unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art32d
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Hilfe bei seelischer Behinderung
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Maria Kurz-Adam
Die bundesweite Gesetzeslage hat bislang nicht dazu geführt, eine annähernde Chancengleichheit in der Versorgung oder eine annähernd gleiche Handlungsstrategie in der Umsetzung des §35a SGB VIII in der Kinder- und Jugendhilfe zu etablieren. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in der Behindertenhilfe ist es aktueller denn je, über die Zukunft des §35a SGB VIII in der Kinder- und Jugendhilfe nachzudenken.
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205 unsere jugend, 67. Jg., S. 205 - 211 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art32d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Maria Kurz-Adam Jg. 1961; Dipl.-Psychologin, Leiterin des Stadtjugendamtes München Hilfe bei seelischer Behinderung Zur Zukunft der Eingliederungshilfen in der Kinder- und Jugendhilfe Die bundesweite Gesetzeslage hat bislang nicht dazu geführt, eine annähernde Chancengleichheit in der Versorgung oder eine annähernd gleiche Handlungsstrategie in der Umsetzung des § 35 a SGB VIII in der Kinder- und Jugendhilfe zu etablieren. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in der Behindertenhilfe ist es aktueller denn je, über die Zukunft des § 35 a SGB VIII in der Kinder- und Jugendhilfe nachzudenken. Kinder und Jugendliche, die von seelischer Behinderung bedroht sind oder die davon betroffen sind, gehören seit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes zur Zielgruppe der Kinder- und Jugendhilfe. Die Begründungen für einen eigenen Leistungstatbestand sind vielfach sowohl aus den Reihen der Kinder- und Jugendpsychiatrie als auch aus den Reihen der Kinder- und Jugendhilfe vorgetragen worden: der lebensweltliche Bezug der Kinder- und Jugendhilfe, ihr Normalitätsverständnis und ihr Ziel der sozialen Integration sind unverzichtbar, wenn eine über die kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung hinausgehende - wie es im Gesetz heißt - soziale Teilhabe - ermöglicht werden soll. Das allgemeine Recht von Kindern und Jugendlichen - mit und ohne seelische Behinderung - auf Förderung, Hilfe und Integration hat Vorrang vor der rein auf die Behinderung bezogenen medizinischtherapeutischen Sichtweise des Rehabilitationsgedankens. Diese Sichtweise der an der Lebenslage Kindheit und Jugend ausgerichteten Integration ist in den letzten Jahren erweitert worden vom Gedanken der Inklusion - die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention, die Debatte zur Großen Lösung, also der Zusammenführung der Eingliederungshilfen unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe, die Erklärungen im Koalitionsvertrag der Bundesregierung zur Inklusion, nicht zuletzt die aktuellen Debatten zum Bundesteilhabegesetz haben auch die Frage nach der Zukunft eines eigenständigen Paragrafen zur seelischen Behinderung im SGB VIII wieder verstärkt in die Fachdiskussion gerückt. Mit Blick auf die Entwicklung der Bedarfslagen und die Praxis der Handlungsstrategien der Jugendämter gilt es heute zu fragen, welche fachliche Position der Kinder- und Jugendhilfe in der Umsetzung des § 35 a gewonnen hat und welche sie in ihrem Selbstverständnis einnehmen muss, um Kinder mit seelischer Behinderung 206 uj 5 | 2015 Hilfe bei seelischer Behinderung zukunftsfest unterstützen zu können. Die Zukunft der Eingliederungshilfen in der Kinder- und Jugendhilfe hängt davon ab, mit welchem Selbstbewusstsein und eigenständiger Kraft die Kinder- und Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung eine chancengerechte lebensweltbezogene Unterstützungsleistung entwickeln kann. Seelische Behinderung in der Kinder- und Jugendhilfe - eine kurze Bestandsaufnahme der Praxis des § 35 a SGB VIII Zuständigkeitsfragen Nicht allein im Blick auf die Gesetzeskommentare zum SGB VIII, sondern mehr noch im Blick auf die alltägliche Praxis in den Jugendämtern scheint das Grundverständnis einer an der Normalität und Lebenswelt ausgerichteten Jugendhilfe in der Praxis des § 35 a zuweilen brüchig. Umstritten ist seit Beginn der Einführung des § 35 a die Trennschärfe zwischen Eingliederungshilfe und Erziehungshilfe. Umstritten ist auch der im Gesetz eingeführte fachliche Stellenwert klinischer Diagnostik im Verhältnis zur sozialpsychologischen Diagnostik - von einer steigenden Gefahr der Psychiatrisierung der Kinder- und Jugendhilfe wird gerade aus der sozialpädagogischen Profession gewarnt; der „geheime Vorrang“ des klinischen Blicks in der Jugendhilfe wird nicht nur befürchtet, er ist auch vielfach Praxis in der Bedarfsfeststellung der geeigneten Hilfe. Zuständigkeitsdebatten sowohl fachlicher als auch rechtlicher Natur füllen Akten. Die Reform des SGB VIII durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) im Jahr 2005 hat hier etwas Ruhe einkehren lassen: dennoch bleiben in der Alltagswahrnehmung der Kostenträger die Abgrenzungsfragen zwischen seelischer und geistiger Behinderung, die Abgrenzungsfragen bei komplexen Störungen oder Multiproblemlagen bestehen. Der klinische Blick der ICD-Diagnose hat in der Praxis allein aus strukturellen Gründen enormes Gewicht bekommen, da er als Eingangsvoraussetzung notwendig ist, um Zuständigkeiten der Kostenträger zu klären. Die Abgrenzungsfragen zwischen klinischer und sozialpädagogischer Kompetenz scheinen sich zugunsten klinischer Kompetenzen auch in der weiteren Behandlung der Kinder und Jugendlichen verschoben zu haben. In der Vollzugspraxis der Leistungsgewährung scheinen häufig die Fragen des Zeitpunktes der Kostenzuständigkeiten das Handeln der Jugendämter zu bestimmen. Der sozialpädagogische Blick scheint sich im Kontext des § 35 a SGB VIII vielfach nicht durchgesetzt zu haben. Das Profil der Eingliederungshilfen als einer eigenständigen Jugendhilfeleistung ist unscharf. Transparenz und mehr Wissen über die Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe waren und sind notwendig, um diese Alltagswahrnehmung zu differenzieren und ein gesamtes Bild der Praxis des § 35 a SGB VIII zu gewinnen. Seit der Reform des SGB VIII durch das KICK bestehen durch die Aufnahme in die Bundesstatistik zumindest quantitative Erkenntnisse über das Fallaufkommen und - in Ansätzen damit auch - qualitativ erkennbare Strategien und Handlungsmuster der Jugendämter mit dem Leistungstatbestand der Eingliederungshilfen. Inanspruchnahme und Hilfestruktur Die Aufnahme des § 35 a SGB VIII in die Bundesstatistik erfolgte erstmals 2007, belastbare Zahlen veröffentlicht seit 2009 die Dortmunder Arbeitsstelle für Jugendhilfestatistik, und auch der Interkommunale Vergleichsring der Großstadtjugendämter bildet regelmäßig den Leistungstatbestand des § 35 a SGB VIII und seine Dynamik in den großen Städten ab. Ein Blick auf andere Erkenntnisquellen lässt mehr Aufschlüsse über das Fallgeschehen zu. Im Jahr 2008 wurde etwa die Studie der Gmünder Er- 207 uj 5 | 2015 Hilfe bei seelischer Behinderung satzkasse GEK zur Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen veröffentlicht und 2013 fortgeschrieben. Sie ermöglicht eine fundierte Datensammlung und Analyse zur Diagnose und Inanspruchnahme, Leistungsgewährung und Verordnungspraxis medikamentöser Therapie bei Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und stellt eine wesentliche Erkenntnisquelle zur Befundlage des § 35 a SGB VIII dar (GEK Studie 2008; Barmer GEK Arztreport 2013). Die Befunde der Kinder- und Jugendhilfe-Bundesstatistik stimmen mit vielen Daten der GEK Studien überein. Zum einen weisen die Diagnosen der seelischen Behinderung eine hoch regionale Ungleichverteilung auf, die Bundesstatistik zeigt, dass hier die regionalen Unterschiede des Fallaufkommens der § 35 a Hilfen deutlich höher sind als in den Hilfen zur Erziehung. Auch der Geschlechteffekt ist markant: die § 35 a-Hilfen sind Hilfen, die vor allem Jungen im Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule zugute kommen, eine Zahl, die eng korreliert mit der Geschlechterverteilung von ADHS (vgl. GEK Studie 2008; Barmer GEK Arztreport 2013). § 35 a-Hilfen sind in der Praxis keine Kernleistung der Kinder- und Jugendhilfe. Die Leistungserbringung erfolgt nur zu einem kleineren Teil - zu etwa 30 Prozent - in der Kinder- und Jugendhilfe, imWesentlichen aberbeiniedergelassenen ÄrztInnen, PsychologInnen und TherapeutInnen. Dieser Befund ist umso bemerkenswerter im Blick auf den Begründungszusammenhang der Aufnahme des § 35 a ins Kinder- und Jugendhilfegesetz: Das eigenständige Profil einer Jugendhilfemaßnahme scheint in der bundesweiten Praxis noch nicht herausgearbeitet worden zu sein. Regelhaft berichtet wird auch der „Mittelschichtsbias“ der Hilfen: Hilfen bei seelischer Behinderung würden insbesondere auf Jungen mit erheblichen Schulproblemen aus „intakten“ Familien zielen und würden erhebliche Überschneidungen mit den KlientInnen der Erziehungsberatungsstellen aufweisen (Pothmann 2009, 8). Der § 35 a SGB VIII ist jedoch - wie häufig von den Kostenträgern befürchtet - kein „Selbstbeschaffungsparagraf“. Die Inanspruchnahme von Hilfen stellt das Ende eines oft langen Leidensweges von Eltern und Kindern dar. Die Studie der Gmünder Ersatzkasse zu ADHS bei Kindern und Jugendlichen arbeitet im Rahmen einer Elternbefragung eindrucksvoll heraus, mit welchen strukturellen Problemen und persönlichen Ängsten und Belastungen Eltern und Kinder zu kämpfen haben, bis es zu einer Diagnose und entsprechenden Therapie der Störung ihres Kindes kommt (GEK Studie 2008). Der Weg zur Hilfe fällt nicht leicht. Die Angst der Eltern vor einer Ausgrenzung ihres Kindes in der Schule, vor einem damit verbundenen sozialen Scheitern ihres Kindes und die Sorge um eine gute Zukunft ihrer Kinder als Teilhabende der Bildungs- und Leistungsgesellschaft sind wesentlicher Motor für eine Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen. Anstieg des Fallaufkommens und regionale Unterschiede Im Blick auf die Zukunft der Eingliederungshilfen bewegt ein weiterer Befund aus der Statistik die Jugendämter. Seit Beginn der Erfassung der §35a-Daten ist ein dramatischer Anstieg der Hilfen bei seelischer Behinderung zu verzeichnen. So berichtete die Dortmunder Arbeitsstelle 2012 von einem bundesweiten Anstieg im Fallaufkommen um 40 Prozent, der den Anstieg der Hilfen zur Erziehung im gleichen Zeitraum deutlich übersteigt. Der Anstieg im ambulanten Bereich ist dabei mit 45 Prozent höher als im stationären Bereich mit 24 Prozent - dies verdankt sich insbesondere auch dem Anstieg der ambulanten Hilfen in den Schulen, den IntegrationshelferInnen und Schulbegleitungen, die nach Berichten aller Jugendämter in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen haben (Pothmann 2012). Die § 35 a-Hilfen ex- 208 uj 5 | 2015 Hilfe bei seelischer Behinderung plodieren förmlich, aber sie tun dies nicht überall: so gibt es etwa in Bayern oder in Brandenburg hohe Konzentrationen von § 35 a-Leistungen, in anderen Bundesländern wie etwa Hamburg oder Schleswig-Holstein ist die Quote nur halb so hoch. Ähnliche Befunde zeigt der Interkommunale Vergleichsring der Großstadtjugendämter. Erklärbar ist dieser regionale Unterschied nicht durch die Prävalenzquoten der seelischen Behinderung - es spricht nichts dafür, dass in Hessen mehr Kinder mit seelischer Behinderung leben als in Nordrhein-Westfalen; ebenso übersteigen mancherorts die Anteile der Kinder und Jugendlichen, die eine Hilfe nach § 35 a SGB VIII erhalten, nahezu die in der gleichaltrigen Bevölkerung gemessenen Prävalenzquoten der psychischen Störungen von Kindern und Jugendlichen. Die Schlussfolgerung legt nahe, dass die § 35 a-Hilfen erheblich mit den lokalen Besonderheiten der Definitionspozesse und der Handlungsstrategien vor Ort korrelieren. Die Strategien und Handlungsweisen der jeweiligen Jugendämter, die diagnostische Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie und das lokale Therapieangebot bestimmen wesentlich das Geschehen des § 35 a (KomDat 3/ 2012,15). Die These von einer zunehmenden Psychiatrisierung oder Therapeutisierung der Kinder- und Jugendhilfe durch den § 35 a SGB VIII ist daher differenziert zu betrachten: es gibt einen teils massiven Anstieg der Fälle in den Jugendämtern, der aber offensichtlich im Bundesgebiet ungleich verteilt ist und ungleich versorgt wird. Diese Befunde eines Anstiegs mit zugleich höchst unterschiedlicher regionaler Diagnose- und Versorgungspraxis korrelieren - wenig überraschend - mit dem epidemiologischen Befund der ungleichen Verteilung der ADHS- Diagnose im Kindes- und Jugendalter. Auch hier ist die Abhängigkeit von regionalen Diagnosekulturen hoch, auch hier sind hoch unterschiedliche Versorgungslagen zu beobachten (GEK Studie 2008, 121f ). Festzustellen bleibt, dass eine derart ungleiche Verteilung von Fallaufkommen in der Kinder- und Jugendhilfe darauf hinweist, dass die bundesweite Gesetzeslage nicht dazu geführt hat, eine annähernde Chancengleichheit in der Versorgung oder eine annähernd gleiche Handlungsstrategie in der Umsetzung des § 35 a SGB VIII in der Kinder- und Jugendhilfe zu etablieren (Pothmann 2012, 15). Festzustellen ist aber, dass das steigende Fallaufkommen auch Ausdruck eines leistungsbezogenen Bildungsdiskurses ist. Je mehr Gesellschaft Bildung als Chance für Leistung definiert, je mehr muss sie dafür tun, dass diese Chance auch den seelisch behinderten Kindern zukommt. Delegation, Integration oder Spezialisierung - Handlungsstrategien in der Versorgung von Kindern mit seelischer Behinderung in der Kinder- und Jugendhilfe Diese unterschiedlichen Versorgungslagen in der Bundesrepublik lassen einen systematischen Befund über die Bedarfsfeststellung und eine systematische Analyse der Versorgungsstruktur für Kinder mit seelischer Behinderung in der Kinder- und Jugendhilfe aktuell nicht zu. Allein der fachliche Diskurs darüber, was eine seelische Behinderung mit nachhaltiger Beeinträchtigung von Teilhabe ist, erschwert Vergleichbarkeit - das Spektrum des Schweregrads zwischen der einfachen Lese- und Rechtschreibschwäche, die im Kontext der Schule behandelbar ist, bis hin zur Borderlinestörung oder sexuellen Devianz ist gewaltig und diagnostisch zugleich hoch differenziert. Ebenso unübersichtlich ist das Feld der Handlungsstrategien der Jugendämter bundesweit. Im Kern kristallisieren sich im Blick auf die enormen regionalen Unterschiede zumindest drei wesentliche Handlungsstrategien der Jugendämter heraus: während die erste Strategie die Leistungen wesentlich an das Gesundheits- und Therapiesystem delegiert, setzt die zweite auf Vorrang der Schule und auf Integration in den Regelangeboten sowohl der Schule als auch der Kinder- 209 uj 5 | 2015 Hilfe bei seelischer Behinderung und Jugendhilfe. Eine dritte erkennbare Strategie entwickelt ein hochgradig spezialisiertes und hoch differenziertes Angebot in der Kinder- und Jugendhilfe selbst, das für die Zielgruppe des § 35 a SGVB VIII explizit ausgerichtet ist. So weist München etwa mit den Heilpädagogischen Tagesstätten in der Kinder- und Jugendhilfe ein traditionsreiches gut ausgebautes und hochdifferenziertes Angebot für Kinder mit seelischer Behinderung auf, das eng mit den Leistungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie vernetzt ist und von den Eltern und den Schulen hoch geschätzt wird. Andernorts wird eine deutlich auf Integration im Regelsystem ausgerichtete Strategie in der Kinder- und Jugendhilfe verfolgt: In vielen Kommunen gibt es nur wenige oder keine Spezialeinrichtungen für Kinder mit seelischer Behinderung, sondern eine intensive Zusammenarbeit zwischen Schule und den niedrigschwelligen Angeboten der Jugendhilfe als Präventionsstrategie. Exemplarisch dafür steht etwa das Jugendamt Celle, das mit einem Angebot der Schulsozialarbeit gruppenbezogene Hilfe für Kinder mit seelischer Behinderung im Klassenverbund bereitstellt (Schäfer 2013). Diese beiden Strategien haben je nach Sichtweise Vor- und Nachteile. Hochspezialisierte Angebote haben ein hohes Maß an individueller Förderung, sie kosten aber auch viel - so gibt München jährlich über 20 Mio. Euro allein für die Einzelfallhilfen in den Heilpädagogischen Tagesstätten aus. Zudem unterliegen eigene Institutionen für Eingliederungshilfen - unabhängig vom Kostenträger - immer der Gefahr, einen eigenen Hilfekosmos zu erzeugen, der Kinder zwar schützt, aber auch ausgrenzt. Auf der anderen Seite sind integrative Angebote im Regelsystem hinsichtlich ihrer spezifischen Leistungen und Wirkungen im Einzelfall durchaus gerade aus Sicht der Eltern umstritten, weil sie ein geringeres Maß an individueller Förderung und weniger Schutz aufweisen. Sie grenzen nicht aus, sind niedrigschwellig angelegt, unterliegen aber dem Sparverdacht im Einzelfall - und dies bei einem Rechtsanspruch auf bestmögliche Hilfe, den das Kind hat. So bewegen sich die Versorgungsstrategien der Kinder und Jugendhilfe für Kinder mit seelischer Behinderung in einem widersprüchlichen Feld zwischen Delegation, Integration und Spezialisierung. Doch gibt es auch Einigkeit: Diese Einigkeit in den Strategien der Jugendämter in der Vorgehensweise bei Kindern mit seelischer Behinderung besteht immer dann, wenn es um hoch belastete Kinder oder „die Schwierigsten“ geht. In den vergangenen Jahren ist bundesweit ein enormer Ausbau hoch spezialisierter Plätze in der Kinder- und Jugendhilfe mit psychiatrischen Versorgungsleistungen und ausgeprägtem therapeutischem Profil entstanden - offene und geschlossene Plätze für Kinder und Jugendliche mit chronischer Selbst- und Fremdgefährdung, Borderline-Gruppen, Trauma-Gruppen, Spezialeinrichtungen für Mädchen und Jungen mit sexueller Devianz - die Vielfalt und Ausdifferenzierung der Angebote für diese Formen und Ausprägungsgrade der seelischen Behinderung prägen mittlerweile deutlich das Profil der stationären Jugendhilfe. Dieser Ausbau zeugt einerseits von einem hohen Verständnis und Engagement für diese Gruppe extrem belasteter Kinder und Jugendlicher in den Jugendämtern. Zugleich ist damit die Frage verbunden, ob nicht gerade diese Kinder eines verstärkten helfenden „Jugendhilfeblicks“ bedürfen - so notwendig der diagnostische und therapeutische Zugang ist, so notwendig ist es auch, pädagogisch und sozialpädagogisch mit den Kindern und Jugendlichen im Sozialraum, vor Ort, hilfreiche Perspektiven zu entwickeln. Zusammengenommen sind all diese Befunde nicht allein aus Sicht der betroffenen Kostenträger, sondern mehr noch aus Sicht der Kinder und Jugendlichen Grund genug, die bestehende Praxis für Weiterentwicklungen zu öffnen. Die Stärkung eines ganzheitlichen Ansatzes, der auch den eigenen fachlichen Blick der Kinder- und Jugendhilfe sichtbar hervorhebt, die Stärkung eines bundesweit erkennbaren Leistungsprofils des § 35 a SGB VIII in der Kinder- 210 uj 5 | 2015 Hilfe bei seelischer Behinderung und Jugendhilfe und nicht zuletzt die Weiterentwicklung eines chancengerechten Angebotes sind nur einige Stichworte, um diese Herausforderung aufzugreifen. Es ist - gerade im Blick auf die aktuellen Entwicklungen in der Behindertenhilfe - aktueller denn je, über die Zukunft des § 35 a SGB VIII in der Kinder- und Jugendhilfe nachzudenken, um den Herausforderungen einer steigenden Inanspruchnahme und zugleich den Herausforderungen einer lebenslagenorientierten Hilfe gerecht zu werden. Inklusion und Vielfalt - zur Zukunft der Hilfe für Kinder mit seelischer Behinderung in der Kinder- und Jugendhilfe Bewegung in das Feld der Versorgungslage von Kindern mit seelischer Behinderung hat in der jüngsten Zeit vor allem der Diskurs zur Inklusion gebracht. Dabei geht es nicht um einen sozialtechnologisch verstandenen Inklusionsbegriff im Sinne erweiterter Zugangsvoraussetzungen in das ansonsten unveränderte Leistungssystem. Inklusion erledigt sich nicht damit, die Schwelle der Bedarfsfeststellungspraxis zu senken. Vielmehr wird Inklusion verstanden als ein aktives Sich-Verändern von Angebotsstrukturen und Qualitäten, um Stigmatisierungen entgegenzuwirken und vor allem um zu verhindern, dass sich ganze Gruppen junger Menschen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen fühlen oder ausgeschlossen werden. Unabhängig vom Geschlecht, der Herkunft, der Religionszugehörigkeit, der sexuellen Orientierung, dem ökonomischen Status, der Behinderung soll Inklusion als Leitbegriff bewirken, dass die Angebote sich prüfen und daraufhin verändern, für alle Gruppen offen zu stehen und deren Teilhabe zu ermöglichen. Inklusion ist kein Diktat. Sie muss auch von den Beteiligten gewollt sein. Wenn sie dies nicht ist, gerät Inklusion in Gefahr, dass Differenzierungen aufgehoben werden und Teilhabe um den Preis der Aufgabe von Individualität erzwungen wird. Inklusion bedeutet Vielfalt und Beteiligung. Der Weg zur Inklusion darf daher kein starres Programm sein - er muss gerade in der Kinder- und Jugendhilfe auf die Entwicklungsfähigkeit der Leistungen und Hilfen abzielen. Ideen sind gefragt, Raum für Öffnung muss gegeben sein, Beteiligung mit der Stimme der Kinder und Jugendlichen ist für gelingende Inklusion unverzichtbar (Kurz-Adam 2014). Für Kinder mit seelischer Behinderung ist dieser Inklusionsbegriff oft Utopie. Angesichts des drohenden Schulausschlusses, angesichts eines drohenden sozialen Absturzes, angesichts der Symptomatik des Auffallens, des Nicht-Mitkommens, des Störens, des inneren Rückzuges, die Kinder mit seelischer Behinderung für die Außenwelt bemerkbar machen, angesichts der oft damit verbundenen sozialen Schuldzuweisungen an Eltern oder an die Kinder selbst fällt es in den Regelinstitutionen und in der Fachwelt schwer, Inklusion für seelische Behinderung zu denken. Barrierefreiheit eines Angebotes oder einer Einrichtung für den Körper kann gedacht werden, aber für die Seele? Inklusion wird daher eher als Prävention oder Übergang von Hilfen gedacht: als Übergang am Anfang oder am Ende der notwendigen Spezialhilfe vom oder in das Regelsystem, das sich für diese Übergänge mehr öffnen müsse. Im Kern aber bleibt die Diagnose, ein Ausschluss von der Normalität; die Seele selbst wird zur Barriere. Es ist unzweifelhaft das Verdienst der modernen Kinder- und Jugendpsychiatrie, dieses Bild der seelischen Behinderung als einer Barriere vor der Normalität abgebaut zu haben und sich mit großer Empathie den Kindern und Jugendlichen mit seelischer Behinderung und ihren Ressourcen zu nähern (Freisleder/ Hordych 2014). Nimmt man den Inklusionsgedanken in all seiner Veränderungskraft auf, so wird deutlich zu machen sein, dass jede Spezialhilfe mit ihrer großen therapeutischen Zuwendung sich immer mehr mit den Ressourcen der Kinder beschäftigen muss, um sich der Vielfalt zu öffnen. Spezialhilfen dürfen nicht kränker machen, weil sie eben Spezialhilfen sind. Vielmehr muss jede 211 uj 5 | 2015 Hilfe bei seelischer Behinderung Hilfe in sich den Gedanken aufnehmen, dass es ein Leben außerhalb der Diagnose und der Therapie gibt - der Alltag und die Alltagswelt sind die eigentliche Quelle und der Beginn und Ort sozialer Teilhabe. Dieses Wissen hat die Kinder- und Jugendhilfe und darin muss sie stark und sichtbar ihre Stimme erheben. Der zukunftsgerichtete ganzheitliche Blick und die Schaffung und Wertschätzung eines guten und sicheren Alltags für Kinder sind substanzieller Bestandteil eines Profils der Eingliederungshilfe, das die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen in der Lebenslage der Kindheit und Jugend ermöglicht. Dieses Normalitätsverständnis gilt es umso mehr zu wahren, wenn die Lebenslage Kindheit zunehmend von Bildung als Leistung geprägt ist und dahinter der weite andere Alltag in der Kindheit zu schwinden droht. Inklusion kann als Veränderungsmotor wirken, um dieses Alltagsverständnis in der Lebenslage Kindheit zu fördern. Voraussetzung dafür ist, dass die fachlichen Sichtweisen nicht im Widerstreit der Zuständigkeiten, sondern in einem ganzheitlichen Sinn sich darauf verständigen, welche Hilfe ein Kind braucht und welche Hilfe Zukunft ermöglicht. Dies war und ist die Idee der Großen Lösung, der Zusammenlegung der Eingliederungshilfen unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe. Die Kinder- und Jugendhilfe ist in dieser Verständigung gefragt, ihren eigenständigen Blick und ihr Handlungsprofil herauszuarbeiten. Delegation ist zu wenig, Integration zu zaghaft, Spezialisierung zu viel, wenn sie in ihrem eigenen System verharrt. Wenn es in der Kinder- und Jugendhilfe gelingt, ein ganzheitliches und chancengerechtes Verständnis für die Umsetzung des § 35 a SGB VIII bundesweit zu entwickeln, ist der Weg für eine als Vielfalt gedachte Inklusion bereitet. Dr. Maria Kurz-Adam Leiterin des Stadtjugendamtes München Luitpoldstr. 3 80335 München jugendamt.soz@muenchen.de Literatur Freisleder, F.-J., Hordych, H. (2014): Anders als die Anderen. Piper, München GEK-Gmünder Ersatzkasse (Hrsg.) (2008): GEK-Studie ADHS bei Kindern und Jugendlichen. Asgard, St. Augustin Grobe, T. G., Bitzer, E. M. Schwartz, F. W. (2013): Barmer GEK Arztreport 2013. Asgard, Siegburg Pothmann J. (2009): Seelische Behinderung - eine Jugendhilfemaßnahme wird sichtbar. KomDat 12, 7 - 9 Pothmann, J. (2012): Seelische Behinderung - eine Frage des Standortes? KomDat 15, 13 - 15 Kurz-Adam, M. (2014): Mehr als nur mehr desselben - Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe. neue praxis 44, 134 - 139 Schäfer, G. (2013): Soziale Arbeit an Schulen - aus Sicht der Jugendhilfe. Dialog Erziehungshilfe 8, 27 - 33
