wiesner@msbh.de Literatur Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ (Hrsg.) (2011): Kostenbeteiligung für Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII und für Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII im Vergleich - Probleme und Ansatzpunkte einer Harmonisierung, Expertise. Eigenverlag, Berlin ASMK, JFMK (2013): Bericht der von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) und der Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) eingesetzten Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ vom 5. März 2013. In: http: / / msagd.rlp. de/ fileadmin/ masgff/ Aktuelles/ asmk/ Ergebnisse/ Abschlussbericht_Endfassung.pdf, 18. 2. 2015 Bielefeldt, H. (2009): Zum Innovationspotential der Behindertenrechtskonvention. In: http: / / www.institutfuer-menschenrechte.de/ uploads/ tx_commerce/ essay_no_5_zum_innovationspotenzial_der_un_ behindertenrechtskonvention_aufl3.pdf, 18. 2. 2015 Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (1973): Diskussionsentwurf eines Jugendhilfegesetzes, C. F. Müller, Heidelberg Dannenbeck, C. (2008): Vom Integrationszum Inklusionsparadigma. Gemeinsam leben 1, 195 - 202 Degener, T. (2009): Die UN-Behindertenrechtskonvention als Inklusionsmotor. Recht der Jugend und des Bildungswesens 57, 200 - 219 Deutscher Bundestag (2009): 13. Kinder- und Jugendbericht, Bundestags-Drucksache 16/ 12860 v. 30. 4. 2009 Deutscher Bundestag (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht, Bundestags-Drucksache 17/ 12200 v. 30. 1. 2013 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (1973): Thesen des Deutschen Vereins zu einem neuen Jugendhilferecht. Eigenverlag, Frankfurt a. M. Fegert J. (2010): Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Gemeinsames Sonderheft Jugendamt/ Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe o. Jg., 13 - 14 Koch J., Porr C., Struck N. (2010): Zeit lassen … aber ganz schnell anfangen! Zur aktuellen Debatte um die große Lösung. Forum Erziehungshilfen 16, 196 - 201 Lüders C. (2010): Der 13. 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